Reparationen für zwangsoperierte Zwitter!

Seelenlos 23.03.2008 14:05 Themen: Gender Soziale Kämpfe
Die Zwischengeschlechtliche Christiane Völling hat vor dem Landesgericht in erster Instanz den Prozess gegen den Chirurgen gewonnen, der ihr gemäss nach wie vor gängiger medizinischer Praxis ohne ihre Einwilligung die inneren Geschlechtsorgane unwiderbringlich entfernte. Obwohl der Chirurg mittlerweile in Revision ging und Christiane auch sonst von den Behörden schikaniert wird, brachte das Verfahren eine noch nie dagewesene Publizität für die Forderungen Zwischengeschlechtlicher, z.B. das Recht auf körperliche Integrität, Annerkennung für optionalen 3. Geschlechtseintrag, Entschädigungen für Zwangsoperierte sowie generell "Menschenrechte auch für Zwitter".

Christianes Schicksal ist kein Einzelfall. Allein in Deutschland leben schätzungweise 100'000 Zwischengeschlechtliche, etwa jeden Tag wird ein neuer geboren, und mit wenigen Ausnahmen werden sie nach wie vor zwangsoperiert, d.h. zwangskastriert und überwiegend auch genital verstümmelt. Angesichts der -- wie Christianes Beispiel zeigt -- unwürdigen, langwierigen Gerichtsverfahren, höchste Zeit, die langjährige Forderung Zwischengeschlechtlicher nach "Reparationen für Zwangsoperierte" wieder aufzugreifen ...
selbsterklärender disclaimer: seelenlos ist ein "normaler" XY, meinefreundin nella ist der zwitter. ich habe von "intersexualität"überhaupt erst durch sie erfahren und war gelinde gesagt etwasgeschockt, obwohl ich mich schon länger z.b. mit polizeigewalt undzensur auseinandersetze, und möchte deshalb zwischengeschlechtlicheanliegen und ihre durchsetzung möglichst unterstützen.

Meine Eltern gehörten zu denen, die nach dem Krieg sagten, von den KZs und den Öfen hatten wir nichts gewusst. (Vor Kriegsende war es in der Schweiz tatsächlich verboten, in der Zeitung darüber zu schreiben. Nichtsdestotrotz hielten sich Redewendungen wie "bis zur Vergasung" – statt z.B. "bis zur Verblödung" – in der CH-Öffentlichkeit inkl. meinem Elternhaus bis in die Siebziger ...)

Ich hatte eine behütete Kindheit, Gräueltaten fanden längst wieder ausschliesslich in wirklich gebührender Entfernung statt, wie sich's gehört. Dachte ich zumindest. Ja, ich hatte eine behütete Kindheit. Weil ich, ich hatte das Privileg, mit einem intakten Körper aufzuwachsen, ohne Ärzte, die meine Genitalien und Reproduktionsorgane nach Lust und Laune zurechtschnibbelten, amputierten und herausrissen.

"Schnipp, schnapp, Schwanz ab!" ist für Zwischengeschlechtliche keine (theoretische) feministische Parole, sondern die weitverbreitetste Form der "äusseren Geschlechtsangleichung", wie sie bei zwischengeschlechtlichen Kindern bis in die 80er von gewissenlosen Medizinern praktiziert wurde. Michel Reiter und Alex Jürgen sind nur die prominentesten Beispiele dieser besonders unmenschlichen Praxis (als wäre operative Zwangszuweisung + lebenslanges Belügen an sich nicht schon menschenrechtswidrig genug). Und auch heute laufen die "verbesserten" Operationsmethoden nur zu oft immer noch auf dasselbe hinaus, und praktisch immer zumindest auf eine starke Verminderung des sexuellen Empfindens durch irreparable Schädigung der Sexualnerven.

Und tja, ehrlich, bis vor kurzem hab auch ich davon rein gar nichts gewusst! Und nein, es ist heutzutage nicht wirklich verboten, darüber in der Zeitung zu schreiben, weder in der Schweiz noch sonstwo. Bloss steht nach wie vor trotzdem nix drin davon. Na, so ein Zufall aber auch ...

Noch können Ärzte und Ämter das ganze Ausmass erfolgreich unter dem Teppich behalten. So war noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts die (damals rot-grüne) Bundesregierung sich nicht zu blöd, u.a. frech zu behaupten: "Der Bundesregierung ist nicht bekannt, dass eine Vielzahl von Intersexuellen im Erwachsenenalter die an ihnen vorgenommenen Eingriffe kritisiert." Ich meine, dieses Statement muss mensch sich erstmal ganz langsam auf der Zunge zergehen lassen ... Menschenwürde, von wegen! Und unantastbar, am Arsch!

