MUC: 110 Tagesätze für Antirassisten?

Caravane Fighter 08.04.2008 15:22 Themen: Antirassismus Repression
Am kommenden Donnerstag hat unser Genosse R. einen Prozess, er erhielt einen Strafbefehl über 110 Tagessätze weil er bei einer antirassistischen Kundgebung den Auflagenbescheid angeblich weder dabei hatte noch vorlas. Was war damals genau los? Ein kleiner Rückblick auf eine Aktion gegen eine Botschaftsvorführung.

Was ist eine Botschaftsvorführung?

Vom 7. bis 9. August 2007 fand in München eine Botschaftsvorführung statt. Bei diesen Terminen werden abgelehnte AsylbewerberInnen gezwungen, bei einer Delegation der Botschaft ihres (oft auch nur vermuteten) Heimatlandes vorzusprechen, um als Bürger desselben identifiziert zu werden. Im Falle einer Identifikation wird dann ein so genanntes Travel Certificate (TC) ausgestellt, mit dem eine Abschiebung erst möglich wird. Botschaftsvorführungen und Papierbeschaffung sind also zentrale Vorgehensweisen der Abschiebebehörden.
Solche Aktionen der Abschiebebehörden waren in den letzten Jahren immer wieder Ziel antirassistischer Interventionen, zum Teil mit grossem Erfolg: z.B. Im Spätherbst 2005, als die Nigerianische Botschaft in München gastierte um TCs auszustellen. In der nigerianischen Community informierten sich die Betroffenen gegenseitig über den Inhalt der Massnahme - die Behördenschriebe, mit denen Flüchtlinge vorgeladen werden enthalten oft Falschinformationen und Drohungen mit illegalen Massnahmen - und über die wirksamste Gegenwehr: Boykott, einfach nicht hingehen. Antirassistische AktivistInnen waren vor Ort, und informierten diejenigen, die nichtin entsprechende Communitynetzwerke eingebunden waren.
So entschied sich damals die Mehrzahl der vorgeladenen Flüchtlinge dafür, die Massnahme zu boykottieren, sie konnten so ihre Abschiebung um Jahre hinauszögern.Die Behörden versuchten, diese Aktion zu kriminalisieren - der Aufruf zum Boykott sei ein Aufruf zu Straftaten gewesen, die angeklagten AktivistInnen setzten sich aber vor Gericht durch. Schon damals zeigte uns die Repression, dass wir einen empfindlichen Punkt in der deutschen Abschiebemaschinerie ausgemacht haben.
2007 und 2008 fanden wieder Bundesweit Abschiebeanhörungen mit der nigerianischen Botschaft statt, im August '07 in München, dieses Jahr waren sie schon in Halberstadt, Ludwigsburg und Dortmund. Betroffen waren nicht "nur" Flüchtlinge aus Nigeria, auch Menschen aus Liberia, Togo oder Sudan wurden vorgeladen, und erhielten zum Teil TCs für Nigeria. Die Nigerianische Botschaft erhält 250,- rpo TC, und nochmal soviel für die erfolgte Abschiebung - keine Wunder dass die Botschaftsangehörigen da so kooperativ sind. Mittlerweile hat sich die nigerianische Botschaft mittlerweile zur zentralen Abschiebeagentur für AfrikanerInnen entwickelt, wie es ein Artikel des Online Magazins Nigerian Village Square auf den Punkt bringt.
Aber nicht nur die nigerianische Botschaft arbeitet fleissig den deutschen Behörden zu, auch die irakische unterstützt Abschiebungen in das Kriegsgebiet Irak. Auch hier griffen Müncher Repressionsbehörden zum Vorwurf "Aufruf zu Straftaten", um einen beteiligten Aktivisten zu kriminalisieren - wieder erfolglos, der Genosse wurde kürzlich freigesprochen.Eine Art Gebrauchsanleitung für Aktionen gegen Botschaftsvorführungen findet ihr in dem antirassistischen Blog Bikepunk 089

