Antirassistisches Radioballett in Hamburg

asdf 03.02.2008 17:06 Themen: Antirassismus
Am 2.2.08 lud das "Kollektiv Antirassistischer KünstlerInnen KAKI" zu einem antirassistischen Radioballett in der Hamburger Innenstadt ein. In einer per Radio koordinierten Performance stellten 150-180 AktivistInnen die fiktive Geschichte eines nicht aus der brd stammenden Menschen dar, der versucht sich in Hamburg ein neues Leben aufzubauen, und als weiteres Todesopfer der deutschen Abschiebepolitik endet.
Die Performance verfolgte zwei Ziele:
1.Die Thematisierung von institutionalisiertem Rassismus in Form von rassistischen Sondergesetzen und Behörden in der Öffentlichkeit.
2. Die, zumindest ausschnitthafte, Erfahrbarmachung der Folgen dieser Form des Rassismus für die davon betroffenen Menschen für die teilnehmenden Aktivist_innen.

Um 14 Uhr waren in der Hamburger Einkaufszone "Mönckebergstraße", üblicherweise eine No-Go-Area für politische Aktionen, zahlreiche Personen mit Kopfhörer-Radios zu sehen. Diese zerstreuten sich unter den KonsumentInnen, schlüpften in die Rolle eines gerade in der Stadt angekommenen Flüchtlings und folgten synchron den per Radio an sie übermittelten Handlungsvorschlägen. Zunächst wurde sich umgeschaut, dann gerannt, vor Freude getanzt und schließlich den irritierten PassantInnen zugerufen: "Bei euch ist es schön, hier will ich leben!"

Doch kurz darauf folgte die Ernüchterung: Die Stimme eines Polizisten verlangte nach Aufenthaltspapieren, was zunächst Angst, dann einen ersten Moment des Widerstandes hervorrief: "Ich habe keine Papiere!" und schließlich zu einer wilden Flucht zwischen den nun noch stärker irritierten Zuschauer_innen führte. Am Ende der ersten Hälfte der Performance siegte jedoch die repressive Staatsmacht und die Aktivist_innen wurden festgenommen und mit gefesselten Händen der Ausländerbehörde vorgeführt.

Nach einer lautstarken Diskussion mit dem dort tätigen Sachbearbeiter und lauten Ausrufen wie "Ich habe das Recht hier zur leben weil ihr mein Land zerstört!" wurde die Figur, deren Rolle von den Teilnehmenden gespielt wurde, vorbei an den Geschäften und den Einkaufenden von einem imaginären Polizisten in den zentralen Abschiebeknast geführt. Dieser befand sich auf einem größeren Platz, auf dem nun aus verschiedenen Richtungen Menschen mit gesenktem Kopf, "gefesselten" Händen und Radio-Kopfhörern in den Ohren ankamen.

Nach einer kurzen Pause, in der die Aktivist_innen auf einen Vorschlag aus dem Radio hin mit Kreide antirassistische Parolen auf Boden und Wände schrieben, folgte dann das tragische Ende der Performance: Nach einem kollektiven Ausdruck der Verzweiflung und des Wahnsinns, hervorgerufen durch die ausweglose Situation als "Spielball" der repressiven deutschen Abschiebegesetze, stellten die Performer_innen den Tod der gespielten Figur dar. Die Ursache hierfür wurde absichtlich offen gelassen - vielleicht war es Selbstmord in der Abschiebezelle, vielleicht Tod durch polizeiliche Maßnahmen während der Abschiebung, vielleicht aber auch Folter und Ermordung im Herkunftsland nach der Abschiebung.

Der Abschluss und der folgende Abspann der Radioübertragung wurde per lautgestellten Radios den Passant_innen vorgespielt, informierte über den Hintergrund der Aktion und vermittelte Zahlen und Fakten zum Thema "Todesfälle in Zusammenhang mit Abschiebungen". Während der Performance wurden außerdem Flugblätter mit ähnlichem Inhalt an die Zuschauenden verteilt.

