Repression gegen französische Aktivist_innen

solidarite_sans_frontieres 02.06.2008 19:28 Themen: Repression Soziale Kämpfe
In Frankreich haben in den vergangenen Monaten die Kämpfe der Menschen ohne Papiere in zahlreichen Streiks und Gefängnisrevolten Ausdruck gefunden. Die Revolten im Abschiebegefängnis von Vincennes (bei Paris) wurden im Winter von einer breiteren sozialen Bewegung mit zahlreichen Demos begleitet. Im Januar wurden dabei mehrere Aktivisten festgenommen und sitzen seither in Untersuchungshaft, weil dem französischen Staat am Bedrohungsszenario von "Anarcho-Terroristen, die den bewaffneten Kampf vorbereiten" gelegen ist. So wird versucht, die soziale Bewegung zu spalten. Zwei der Inhaftierten haben im Vorfeld einer internationalen Woche der Solidarität, die vom 9. bis 16. Juni stattfinden soll, diesen Brief geschrieben:
Brief von Ivan und Bruno
erschienen auf Indymedia Paris, 21 April 2008

Wir schreiben heute an alle Freunde, an alle, die sich nicht von den Verhältnissen unterkriegen lassen: Polizeisperren in den Straßen, Razzien gegen Menschen ohne Papiere, Abschiebungen, alltägliche Schwierigkeiten und die Fremdbestimmtheit des Lebens; der Zwang, einen immer größeren Teil unseres Lebens allen möglichen Chefs zu überlassen, denen, die über uns entscheiden und Macht ausüben. Unser Widerstand setzt dort an: es geht um die Freiheit zu leben.

Wir wurden am 19.Januar festgenommen. Wir beide befinden uns seitdem in Untersuchungshaft, der dritte von uns ist unter richterlicher Aufsicht. (Er machte sich des Umstandes schuldig, im Moment unserer Festnahme zufällig vorbeizukommen und uns zu kennen.). Wir hatten eine Rauchbombe dabei, die wir aus einer Mischung von Natronchlorat, Zucker und Mehl hergestellt hatten. Einmal angezündet, qualmt diese Mischung stark. Wir hatten vor, sie während der Demonstration einzusetzen, die an diesem Tag wieder zum Abschiebegefängnis in Vincennes führen sollte. Unser Vorhaben: für die eingesperrten Sans-Papiers sichtbar zu sein, und dies trotz der Polizei, die uns sicherlich in Entfernung des Knastes halten würde. Wir hatten auch Knallkörper und verbogene Nägel dabei, die auf der Straße ausgelegt werden können, um Autos am Wegfahren zu hindern.

Für die Polizei und die Justiz stellt das ein gefundenes Fressen dar: es muss sich um die Bauelemente einer Nagelbombe handeln. So lauten unsere Anklagen folgendermaßen:
Besitz und Transport von brandstiftenden oder explosiven Substanzen und Produkten zur Herstellung eines brandstiftenden oder explosiven Gegenstandes, um eine Zerstörung, eine Sachbeschädigung oder eine Gefährdung von Menschleben hervorzurufen
Gründung einer kriminellen Vereinigung, mit dem Ziel, eine Zerstörung durch Brandstiftung, explosive Substanzen oder andere Mittel durchzuführen, die eine Gefahr für Menschenleben darstellen
Verweigerung der polizeidienstlichen Erkennungsmaßnahmen (Fingerabdrücke, Fotos)
Verweigerung der Abgabe einer DNA-Probe

Es läuft einem kalt den Rücken runter. Soweit zu den Anklagen, wir werden uns nun an einer Analyse der Ereignisse versuchen.

Die Art, in der wir behandelt werden, kann nicht mit den Dingen erklärt werden, die wir dabei oder geplant hatten. Dem Staat geht es vielmehr darum, Widerstand zu kriminalisieren und Dissidenz zu unterdrücken. Es geht um unsere Ideen und unsere Art zu kämpfen: außerhalb der Parteien, Gewerkschaften und anderen Organisationen. Weil sich diese Wut nicht kontrollieren oder vereinnahmen lässt, versucht der Staat, sie zu isolieren und einen „Feind im Inneren“ auszumachen. Polizei und Verfassungsschutz legen Dateien mit 'Täterprofilen' an. In unserem Fall ist es das der „Anarcho-Autonomen“. Von dort zieht der Staat eine direkte Verbindungslinie zum Terrorismus und schafft so ein Bedrohungsszenario, um einen gesellschaftlichen Konsens zur Verstärkung der Kontrolle und Legitimation der Repression zu schaffen.