Die Kundgebung in der Tischlerstrasse

Ein solcher Termin fand also im August 2007 in der Flüchtlingsunterkunft Tischlerstrasse in München statt, und natürlich sollte die rassistische Massnahme nicht ohne Protest und Widerstand ablaufen!
Die Karavane München mobilisierte zu Protestkundgebungen, um vor Ort Flüchtlinge über die Massnahme zu informieren und gegen die Kollaboration der nigerianischen Botschaft mit den deutschen Behörden zu protestieren.An zwei Tagen fanden sich eine Handvoll AktivistInnen unterschiedlichster Hintergründe ein, um gegen die rassistische Massnahme zu protestieren, und es gelang immer wieder, Kontakt zu betroffenen Flüchtlingen aufzunehmen. Die Polizei versuchte einiges, um das zu Verhindern - so durfte die Kundgebung nur auf der gegenüberliegenden Strassenseite stattfinden, es war per Auflagenbescheid untersagt über die Botschaftsvorführung zu reden, und die TeilnehmerInnen der Kundgebung wurden zum Teil von PolizistInnen bedrängt und belästigt. Es gelang ihnen aber nur bedingt, einen Austausch zwischen den vorgeladenen Flüchtlingen und den KundgebungsteilnehmerInnen zu verhindern.
Vor allem am zweiten Tag, als deutlich weniger AktivistInnen vor Ort waren, nahmen sich die PolizistInnen so einiges heraus. An diesem Tag war auch USK, und nicht normale Bereitschaftspolizei, präsent. Ein älterer Teilnehmer berichtet:"Am zweiten Tag war dies gegenüber einer Mehrzahl der Teilnehmer unserer Demonstration, auch mir gegenüber, nicht der Fall. In der Regel befand sich für jeden von uns der nächste Polizist ohnehin nicht weiter als 2 Meter entfernt. Vor allem aber dann nicht, wenn wir uns im Gespräch äußerten, untereinander oder gegenüber Interessenten an der Demonstration. Polizisten liessen es dann häufig zu körperlichem Kontakt kommen.Ich nehme am politischen Leben in unserer Stadt lebhaft teil. Ich kann mich nicht entsinnen in meiner Münchner Zeit von 1958 bis heute jemals Ähnliches erlebt zu haben."
An diesem Tag soll R. auch seine ach so schweren Versäumnisse als Versammlungsleiter begangen haben. Die Polizei wirft ihm vor, den Auflagenbescheid nicht dabeigehabt zu haben, und er soll es versäumt haben die Auflagen vorzulesen. Diese Lappalien sind für die Staatsanwaltschaft Anlass genug, R. einen Strafbefehl von 110 TAgessätzen auszustellen, mit anderen Worten: Eine Vorstrafe dafür, ein paar Auflagen nicht vorgelesen zu haben. R. hat natürlich dagegen Widerspruch eingelegt, sein Prozess findet am Donnerstag, den 10.04 im Amtsgericht München statt.
Zwei weitere AktivistInnen, die am gleichen Tag Anzeigen wegen angeblichen Aufruf zu Straftaten erhielten, haben seither noch nichts von den Repressionsbehörden gehört. Es gibt ein Urteil, das besagt dass die Nichtmitwirkung eine Flüchtlings bei einem solchen Termin keine Straftat ist, damit ist ein Aufruf zum Boykott auch keine Straftat. Wie sich schon am oben erwähnten Freispruch eines Genossen gezeigt hat, wollen es die Münchner Behörden vermeiden, einen lokalen Präzedenzfall zu schaffen nach dem ein Boykottaufruf keine Straftat mehr ist - würden sie so doch dass wichtigste juristische ElementInstrument verlieren um gegen AntirassistInnen vorzugehen. Dass R. für solche Lappalien einen Strafbefehl über 110 Tagessätze erhält, ist also auch eine Ausweichstragie der Staatsanwaltschaft - sorgen wir durch solidarische Präsenz und öffentlichen Druck dafür, dass die Staatsanwaltschaft mit ihren abstrusen Konstruktionen nicht durchkommt! Verteidigen wir dass bisschen Versammlungsrecht, dass uns noch bleibt!