Die Polizei ließ sich während der gesamten Aktion nicht blicken, was überrascht da üblicherweise jede Form der linksradikalen politischen Äußerung in der zentralen Einkaufszone der Stadt repressiv unterbunden wird. Erst nach erfolgreichem Ende der Performance ließen sich 6 sichtlich verwirrte Beamt_innen am Orte des Geschehens blicken, die nach einigem Beratschlagen und Studieren des verteilten Flugblattes den Entschluss fassten "Wir gehen jetzt auf Einzelpersonen zu und fragen sie, was sie hier tun". Gesagt getan - aber nichts erreicht, da sich die letzten herumstehenden Aktivist_innen wenig kooperativ für die Kommunikationsversuche der Polizist_innen zeigten. Da die gesamte Performance außerdem nicht den Charakter einer Versammlung aufwies, fanden die Beamt_innen auch keine rechtliche Möglichkeit gegen das Beobachtete vorzugehen und zogen sich enttäuscht in ihre Streifenwagen zurück.


Hier das verteilte Flugblatt:
-----------------------------------------------------
Antirassistisches Radioballett
- Hamburg 2.2.2008 -

Liebe Passantin, Lieber Passant,

sie sind Zeuge oder Zeugin des heute stattfindenen antirassistischen Radioballetts in Hamburg. Kurz zusammengefasst besteht ein Radioballett daraus, dass die Verhaltensweisen einer zerstreuten Menschenmenge per Radio koordiniert werden. Im Radio wird eine Geschichte erzählt und einfache Handlungsvorschläge für die Hörer_innen bzw.

Teilnehmer_innen gegeben, wie etwa rückwärts Laufen, Springen, Drehen u.ä.. Zum Mitmachen bei diesem Ballett sind somit keine tänzerischen Fähigkeiten nötig. Es braucht allein ein aufmerksames Ohr und ein tragbares Radio mit Kopfhörern, welches auf FSK (93,0) eingestellt ist.

Durch ein Radioballet brechen mehrere Menschen gleichzeitig und in gleicher Form mit gesellschaftlichen Normen im öffentlichen Raum. Auf diesem Wege wird dieser genutzt um bei Passant_innen Irritationen zu wecken und hierdurch ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Das Radioballett setzt darauf, dass Menschen nach Erklärungen für „unnormales“ Verhalten suchen und sie auf diesem Wege erreichbar und sensibilisierbar für politische Themen werden. Durch das Radioballett wird gezielt eine andere als die üblichen Protestformen wie Demonstrationen und Kundgebungen genutzt, da sich viele Menschen kaum noch hierfür interessieren oder durch die häufige Kriminaliesierung der Teilnehmer_innen in den Medien gar abgeschreckt sind. Ohnehin werden solche Versammlungen als Form des politischen Protestes in der Hamburger Innenstadt mittlerweile häufig verboten.

Die Initiator_innen, die Künstler_innen-Gruppe „KAKI“, möchten die kreative Protestform des Radioballets einerseits nutzen, um die Teilnehmer_innen in ausgrenzende bzw. institutionell rassistisch besetzte Situationen zu bringen, die häufig den Alltag von Menschen mit Migrationshintergrund bestimmen. Hierdurch soll diese Ausgrenzung zumindest ausschnitthaft erfahrbar gemacht werden, wobei den VeranstalterInnen bewusst ist, dass es einem nicht wirklich betroffenen Menschen kaum möglich ist mehr als einen oberflächlichen Eindruck davon zu gewinnen. Weiteres bzw. vorrangiges Ziel ist es außerdem, Passant_innen auf das Thema Rassismus, insbesondere in institutionalisierter Form, aufmerksam zu machen und dafür zu sensibilisieren, wieviele solcher Rassismen es in unserer Gesellschaft gibt.

Im Rahmen des heutigen Radioballetts wird die Geschichte von einem Menschen erzählt, der in die Brd kam, um sich hier eine neue Existenz aufzubauen. Dieses Vorhaben scheitert am repressiven ausländerrechtlichen System dieses Landes und führt zu seinem Tod.