Deshalb sind wir heute im Gefängnis. Dies ist der Umgang, den sich der Staat bei jeglichen illegalen Handlungen und mit sogenannten 'Risikobevölkerungen' vorbehält. Es geht darum, immer mehr Menschen immer länger wegzusperren. Immer effizientere Kontrollen und Sanktionen, die Angst machen, sorgen im Interesse derer, denen die herrschende Ordnung nutzt, dafür, dass alle an ihren Plätzen bleiben, wissend, dass es nicht möglich ist, die vorgesehenen Wege zu verlassen ohne den hohen Preis zu bezahlen. Wir kämpfen mit den Menschen ohne Papiere, weil wir wissen, dass es die gleiche Polizei ist, die kontrolliert, der gleiche Chef, der ausbeutet und die gleichen Mauern, die einsperren. Wir waren auf dem Weg zur Demonstration, um mit den Gefangenen zusammen 'Freiheit' zu rufen, um zu zeigen, dass wir viele sind, die ihre monatelange Revolte im Gefängnis wahrnehmen. Eine Rauchbombe anzuzünden, so nah wie möglich an die Gitter des Gefängnis zu kommen, 'Abschiebeknäste zu Baulücken' zu rufen, mit der Überzeugung, frei leben zu wollen. Der gemeinsame Kampf schafft einen Raum um Solidaritäten zu knüpfen und unserer Revolte Ausdruck zu verleihen.

Wir verstehen uns nicht als 'Opfer der Repression'. Es gibt keine gerechte Repression, keinen gerechten Knast. Es gibt die Repression und ihre Funktion, ihre Rolle der Aufrechterhaltung der Ordnung: die Macht der Besitzenden über die Besitzlosen.

Wenn alle in der Reihe laufen, ist es einfach, die zu bestrafen, die ausscheren.

Wir hoffen, dass wir viele sind, unsere Leben in die Hand zu nehmen und diese Wut im Herzen zu tragen, um die Solidarität aufzubauen, aus der der Widerstand ist.

Bruno und Ivan aus den Gefängnissen von Fresnes und Villepinte, April 2008

Originaltext auf französisch:  http://paris.indymedia.org/article.php3?id_article=98400
Public Domain Dedication Dieses Werk ist gemeinfrei im Sinne der Public Domain
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

KEINE Rauchbombe

Roland Ionas Bialke 02.06.2008 - 23:04
Ähnliches Rauchpulver kann in der EU frei gekauft werden und wird auf Parties und, insofern es gestattet ist, bei Fussballspielen gezündet. Selbst wenn die Nägel bei der Zündung daneben liegen würden, dann würden dadurch keine Menschen gefährdet. Um bei Natriumchlorat eine explosive Wirkung zu erzielen müsste 1. der Anteil des Chlorates deutlich mehr als 50 Prozent betragen und 2. eine starke Verdämmung vorhanden sein.

 http://de.wikipedia.org/wiki/Rauchpulver
 http://www.pyro-artikel.de/rauchpulver.html

Ich kann mir denken (Spekulation), dass die Polizei die Untersuchungsergebnisse beim Rauchpulver fälscht, also dem Rauchpulver zum Beispiel eine Schlagempfindlichkeit von über 40 Nm andichtet. Daher ist es für die Betroffenen wichtig ein Gegengutachten über das Rauchpulver und, falls vorhanden, der Umhüllung anzufertigen. Das kostet allerdings sehr viel Geld oder ist unmöglich, da die Polizei nach ihrer Untersuchung das Rauchpulver vernichtet.

Zum Begriff "Bombe":

Eine "Bombe" ist ein Gegenstand der darauf ausgerichtet ist Lebewesen oder Gegenstände zu schaden. Darum ist es sinnvoller das Wort "Rauchpulver" oder "Smoke" zu benutzen. Das ist so ähnlich wie bei dem Wort "Brandanschlag" im mg-Verfahren. Mit Worten wurde aus ein Feuer das keine Menschen gefährdete ein Anschlag, also ein Angriff auf Laib und Leben.

Soliwoche

solidarite_sans_frontieres 03.06.2008 - 12:23
Woche der Solidarität ohne Grenzen 9. bis 16. Juni 2008 (und darüber hinaus)

Solidarität mit den französischen Aktivist_innen im Gefängnis!
Freiheit für alle Gefangenen, mit oder ohne Papiere!

Viele Soliaktionen haben schon in verschiedenen Städten stattgefunden: Bei Kundgebungen und Demonstrationen in Dijon, Grenoble, Toulouse oder Paris wird massiv Rauchpulver benutzt. Transparente werden entrollt und Sabotageakte an Abschiebeeinrichtungen durchgeführt. Slogans tauchen auf Mauern in vielen Städten auf und Straßen werden blokiert. Eine Radiosendung auf France Culture wurde gestört und eine Solidaritätserklärung verlesen.

Vom 9. bis 12. Juni wird zu einer Aktionswoche aufgerufen, damit die Aktionen sich verstärken und aufeinander beziehen können.

