24C3: Die Wahrheit und was wirklich passierte

immer noch nicht akkreditiert 30.12.2007 01:55 Themen: Bildung Indymedia Kultur Netactivism
Auf dem 24C3 erläuterten heute Frank Rieger und Ron, dass jede Geschichte vier Seiten habe: Deine Seite, Ihre Seite, die Wahrheit und das, was wirklich passiert ist. Eine Vorstellung der soziologischen Theorie des Sozialkonstruktivismus.
Eine universelle "Wahrheit" gibt es nicht, Wahrheit ist statt dessen sozial konstruiert. "Die Wahrheit ist nicht einfach, was man denkt das sie ist; sie ist genauso die Umstände in denen sie erzählt wird, sowie wem, warum und wie sie erzählt wird" wusste schon der tschechische Schriftsteller und Politiker Václav Havel.

Auf dem Weg einer Nachricht verändert sich die "Wahrheit" zwangsläufig bei jeder Station, über den diese geht, weil immer eine andere Perspektive zu ihr eingenommen wird. Als greifbares Beispiel führten die Hacker eine Informationskette an, von einem visuellen Bild der realen Welt über eine aufgenommene Fotografie, ein entwickeltes Foto, eine gescannte Version davon und als letztes wiederrum ein Ausdruck. Auf jeder Station kommt etwas neues heraus, ein Prinzip das im Kindergarten "Stille Post" hiess und heute als "Medienökonimie" bezeichnet wird.

Die Referenten fragten nun das Publikum, wer an folgende "Wahrheiten" glaube: dass die Terroranschläge am 11. September 2001 so passiert sind wie es im Spiegel stand, die bemannte Mondlandung von Apollo 11 Ende der 1960er Jahre, sowie die Ermordung von RAF-Mitgliedern in der Todesnacht von Stammheim. Anscheinend glaubte nur eine Minderheit des Publikums diese scheinbaren Wahrheiten, aber viele der Anwesenden waren wohl auch unentschlossen.

Provokativ wurde als nächstes gefragt, ob es überhaupt eine Rolle spielt, was wirklich passiert ist? Eine Antwort im Publikum war "ja, um daraus eigenes Denken und Handeln abzuleiten." Die Antwort auf dem Podium war auch bejahend, weil es nämlich andere Leute gibt, die das selbe glauben.

Damit wurde auch der Unterschied deutlich zwischen der Wahrheit und dem, was wirklich passiert ist. Wahrheit ist eben nicht zwangsläufig das selbe wie das, was wirklich passiert ist, sondern vielmehr die Geschichte, die sich im allgemeinen Bewusstsein durchsetzt. Der US-amerikanische Science-Fiction-Schriftsteller Bruce Sterling bezeichnete diese Wahrheit der Allgemeinheit in seinem Buch Zeitgeist auch als "major consensus narrative".

Auf den Punkt gebracht gewinnt bei diesem Wettkampf um das Bewusstsein der Massen in der Regel die beste Geschichte. Eine Geschichte muss sich erzählen lassen und verstanden werden können. Ein Beispiel einer guten Geschichte ist eine, die ein Erzähler nach drei Whiskey noch erzählen kann, ein Zuhörer nach drei Whiskey noch versteht und an die er sich am nächsten Morgen noch erinnern kann. Zu komplexe Sachverhalte werden selten in ihrer Gesamtheit verstanden und prägen sich nicht gut ein, pointierte Schlagzeilen hingegen schon. Dieses Phänomen veranlasste Helmut Kohl im Jahr 1994 zu der Aussage: "Das ist eine klassische journalistische Behauptung. Sie ist zwar richtig, aber sie ist nicht die Wahrheit."

Ron und Frank hatten in den vergangegen Jahren Gelegenheit diese Arbeitsweise der Massenmedien selbst zu erleben. Als Pressesprecher des CCC haben sie oft Sachverhalte den selben Reportern mehrmals erzählt. Einmal so, wie sie es für inhaltlich korrekt hielten und dann noch einmal für die Allgemeinheit verständlich. Beispielsweise beim Frühstücksfernsehen sollten sie es sogar noch ein drittes Mal vereinfacht darlegen und zwar "für unser Zielpublikum", so die Journalisten. Die jeweiligen Sachverhalte waren so in der Auswirkung entweder kurz und einfach, oder eben wahr.