Trotzdem, die Tage des fröhlich ungestraften Zwangsoperierens an Zwittern sind u.a. dank den Prozessen von Michel Reiter und Christiane Völling (hoffentlich!) gezählt. Noch ist es bis dahin aber ein weiter Weg, bedarf es tonnenweise zusätzlichen öffentlichen und politischen Drucks ...

Ein gutes Mittel hierzu wäre m.e. Michel Reiters (--> "Ziele organisiserter Intersexen") und Georg Klaudas (--> "Agenda der KritikerInnen dieser Praxis", 3.)

Forderung nach Reparationen für Zwangsoperierte durch den Staat

aufzunehmen und sie möglichst breit und offensiv öffentlich und politisch einzufordern, etwa mit folgender

Begründung:


Die überwiegende Mehrzahl der Zwangsoperierten und -kastrierten leidet massiv unter dem ihnen angetanen Unrecht und hat deshalb Anrecht auf ein angemessenes Schmerzensgeld. Alle haben zudem lebenslängliche medizinische Folgekosten durch Hormonersatztherapie und auch Psychotherapien zur Aufarbeitung der durch die Zwangsoperationen verursachten Traumen, die oft von der Kasse nur zu einem Bruchteil übernommen werden. Diese Kosten können sich für Betroffene bis zu mehreren hundert Euro monatlich belaufen. Da dieses von den Medizinern an Zwischengeschlechtlichen jahrzehntelang begangene und immer noch andauernde Unrecht mit dem ausdrücklichen Segen von Staat/Bundesregierung angetan wurde (siehe oben), ist auch der Staat für Reparationen/Schmerzensgeld/Entschädigungen zuständig und soll bezahlen.

(Und wer von den anwesenden Damen und Herren PolitikerInnen damit nicht einverstanden ist, bitte vortreten und Hosen runter, damit die "harmlose" und "bekanntlich von keinen Betroffenen kritisierte" Geschlechtsangleichung unverzüglich per Schere vorgenommen werden kann – mal gucken, ob sie anschliessend ihre Meinung nicht doch noch ändern ...)

Geschmackloser Scherz beiseite: Wenn mensch sich vor Augen führt, wie schändlich dieselbe Bundesregierung (und alle ihre Vorgänger) sich sträubten (und ihre Nachfolgerin sich nach wie vor sträubt und windet), bloss schon homosexuelle (igitt!) KZ-Überlebende zu entschädigen (eins / zwei / drei), dürfte klar sein, dass diese Forderung realpolitisch kaum Chancen hat: Schliesslich geht's um ne ziemliche Stange Geld. Gerade deshalb ist aber das Aufstellen und möglichst hartnäckige Beharren auf dieser Forderung ein sinnvoller Beitrag dazu, endlich die unmenschliche Praxis der Zwangsoperationen und -Kastrationen abzuschaffen!

Mittlerweile können sich MedizinerInnen und PolitikerInnen nämlich dank der bundesfinanzierten Hamburger Studie nicht mehr damit herausreden, von nix gewusst zu haben ... Umso grösser wird ihre Angst sein, ev. doch noch gerichtlich und/oder politisch belangt zu werden, wenn sie die Zwangsoperationspraxis (abgesehen von ev. einigen rein verbalen Zugeständnissen à la "sollte") weiterhin aufrechterhalten, wie dies aktuell immer noch der Fall ist (z.B. eins / zwei (Abschnitt MEDIZIN) / drei (pdf-Download) / usw.usf.).

Je lauter deshalb die Forderung nach Reparationen gestellt wird (und je mehr Prozesse gegen MedizinerInnen noch stattfinden werden), desto schneller werden die menschenrechtswidrigen Zwangsoperationen endlich aufhören! 

Deshalb ist es wichtig, dass die Forderung nach Reparationen für Zwangsoperierte von allen fortschrittlichen Organisationen und Individuen, welche die Zwangsoperationen verurteilen, aufgenommen, zu einem Teil ihrer politischen Agenda gemacht und offensiv öffentlich vertreten wird.


Siehe auch: Faule Eier für "die Bundesregierung"

http://zwischengeschlecht.info

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Ergänzungen