Die hier erzählte Geschichte stellt für viele Menschen die bittere Realität dar:
In den Letzten 14 Jahren wurden 351 Fälle von Migrant_innen dokumentiert, die durch staatliche Maßnahmen der BRD ums Leben kamen. Im Jahr 2006 sind bisher 12 Fälle bekannt geworden. Die Dunkelziffern liegt mit großer Wahrscheinlichkeit weitaus höher. Die Ursachen für ihren Tod sind unterschiedlich.

Menschen werden nach der Abschiebung im Herkunftsland getötet.
Menschen sterben durch Misshandlungen während der Abschiebung.
Menschen sterben durch das Verwehren von medizinischer Behandlung.
Menschen kommen bei abschiebeunabhängigen Polizeimaßnahmen wie Brechmitteleinsätzen ums Leben.
Menschen werden getötet an den EU-Außengrenzen, so geschehen u.a. in den spanischen Exklaven Ceúta und Melilla in Nordafrika.
Menschen begehen Selbstmord, weil der psychische Druck, die Angst vor der drohenden Abschiebung unerträglich ist.
Die Toten sind der grausame Ausdruck eines Systems von Entrechtung und Ausgrenzung, welches Sondergesetze für Menschen festschreibt, die keinen deutschen Paß haben. Die faktische Abschaffung des Asylrechts 1993 und die immer zahlreicheren Einschränkungen aller anderen Möglichkeiten auf einen Aufenthaltstitel in der Brd, machen es für die Meisten fast unmöglich eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen.

Im letzten Jahr wurden nur 304 Asylanträge positiv entschieden - das sind unter 1,1% aller gestellten Anträge. Dem gegenüber wurden im gleichen Jahr ca. 3000 bereits erteilte Asylanerkennungen widerrufen. Die große Mehrheit der Personen, deren Asylantrag abgelehnt oder widerrufen wird, werden abgeschoben, oder müssen ohne sicheren Aufenthaltsstatus unter ständiger Androhung der Abschiebung leben.

Aus einer 2006 verfassten Studie der Beratungsstelle Fluchtpunkt und der Universitätsklinik Eppendorf geht hervor, dass von Kindern, die mit einer Duldung oder einem anderen unsicheren Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, also Menschen die dauerhaft von Abschiebung bedroht sind, 19,6% nach wissenschaftlichen Kriterien als suizidgefährdet gelten. Dabei ist ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Suizidgefährdung und der Dauer eines unsicheren Aufenthaltsstatus zu erkennen.
Menschen mit einem unsicherem Aufenthaltsstatus dürfen zudem in der Regel nicht arbeiten, sie haben einen eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt.
Sie werden zum Teil gezwungen in Lagern zu leben, die in der Regel sehr abgeschieden im Wald eingerichtet werden.
Für sie gilt die sogenannte Residenzpflicht. D.h. Menschen mit den aufenthaltsrechtlichen Stati der Duldung oder Aufenthaltsgestattung dürfen ihren Landkreis nicht verlassen. Hierdurch wird ihre Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt und sie werden sozial isoliert.

Dies sind nur einige der ausländerrechtlichen Bestimmungen, die verantwortlich für die prekären Lebensbedingungen von Migrant_innen sind. Neben diesem institutionalisierten Rassismus werden Migrant_innen tagtäglich mit mit den Rassismen der sogenannten „aufrechten deutschen Bürger_innen“ konfrontiert. Folge von all dem sind eine Vielzahl an Einzelschicksalen, wie z.B. der Tod einer Migrant_in, wie er in diesem Radioballett dargestellt wird.

V.i.S.d.P.
KAKI Kollektiv Antirassistischer KünstlerInnen
Creative Commons-Lizenzvertrag Dieser Inhalt ist unter einer
Creative Commons-Lizenz lizenziert.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Zeige die folgenden 6 Kommentare an

Schöne Aktion — Hallo

warum — muss

tolle aktion! — lulatsch

wer? — interesiert

@interessiert — .-.

@ Anmerkungen — Heyerdahl