„Pekings Politik trägt koloniale Züge“

Peter Ruf 20.03.2008 12:24
Tibeter werfen Steine – und die chinesische Regierung protestiert gegen Gewalt. Verkehrte Welt? Die Wurzeln des Aufstands und die Interessen Chinas erläutert die Sinologin und hessische Landesvorsitzende der LINKEN Ulrike Eifler.
Die Proteste in Tibet sind die größten seit Jahrzehnten. Der Dalai Lama, geistiges Oberhaupt der tibetischen Buddhisten, macht eine Verschlechterung der Menschenrechtslage dafür verantwortlich. Wogegen wehren sich die Tibeter?

Ulrike Eifler: Tibet ist seit 1949 von den chinesischen Kommunisten besetzt, was mit einer starken Unterdrückung der tibetischen Kultur einhergeht. Die „Autonome Region Tibet“ ist heute nur halb so groß wie das unabhängige Tibet von 1911. Tibetische Trachten, Tänze oder die Sprache können nur eingeschränkt aufgeführt oder angewandt werden.
Tibeter werden zu Haftstrafen verurteilt, wenn sie ein Portrait des Dalai Lama besitzen oder sich weigern, den Dalai Lama zu kritisieren. Infolge des tibetischen Volksaufstandes von 1959 wurden 6.000 buddhistische Klöster zerstört.
Nach der Kulturrevolution gab es keinen einzigen praktizierenden Mönch und keine einzige praktizierende Nonne mehr in Tibet. Viele wurden verhaftet, getötet oder flohen aus Tibet.
Nach dem Ende der Kulturrevolution 1976 wurden einige Klöster wieder aufgebaut und die Mönche teilweise rehabilitiert. Doch die buddhistische Religion kann auch heute nur unter strengen Auflagen praktiziert werden.

Angesichts des Aufstands ruft der Dalai Lama die Tibeter dazu auf, auf Gewalt zu verzichten und nicht gegen Chinesen, sondern gegen die chinesische Politik zu kämpfen. Doch offensichtlich erreicht der Friedensnobelpreisträger eine große Zahl der Tibeter nicht. Warum nicht?

Ulrike Eifler: Die gegenwärtigen Proteste sind ein gewaltiger Wutausbruch der Tibeter. Sie sind nicht nur kulturell unterdrückt, sondern vor allem sozial an die Wand gedrängt.
Seit Jahren verfolgt die chinesische Regierung die Strategie, Tibet mit chinesischen Zuwanderern zu besiedeln, um die Tibeter in ihrer eigenen Region zu marginalisieren. Da die Han-Chinesen mit finanziellen Anreizen nach Tibet gelockt werden, führt diese Politik zu einer deutlichen Diskriminierung bei der Wohnungsbeschaffung, im Beschäftigungssektor, im Schulwesen oder bei der Gesundheitsfürsorge.
Während Chinesen in Tibet eine freie Gesundheitsversorgung genießen können, müssen die Tibeter dafür zahlen. Gleichzeitig ist die Armut unter den Tibetern besonders groß, weil chinesische Zuwanderer bei der Besetzung von Arbeitsplätzen bevorzugt werden.
Die Arbeitslosigkeit unter jungen Tibetern beträgt Schätzungen zufolge mehr als siebzig Prozent. In Lhasa leben mittlerweile 3.000 Bettler, in Shigatse sollen es noch mehr sein. Der wütende Aufstand der Tibeter ist Ausdruck ihres täglichen Überlebenskampfes.

Die chinesische Führung verteidigt die Niederschlagung der Proteste damit, dass sie Gewalttaten nicht hinnehmen könne. Hat die chinesische Regierung das Recht, sich zu verteidigen?