In vergangegen Epochen und Dynastien war es den Referanten nach noch relativ einfach eine Wahrheit zu verbreiten, als Beispiele wurden das Römische Reich und die Kreuzzüge genannt. Im Gegenteil dazu gibt es heute mit der zunehmenden globalen Vernetzung und dem Internet einen ersten Gegentrend. Im Zeitalter einer "global audience" können alle Menschen mit Zugang zu modernen Kommunikationssystemen Informationen und Nachrichten von verschiedensten Quellen und Orten erhalten. Mit dieser Fülle an unterschiedlichen Sichtweisen kann man sich heutzutage komplett aussuchen, an was man glaubt und gleichzeitig eine grosse Zahl anderer Menschen finden, die das genauso sehen. Dadurch entstehen Communities, die sich komplett von der "major consensus narrative" Wahrheit abkapseln. Die Fülle an Verschwörungstheorien im Internet ist das beste Beispiel dafür.

In der aktuellen Informationsgesellschaft baut sich also jeder seine eigene Realität selbst zusammen. Eine Auswahl der Quellen und Einflüsse findet in eigener Verantwortung statt. Jeder Mensch ist für die daraus resultierenden Handlungen selbst verantwortlich.

Als Fazit mahnten die CCC-Veteranen an, eine Sinnesschärfung zu entwickeln, um zwischen der Wahrheit und dem, was wirklich passiert ist unterscheiden zu können. So soll man versuchen, auf die eigentlichen Quellen einer Nachricht selbst zurück zu gehen und das Original zu lesen. Der Weg beispielsweise einer wissenschaftlichen Studie über die Zusammenfassung für Entscheider, die Pressemitteilung, einen Zeitungsartikel und ein drittes Medium, in dem nur noch steht "Amerikanische Wissenschaftler haben festgestellt..." lässt erkennen, dass am Ende nichts anderes als bei der stillen Post heraus kommen kann. Falls das Auffinden der Original-Quellen nicht möglich ist, soll man wenigstens verschiedene Seiten betrachten, also verschiedene Wahrheiten über das, was wirklich passiert ist.

Ebenso ist nichts heilsamer, als gelegentlich einmal aus dem eigenen Weltbild auszubrechen.
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Ergänzungen

nichts ist so wie es scheint

ist bekannt 30.12.2007 - 15:00
eine ideotie die einem kopf und kragen kosten kann ist die existentielle frage. zur wahrheit gehört eben auch die eigene wirklichkeit dazu die mehr oder weniger gut ausgebildet sein kann. deshalb würde ich die distanzierte objektive betrachtung (erfahrung) eher der wahrheit zuschreiben, die subjektive persönliche betrachtung (erfahrung) der wirklichkeit. der zwischenraum dazwischen gehört eher dem glauben an, der sich je nach dem extrem ändern kann. Die Wahrheit sollte niemals über die wirklichkeit der individuen erhoben werden. das ist die wahrheit in wirklichkeit.

Intersubjektivität

Rashomon 30.12.2007 - 18:42

Gibt es Wahrheit?

mensch 31.12.2007 - 01:15
Auch wenn Subjektivität direkte Wahrnehmung wohl unmöglich macht und so interessant es auch klingt, das "was wirklich passiert ist", wie du es nennst, darf nicht einfach vergessen werden.
Es sind in den letzten Jahren viele Konstruktivistische Theorien entstanden, die die Gesellschaft in viele unversöhnliche Einzelteile zerlegen, jedoch steht und fällt linke Theorie mit dem Wahrheitsbegriff. Wenn es keine Wahrheit mehr gibt, also z.B. "Es hungern und sterben Menschen" (jaja, polemisch) nicht mehr als Wahr oder falsch eingestuft werden kann, kann es auch keine umfassende Lösung geben.
Adorno ist einer der wichtigsten modernen Philosophen, der an dem Wahrheitsbegriff festgehalten hat, auch um sowas zu verhindern.

Es ist natürlich wichtig differenziert an Dinge heranzugehen und nicht eine Sicht als "die einzig Wahre" abzustempeln. Aber davon auszugehen, dass es Wahrheit nicht gibt, oder es gänzlich unterschiedliche Wahrheiten für unterschiedliche Menschen gibt, ist gefährlich.
(Konsenstheorie)

download funzt nicht

nanananana 31.12.2007 - 02:11
aber mirrors und andere formate gibt es auf  http://events.ccc.de/congress/2007/Recordings

"Schon unser Vokabular ist parteiisch"

Joris Luyendijk 14.01.2008 - 15:19
Die Nachrichtenindustrie schafft eine künstliche Medienwelt, die nichts mit der realten Welt gemeinsam hat, meint der holländische Auslandsreporter Joris Luyendijk.

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