Der Prozess findet am Donnerstag, den 10.04.08 im Amtsgericht München, Nymphenburgerstr. 16, statt (U1 Stiglmeierplatz).
Die Uhrzeit ist 9:00, die Saalnummer A224/II - kommt zahlreich!

Hier nochmal alle links ausgeschrieben, falls mensch den Artikel ausdrucken will:
Anhörung in Ludwigsburg:
http://carava.net/wp-content/uploads/2008/04/report-nigeria-hearing-ludwigsburg.pdf
"Nigerian Embassy as a deportation-agency", Nigerian Village Square:
http://www.nigeriavillagesquare.com/articles/guest-articles/the-nigerian-embassy-as-a-deportation-a.html
Anklage wegen Irak-Termin:
http://irak.antira.info/2008/03/25/karawane-aktivist-wegen-aktion-gegen-abschiebungen-in-den-irak-angeklagt/
Freispruch in dieser Sache:
http://carava.net/2008/03/28/karawane-aktivist-wegen-aktion-gegen-irak-abschiebeanhoerung-freigesprochen/
Blogbeitrag über Abschiebeanhörungen:
http://bkpnk089.blogsport.de/2007/05/03/botschaftsvorfuehrungen/
Homepage der Karawane München:
http://www.carava.net/
Aufruf gegen Abschiebekollaboration:
http://carava.net/2007/08/05/call-to-action-against-the-collaboration-of-the-nigerian-embassy-with-the-german-authorities/
Bericht von der Kundgebung:
http://carava.net/2007/08/11/sie-alle-haben-eine-reife-als-staatsburger-gezeigt-die-mir-hoffnung-macht/
Gerichtsurteil über die Strafbarkeit bei Nichtmitwirkung:
http://www.fluechtlingsrat-nrw.de/2541/
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Ergänzungen

Gerichtstermin

Änderung 08.04.2008 - 18:10
Der Gerichtstermin für R. wurde verschoben !

R. wurde vom Amtsgericht angeschrieben, dass ein Richter gewechselt habe und ein neuer Termin festgelegt wurde:

Donnerstag, 15. Mai 2008 10:00h Sitzungssaal A224/II
Justizgebäude Nymphenburgerstrasse 16

KOMMT ALLE !!!

110 Tagessätze zu wieviel ... ???

bee_jay_ 08.04.2008 - 20:46
Äußerst interessant wäre zu wissen, zu wieviel EUR die Tagessätze benannt wurden. Schließlich wird erst daraus ersichtlich, wie hoch oder "niedrig" die Strafe tatsächlich ist. Im Minimum also 550EUR ...

?Fragezeichen?

Höhe der Tagessätze

OP 08.04.2008 - 21:04
Ein Tagessatz wurde erstmal auf 15 € festgelegt, also 1650,- insgesamt. 110 Tagessätze bedeuten aber auch eine Vorstrafe.
Theoretisch ist ein Tagessatz ein dreissigstel des Monatseinkommens, 110 Tagessätze sind also fast 3 Monatseinkommen - (theoretisch) unabhängig davon, wie hoch dieses Monatseinkommen ist.

Tagessatzzahl

Juramon 09.04.2008 - 20:35
... außerdem ist die Tagessatzzahl hier der Skandal. Ab einer Strafe von mehr als 90 TS darf man sich nicht mehr als "nicht vorbestraft bezeichnen", was bei Bewerbungen, verwaltungsrechtlichen Genehmigungen (z.B. eine Schanklizenzerteilung) u.ä. eine mittlere Katastrophe für den/die Betroffene darstellen kann.