Ulrike Eifler: Es ist die Politik der chinesischen Regierung, die zu einer Verarmung und Verelendung der Tibeter führt. Wenn Menschen sterben, weil sie sich die Krankenhausbehandlung nicht leisten können oder wenn sie vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden, weil sie Tibeter sind, dann ist das auch eine Form von Gewalt.
Die Begründung der chinesischen Regierung ist heuchlerisch. Sie will damit nur ihre Angst vor einer Ausweitung der Proteste verschleiern. Denn nicht nur in Tibet wächst die soziale Spaltung. Privatisierung, Arbeitslosigkeit, Druck auf die Löhne und frühkapitalistische Bedingungen sind der Preis, den die chinesischen Arbeiter für das Wirtschaftswachstum zahlen müssen.
Die chinesische Gesellschaft ist wegen der sozialen Unzufriedenheit derart instabil, dass die chinesische Regierung zu Recht eine Ausweitung befürchtet. Im Sommer 1989 hatten Studenten und Arbeiter die Machtfrage gestellt. Das wollen die chinesischen Kommunisten kein zweites Mal erleben.

Der Sekretär der Kommunistischen Partei Chinas hat den Konflikt mit den Tibetern als einen „Kampf auf Leben und Tod“ bezeichnet. Was ist an Tibet so wichtig für die chinesische Regierung?

Ulrike Eifler: Tibet ist von geostrategischer Bedeutung für China. Es verfügt über einen enormen Reichtum an Bodenschätzen. Die bedeutendsten Vorkommen der Erde an Uran, Lithium, Borax oder Eisen lagern in Tibet. Auch die Vorräte an Erdöl, Erdgas, Gold, Silber, Kupfer oder Zink sind von globaler Bedeutung. Insgesamt haben die abbaufähigen Vorräte der Bodenschätze in Tibet einen Wert von etwa 128 Milliarden Dollar.
Für eine aufstrebende Wirtschaftsmacht wie China ist der Zugang zu Mineralien und Energie in der Tat ein „Kampf auf Leben und Tod“. Die Kontrolle über Tibet mit stabilen Verhältnissen bedeutet für China eine Autarkie bei der Rohstoffversorgung.
Gleichzeitig ist Tibet ein wichtiger militärischer Stützpunkt, um Asien zu dominieren und die Vormachtstellung auszubauen. Die chinesische Regierung hat geheime Radarstationen, Militärflugplätze, Raketenabschussbasen und Nuklearraketen in Tibet installiert. Mit seiner Grenze zu Indien wird Tibet zu einer Frontlinie für die Großmachtambitionen Pekings. Deshalb ist die Stabilität so wichtig.

Zumindest der Dalai Lama betont, dass er nicht die Unabhängigkeit, sondern nur eine größere Autonomie Tibets fordere. Trotzdem wirft die chinesische Führung den Tibetern vor, Separatisten, zu sein. Ist der Vorwurf gerechtfertigt?

Ulrike Eifler: Der Dalai Lama setzt auf einen Dialog mit der chinesischen Regierung. Die aktuellen Proteste der Tibeter hingegen sind stark geprägt von antichinesischen Ressentiments. Wenn die Geschäfte chinesischer Ladenbesitzer geplündert oder Chinesen gelyncht werden, wird das den Dialog mit der chinesischen Regierung nicht befördern.
Auf der anderen Seite zeigt aber die Siedlungspolitik der Regierung, dass sie an einem Dialog mit den Tibetern eigentlich nicht interessiert ist. Der Vorwurf des Separatismus ist ein Versuch, die Proteste zu diffamieren. Die Tibeter kämpfen für die Erhaltung ihrer Kultur und gegen eine soziale Ausgrenzung.

Was wäre an einer Unabhängigkeit Tibets auszusetzen?

