Brasilien: Widerstand gegen Flussableitung

toby 08.03.2008 01:36 Themen: Soziale Kämpfe Weltweit Ökologie
Über 200 VertreterInnen von Basisorganisationen aus 14 Bundesstaaten trafen sich vom 25.bis zum 27. Februar in Sobradinho im Nordosten Brasiliens, um die bestehenden Verhältnisse in Bezug auf die Wasserproblematik in den verschiedenen Regionen des Nordostens zu analysieren und gemeinsam Strategien für das weitere Vorgehen zu entwickeln.
Der Ort war nicht zufällig gewählt: Sobradinho entstand während der Militärdiktatur infolge eines der größten Staudammprojekte der Welt und steht bis heute für Vertreibung, Umweltzerstörung und für ein auf die Interessen einer kleinen Elite ausgerichtetes Entwicklungsmodell. Gleichzeitig war Sobradinho der Ort des zweiten Hungerstreiks von Bischof Dom Luiz Cáppio im Dezember letzten Jahres, durch den der Widerstand der Bevölkerung des Nordostens gegen das aktuelle Megaprojekt der Regierung Lula nationale und internationale Aufmerksamkeit erhielt.

Mit der Ableitung eines Teils des Wassers des Rio São Francisco in die semi-ariden Gebiete des Nordostens Brasiliens will Präsident Lula ein bereits von mehreren Amtsvorgängern anvisiertes aber immer wieder verworfenes Vorhaben umsetzen und sich somit bis zum Ende seiner zweiten Regierungszeit ein unvergessliches Denkmal setzen. Die Bilder, die von der Regierung zur Durchsetzung dieses pharaonischen Vorhabens lanciert werden, sind eindringlich: dürstende, ausgezehrte Nordestinos auf ausgetrockneter Erde, die sowohl auf Regen als auch auf die Almosen der Regierung warten, während gleichzeitig einer der größten Flüsse Brasiliens sein kostbares Süßwasser ins Meer verschwendet.
Diesen Bildern setzten die VertreterInnen von Fischervereinigungen, Kleinbauerorganisationen, Landlosenbewegugen, indigenen Völkern, Quilombolas (Nachfahren entflohener Sklaven), kirchlichen Gruppen und Gewerkschaften ihre täglichen Erfahrungen gegenüber: der Velho Chico, wie der Fluss im Nordosten liebevoll genannt wird, ist aufgrund der intensiven Ausbeutung der natürlichen Ressourcen (Abholzung der natürlichen Vegetation, Plantagenwirtschaft, Einleitung der Abwässer der urbanen Zentren und der Minen etc.) und der intensiven Bewässerungswirtschaft zu einem verschmutzten Rinnsal degradiert worden, dessen Wassermassen nicht einmal mehr ausreichen, um in den sieben verschiedenen Staudämme entlang des Flusslaufes genügend Energie zu erzeugen, geschweige denn den Fischern an den Flussufern eine Lebensgrundlage zu bieten. Gleichzeitig wurde betont, dass mit Hilfe eines angepassten Umgangs mit den unregelmäßig fallenden Niederschlägen (Bau von Zisternen, Auffangbecken, unterirdische Stauanlagen, angepasste Anbaumethoden etc.) ein würdiges Leben im semi-ariden Nordosten Brasiliens möglich ist.
Darüber hinaus erläuterte Manuel Bonfim, renommierter Bauingenieur, Hydrologe und ehemaliger Direktor des DNOCS (Nationale Behörde zur Bekämpfung der Dürre) - die Situation der Wasserversorgung im Nordosten Brasiliens aus wissenschaftlicher Sicht. In der Region fallen durchschnittlich zwischen 600 und 800 mm im Jahr während die unterirdischen Wasserressourcen - bei einer nachhaltigen Nutzung – ausreichen würden, die gesamte Bevölkerung des Nordosten mit ausreichend Wasser zu versorgen. Somit ist nicht die Verfügbarkeit, sondern vielmehr die ungerechte Verteilung der Wasserressourcen der Grund dafür, dass große Teile der Bevölkerung in der Region unter Wassermangel leiden. Die bis auf die Kolonialzeit zurückreichenden Machtstrukturen des Coronialismo basieren auf dem selektiven Zugang zu den natürlichen Ressourcen wie Land und Wasser. So ist es keine Seltenheit, dass Familien nur wenige hundert Meter neben einem der Bewässerungskanäle leben und nicht über ausreichend Wasser für die Deckung der Grundbedürfnisse verfügen, während gleichzeitig Wasser in Form von Früchten (hauptsächlich Mango und Trauben) und Energie (Wasserkraftwerke und Agrartreibstoffe) aus der Region exportiert wird. Dabei hat insbesondere die Frage der Energiesicherheit und der Boom der sogenannten Biotreibstoffe den Druck auf den ländlichen Raum im Nordosten in den letzten Jahren enorm verstärkt. So kann derzeit ein rasanter Landnutzungswandel hin zu wasserintensiven Kulturen wie bewässerte Zuckerrohrplantagen für Ethanolproduktion festgestellt werden.