Aber die Aktionen sollen über diese Woche hinausreichen: Vor allem dort, wo die Übersetzung des Aufrufs erst spät ankommt, sei darauf hingewiesen, dass es danach weitergehen soll. Wann immer ihr die Möglichkeit seht, Aktionen in euren lokalen Kontext und in eure Kämpfe einzuschreiben, ist der richtige Zeitpunkt.

Kontakt:
 solidarite_sans_frontieres@riseup.net (französisch)
 rauchentwicklung@zeromail.org (deutsch)

Grenzenlose Soliwoche

Alegrion 04.06.2008 - 21:30
Grenzenlose Solidaritätswoche
(vollständige Übersetzung des französischen Aufrufs zu internationaler Solidarität)

Vom 9. zum 16. Juni 2008

Ivan, Bruno und Damien wurden am 19. Januar 2008 von der Polizei kontrolliert. Sie befanden sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg zu einer Demonstration, die in die Nähe Abschiebegefängnisses von Vincennes (in der Nähe von Paris) führen sollte, und führten selbst gemachte Nebelkerzen mit, sowie verbogene Nägel (gegen Autoreifen). Bei ihrer Festnahme lehnten sie die Entnahme von Fingerabdrücken sowie die Erfassung ihrer DNA ab. Zwei von ihnen wurden inhaftiert, der andere steht unter Rechtsaufsicht.

Zwei andere Personen wurden am 23. Januar bei einer Straßenkontrolle in der Nähe von Vierzon durch den Zoll festgenommen. In ihrem Kofferraum fand man Chlorat, Pläne eines Jugendgefängnisses und ein Sabotagehandbuch. Beide wurden inhaftiert, wobei die spezielle Rechtsprechung für Terrorismus geltend gemacht wurde. Die Polizisten beschuldigen beide Personen des Vorsatzes einer Attacke auf das Jugendgefängnis, sowie eine der beiden der versuchten Sabotage auf einen Polizeiwagen.

Alle diese fünf Personen stehen heute unter gerichtlicher Untersuchung wegen „Mitführung und Besitz von hoch entzündlichen oder explosiven Substanzen“ und „Zusammenschluss von Übeltätern mit dem Ziel der Durchführung eines terroristischen Aktes“. Vier von ihnen sind bereits seit 4 Monaten inhaftiert. Der Inhaftierungsbefehl gegen zwei von ihnen wurde kürzlich von den Antiterror-Richtern für 4 weitere Monate verlängert, und eine dritte Person hat bereits einen Haftbefehl für 12 Monate.

Die kürzlich stattgefundenen Meutereien in den Abschiebegefängnissen und die Streiks mit Besetzung der Arbeitsstellen durch hunderte von “Sans-Papiers“ hat uns alle daran erinnert, dass Ausbeutung und Einsperrung Hand in Hand gehen. Es reicht, sich die Entwicklung der Gefängnisarbeit anzuschauen oder die zusehends gefängnisartigen Arbeitsbedingungen in der Arbeitswelt der Lohnabhängigen, sowie die mit der Misere wachsenden Bedrohung der Inhaftierung, die dazu verleitet, immer schlimmere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren (was vor allen Dingen die “Sans-Papiers“ betrifft, die Minderjährigen, jene die außerhalb der Lohnabhängigkeit leben wollen und alle “Feinde im Inneren“).

Solidarität mit den Gefangenen ist nun notwendig, sollte aber über materielle Zuwendungen hinausgehen: Sie muss auf die existierenden sozialen Kämpfe aufbauen, sowie auf sämtliche Aktionen, die Widerstand gegen den reibungslosen Verlauf der Geschichte im Sinne von Staat und Kapital ausdrücken. Diese Solidarität soll ebenfalls eine Ausweitung und eine Intensivierung der Revolte bedingen und fördern.

Ob Nebelkerzen entzündet werden, ob Spruchbänder gemalt werden, ob Institutionen, die mit den Abschiebungen zu tun haben, attackiert werden, Sprüche gesprüht werden, Straßen blockiert werden oder Radiosendungen gestört werden, wie dies bereits vielerorts geschehen, die Bandbreite der möglichen Solidaritätsbekundungen ist sehr groß. In der Solidaritätswoche vom 9. zum 16. Juni sollen vielerlei solcher Aktionen konzentriert stattfinden, damit der Widerhall der Revolte über nationale Grenzen hinweg hörbar wird…

Solidarität mit den zwei von Vierzon, sowie mit Bruno, Ivan, Damien und den anderen!

Freiheit für alle Gefangenen, mit oder ohne Papiere!
Freiheit für alle!


Für alle praktischen Vorschläge im Rahmen der grenzenlosen Solidaritätswoche bitte anschreiben:  solidarite_sans_frontieres@riseup.net