Ulrike Eifler: Gegenwärtig verlaufen die Grenzen in Tibet zwischen unterdrückten Tibetern und unterdrückenden chinesischen Funktionären. Insofern ist der Kampf für ein unabhängiges Tibet ein Kampf für die soziale Verbesserung der Tibeter und sollte von Linken unterstützt werden. Die Tibeter müssen selbst bestimmen können, was in ihrem Land passiert.
Mit der Siedlungspolitik der chinesischen Führung nahm nicht nur die Verarmung und Verelendung der Tibeter zu, sondern auch die systematische Zerstörung des Lebensraumes. Die Landwirtschaft der Regierung brachte das ökologische Gleichgewicht durcheinander, was Hungerkatastrophen zur Folge hatte.
Tibet ist inzwischen ein Lager von nuklearen Abfallprodukten. Gleichzeitig rutschen durch den zunehmenden Bergbau die Hänge weg und die Flüsse verschmutzen. Diese Entwicklung ist nicht länger hinnehmbar. Ein unabhängiges Tibet würde der chinesischen Regierung den unmittelbaren Zugriff auf die Bodenschätze entziehen.

Die Forderung nach einem Boykott der Olympischen Spiele erinnert an den Kalten Krieg, als unter anderem die Spiele in Moskau 1980 von NATO-Staaten und in Los Angeles 1984 von Staaten des Warschauer Paktes boykottiert wurden. Haben Linke in dieser Situation die Aufgabe, gegen einen neuen Kalten Krieg einzutreten und die chinesische Regierung zu verteidigen?

Ulrike Eifler: Pekings Politik in Tibet trägt koloniale Züge. Sie dient erstens dazu, den Widerstand gegen die chinesische Herrschaft zu brechen, indem die tibetische Bevölkerung marginalisiert werden soll. Sie soll zweitens die soziale und politische Unzufriedenheit im restlichen Teil Chinas kanalisieren, indem arbeitslose Chinesen unter finanziellen Anreizen nach Tibet gelockt werden.
Sie dient drittens dazu, rücksichtslos und aus einem eigenen Profitinteresse die natürlichen Ressourcen auszubeuten. Und sie zielt viertens darauf ab, die Kontrolle über eine militärisch und strategisch wichtige Zone in Zentralasien auszuweiten und auf solide Füße zu stellen.
Die Politik der chinesischen Regierung ist also durchaus vergleichbar mit der Besetzung von Irak oder Afghanistan. Linke sollten auf diese Parallelen hinweisen und klarmachen, dass sich die Hauptakteure imperialistischer Politik im Kern ähneln.

Zur Person:Ulrike Eifler ist Landesvorsitzende der LINKEN in Hessen. Sie hat von 1998 bis 2004 Politologie und Sinologie (Chinawissenschaften) in Marburg studiert und sich besonders mit den sozialen Auswirkungen des chinesischen Booms auf die Arbeiter beschäftigt. 2007 erschien ihr Buch „Neoliberale Globalisierung und die Arbeiterbewegung in China“.

Das Interview erschien am 19. März auf der Seite www.marx21.de
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Ergänzungen

Ansichtssache.

Kommiwatch 20.03.2008 - 16:49
Was sagen Kommunisten dazu? Ist ja ein Konflikt an dem Kommunisten nicht ganz unbeteiligt sind, selbst wenn manche behaupten, die Chinesen sind ja keine mehr. Bei der MLPD erfäht man welche Bauchschmerzen Kommunisten heute noch mit Tibet bekommen können.

 http://www.rf.news.de/rfnews/schlagzeilen#News_Item.2008-03-15.0637

Kommipartei zu Tibet.

Kommiwatch 21.03.2008 - 20:54
Hier im Wortlaut der Artikel aus den RF - News.

Tibet: Worum geht es bei den Auseinandersetzungen auf dem "Dach der Welt"?

15.03.08 - Chinesische Truppen unterdrücken gewaltsam Demonstrationen und Kundgebungen in der tibetischen Hauptstadt Lhasa. Selbst nach Informationen der amtlichen chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua gab es schon zahlreiche Tote. China wird von den westlichen imperialistischen Ländern zur Mäßigung aufgerufen, der Dalai Lama ist "zutiefst beunruhigt". Zunächst waren am Montag etwa 500 Mönche des großen Drepung-Klosters in der Nähe von Lhasa auf die Straße gegangen. Einige Dutzend von ihnen wurden verhaftet. Am Dienstag bot Peking dann mehrere Tausend Sicherheitskräfte auf, um eine Demonstration von 600 Mönchen aus dem Kloster Sera aufzulösen.