Vor diesem Hintergrund wird es offensichtlich, dass durch das Ableitungsprojekt die Ursachen der Armut im Nordosten nicht angegangen werden, sondern ganz im Gegenteil die ungleiche Verteilung der natürlichen Ressourcen noch weiter verstärkt wird. Das Wasser des Rio São Francisco soll in erster Linie der exportorientierten intensiven Plantagenwirtschaft und der urbanen und industriellen Wasserversorgung dienen. Das von der Regierung Lula entwickelte Programm zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums (PAC), in dem das Ableitungsprojekt eine zentrale Komponente darstellt und in das in den nächsten Jahren Milliarden an Investitionen fließen sollen, ist somit ein weiteres erschreckendes Zeugnis für die technologische Fortschrittsgläubigkeit der Regierung Lula und gleichzeitig für die enge Verknüpfung zwischen Politik und Agrobusiness.
Somit war das Verhältnis zwischen den sozialen Bewegungen und der Regierung Lula zunächst einer der zentralen Diskussionspunkte auf der Konferenz. Einig waren sich die TeilnehmerInnen zwar darin, dass die abwartende Erwartungshaltung gegenüber der Regierung Lula und die Kooptation führender Persönlichkeiten der Bewegungen die Mobilisierungskraft und den Widerstand in den letzten Jahren fast zum Erliegen gebracht hat, und dass es nun an der Zeit sei, sich von der lähmenden Enttäuschung zu befreien. Bei der Frage nach der Art und Weise und der Radikalität des Vorgehens bestehen jedoch noch erhebliche Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Bewegungen. Als erster Schritt wurde zunächst ein Nationaler Tag der Lüge der Regierung Lula am 1. April beschlossen. An diesem symbolischen Datum soll der brasilianischen Öffentlichkeit in Demonstrationen und Kundgebungen gezeigt werden, wie die Bevölkerung von der Regierungspropaganda zur Umleitung des Rio São Francisco „in den April geschickt wird“. Des weiteren plädierten vor allem die VertreterInnen der kirchlichen Gruppierungen dafür, den Hungerstreik als friedliche Protestform dezentralisiert und punktuell weiterzuführen. Vor allem auf die Nationale Bischofskonferenz (CNBB), die Anfang April tagen wird, soll Druck ausgeübt werden, um sie für eine klare Positionierung gegen das Umleitungsprojekt und für eine Demokratisierung des Wasserzugangs zu bewegen. Besonders vor dem Hintergrund, dass im Oktober diesen Jahres in ganz Brasilien Kommunalwahlen stattfinden werden, wird es entscheidend sein, wie die einzelnen Bewegungen vor Ort die Frage der Flussumleitung in die regionalen Debatten einbringen werden können. Vor allem müssen die Bewegungen im Stande sein, auf die Ende März/Anfang April zu erwartende Propagandawelle der Regierung Lula angemessen zu reagieren, und einen eigenständigen Diskurs über die Frage der Wasserverteilung zu etablieren. Das hieße beispielsweise, anstatt auf die Zahlenspielereien der Regierungsvertreter über Ableitungsmenge und Kosten einzugehen, die Frage nach der Demokratisierung des Zugangs zu Wasser und zu Land in den Mittelpunkt der Debatten zu rücken. Somit war der Besuch einer von der Landlosenbewegung MST besetzten Bewässerungsfläche am Ende der Konferenz, bei der Bischof Dom Cáppio gemeinsam mit den TeilnehmerInnen der Konferenz eine Kapelle einweihte, weit mehr als eine symbolische Solidaritätserklärung. Vielmehr steht die Besetzung, die seit einem Jahr erfolgreich produziert, für die Möglichkeit der Durchsetzung einer wirklichen Agrarreform und die Stärkung der Rolle der Kleinbauern im ländlichen Raum.
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Ergänzungen

weitere Aktion

Entdinglichung 09.03.2008 - 16:51
in diesem Zusammenhang kann auch noch auf eine nachahmenswerte Aktion von Bäuerinnen gegen eine Eukalyptusplantage am 4. März in Rosário do Sul/Rio Grande do Sul hingewiesen werden, die dann leider von den Bullen attackiert wurde

Hintergrundinfos São Francisco

toby 09.03.2008 - 19:26
ein paar infos zum umleitungsprojekt...

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Verstecke die folgenden 2 Kommentare

abschlusserklaerung conferência sobradinho

toby 10.03.2008 - 14:04
hier (nun doch) die abschlusserklaerung auf deutsch...

gewaltsame landvertreibung von kleinauern

toby 10.03.2008 - 14:06
so langsam zeigt sich die dynamik, die hinter dem entwicklungsmodell der regierung lula steckt...
und wenn noetig, werden die interessen eben gewaltaetig durchgesetzt!
ein aufruf der cpt bahia!