Angesichts wachsender sozialer und politischer Widersprüche sowie der Unterdrückung nationaler Minderheiten im bürokratisch-kapitalistischen China sind die tibetischen Unruhen für die chinesische Bourgeoisie ein Sprengsatz, auch im Hinblick auf die Olympiade im Sommer. Sie setzt daher mit unverhüllter Härte ihren staatlichen Gewaltapparat ein.

Die Initiatoren der Unruhen, buddhistische Mönche in der Gefolgschaft des Dalai Lama, sind alles andere als fortschrittlich. Der romantisch als Freiheitskämpfer verklärte Mönch ist in Wahrheit ein Repräsentant einer reaktionären Sklavenhalterklasse, deren Charakter durch die von ihm propagierte Form der Religionsausübung weltanschaulich verbrämt wird. Das ehemalige SS-Mitglied Heinrich Harrer war sein Erzieher, er selbst unterstützte die Hitlerfaschisten. Im Falle einer tibetischen Unabhängigkeit würde er nach eigener Aussage Menschen aus anderen Ländern und Anhänger anderer Religionen des Landes verweisen.

Der Anlass der Unruhen in Tibet ist der 49. Jahrestag einer Rebellion ebenso rückschrittlicher Kräfte in Tibet gegen die damals sozialistische Volksrepublik China. Dass Tibet neun Jahre zuvor von chinesischen Truppen besetzt worden sein soll, ist eine weit verbreitete antikommunistische Lüge. Bis zum Jahre 1949 zweifelte niemand daran, dass Tibet ein Teil Chinas sei. "Erst nach dem Zusammenbruch der Nationalregierung im Jahre 1949 begannen die Vereinigten Staaten die Idee zu vertreten, Tibet sei ein 'souveräner Staat' und es war sogar die Rede davon, einen tibetischen Antrag auf Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen zu unterstützen. Zu der Zeit, als der Dalai Lama Tibet verließ, war der Glaube in Amerika weitverbeitet, die Chinesen hätten eine 'Invasion' gemacht - und das wurde dann natürlich als weiteres Beispiel für die 'Aggression' des kommunistischen China angeführt", schreibt der amerikanische Journalist Felix Greene in seinem Buch "Listen, Lügen, Lobbies - China im Zerrspiegel der öffentlichen Meinung".

1951 schloss die Regierung Zentralchinas mit der tibetischen Regierung ein 17-Punkte-Abkommen, das weltweit als Beispiel für eine vorbildliche Nationalitätenpolitik des sozialistischen Chinas unter Mao Tsetung anerkannt war. Innerhalb von zwei Jahren wurde daraufhin das damals in Tibet vorherrschende System unbezahlter Zwangsarbeit völlig abgeschafft, die armen Bauern konnten für sich selbst Nahrungsmittel anbauen und Schafzucht betreiben. Die Erziehung und Schulbildung unterlag nicht mehr länger der Hoheit der Klöster. Für die Volksmassen auf dem "Dach der Welt" begannen bisher nicht gekannter Fortschritt, breite Demokratie und Freiheit.

Die heutige Unterdrückung nationaler Minderheiten in China ist ebenso wie die blutige Unterdrückung der Unruhen von 1989 das Resultat der Restauration des Kapitalismus in China. Das Interesse von Merkel, Bush und Sarkozy an der Menschenrechtssituation in China ist reine Heuchelei. Wenn die chinesische Regierung Arbeiter- und Volkskämpfe unterdrückt, um ein Ausbeuterparadies für einheimische und internationale Monopole zu schaffen, hört man nichts von einer Verurteilung durch einen EU-Gipfel.

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