Tod des Anarchisten Guiseppe Pinelli

analyse, kritik & aktion 16.12.2007 00:04 Themen: Repression Weltweit
In der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember 1969 wurde der Anarchist Guiseppe Pinelli ermordet. Er stirbt während eines Verhörs der Staatspolizei, das im Zimmer des Commissario Luigi Calabresi geführt wurde. Die ihn verhörenden Polizisten warfen ihn aus dem Fenster. Pinelli wurde, wie weitere 150 andere Anarchisten und Mitgliedern der außerparlamentarischen Linken, nach dem verheerenden Massaker von der Piazza Fontana am 12. Dezember verhaftet. Der Anschlag geht als "stragi di stato", als Staatsmassaker, in die italienische Geschichte ein. Faschistische Militante zündeten in Zusammenarbeit mit christsozialen Regierungskreisen, Nationalisten, Mitgliedern der Freimaurerloge "Propaganda Due" und dem Dienst Gladio seit April 1969 mehrere Bomben. Der Mord an Pinelli wurde nie aufgeklärt!
Am 12. Dezember explodiert vor der Geschäftsstelle der Banca Nazionale dell’Agricoltura an der Piazza Fontana in Mailand eine Bombe. 14 Personen sterben sofort, zwei im Krankenhaus. Über hundert werden verletzt. Weitere Bomben detonierten in Rom in einem Verbindungsgang der Banca Nazionale di Lavoro und zwei am "Altar des Vaterlandes", an der Piazza Venezia. Siebzehn Personen werden in Rom verletzt. Die Bomben des 12. Dezember sind der Höhepunkt einer Anschlagsserie, die am 25. April, am Tag der "Befreiung vom Faschismus", begann. Auf einer Mustermesse in Mailand explodierte im Frühjahr des Jahres 1969 vor dem FIAT Pavillon ein Sprengsatz. Eine zweite Bombe zerstörte eine Wechselstube der Banca Commerciale Italiana in der Nähe des Hauptbahnhofes. In der Nacht vom 8. auf den 9. August knallte es wieder. In Eisenbahnzügen detonierten 8 von 10 Sprengsätzen. Es werden jedesmal Passanten und Angestellte verletzt.

Die Repressionswelle nach den Anschlägen ist immer dieselbe. Die Staatspolizei verhaftet willkürlich zahlreiche bekannte Anarchisten, freie Gewerkschafter, Marxisten, Kommunisten und andere Protagonisten der außerparlamentarischen Linken. Hunderte landen im Gefängnis. Die Verfahren werden verschleppt, wobei die Inhaftierten im Gefängnis ausharren. Für die Linke ist schnell klar, dass hinter den Anschlägen die faschistischen Kreise um den "Ordine Nuovo", die bürgerlich-nationale Freimaurerloge "Propaganda Due", christsoziale Regierungskreise, weitere Altfaschisten und Bürgerliche stecken. Die Konspiration sollte einen Linksruck in der italienischen Gesellschaft verhindern und die Machtübernahme durch die Christdemokraten durch die "Strategie der Spannung" gewährleisten. Zu diesem Zweck opferte der Staat am 12. Dezember 16 Menschen. Die Übergriffe des Staates auf die eigenen Bevölkerung und die Linke im besonderen geschahen planvoll, konstruiert und totalitär. Die Eskalation am 12. Dezember und die Ermordung Pinelllis markierte den Wendepunkt in der Auseinandersetzung des Staates mit der Linken. Sie begann sich zu wehren. In der Folge starben sowohl auf linker, auf rechter, aber auch auf staatlicher Seite Dutzende Opfer.

Guiseppe "Pino" Pinelli wurde am 28. Oktober 1928 in einem Arbeitervorort in Mailand geboren. In den 40iger Jahren unterstützte er die Resistenza, die um Mailand operierenden anarchistischen Partisanen, als Kurier. Nach dem Krieg organisierte er sich zunächst in der Libertären Jugend (Gioventù Libertaria). Im Jahre 1968 nennt sich die Organisation in Bandiera Nera (Schwarze Fahne) um. 1965 organisierte er den Circolo Sacco & Vanzetti, der sich nach der Räumung seiner Örtlichkeiten in neuen Räumen als Circolo Ponte della Ghisolfa neu konstituierte. Im Frühjahr 1969 gründete er mit anderen Unterstützern nach Vorbild des anarchistischen Schwarzen Kreuzes (siehe www.anarchistblackcross.org) den "croce nero", der sich um die nach den Anschlägen Inhaftierten kümmerte. Als leidenschaftlicher Leser und Autodidakt versorgte er die Gefangenen mit Büchern, Magazinen und brachte Briefe der Familienangehörigen. Deshalb war er auch in polizeilichen Kreisen durchaus bekannt und anerkannt. Pinelli war Eisenbahner, verheiratet und hatte zwei Mädchen.

Pinelli wird am 12. Dezember verhaftet. Er folgt dem Polizeiauto der Staatspolizei aufs Revier, das er nicht mehr lebendig verlassen wird. Die Verhaftungen werden vom ehemaligen Mussolini Vertrauensmann und stellvertretendem Polizeipräsidenten Marcello Guida und dem obersten Staatspolizisten Commissario Luigi Calabresi geleitet. Pinellis Verhör zieht sich über Tage. Als prominente Persönlichkeit der anarchistischen Szene in Mailand soll er dazu gebracht werden seine Kameraden zu belasten. Die anderen Inhaftierten wurden zumeist am 14. Dezember entlassen oder aus dem Präsidium verlegt. Pinelli und der konstruierte Hauptschuldige Valpreda, am Morgen des 15. Dezember verhaftet, verbleiben im Präsidium. Am Abend des 15. Dezember verhört Calabresi Pinelli höchstpersönlich in seinem Zimmer zusammen mit 5 weiteren Beamten. Kurz vor Mitternacht geht im Krankenhaus aus dem Präsidium ein Notruf ein. Kurz danach fällt Pinelli aus dem Fenster. Es soll ein Selbstmord gewesen sein. Er stirbt! Sein Leichnam ist grün und blau geschlagen. Der Kopf hat unzählige Schnittwunden. Sieht so ein Selbstmord aus? Und warum?

Trotz des verhängten Ausnahmezustand, der jede politische Demonstration verbot, treffen sich zu Pinos Beerdigung 3.000 Personen. Die Mitglieder des Circolo Ponte della Ghisolfa bezichtigen den Staat das Massaker angerichtet zu haben und es nun den Linken in die Schuhe schieben zu wollen. Commissario Finestra, wie Luigi Calabresi nun genannt wird, und seine Staatspolizisten werden des Mordes beschuldigt. Am 17. Mai 1972 fordert die Rache ihr erstes Opfer. Calabresi wird auf offener Strasse von Unbekannten erschossen. Später folgen ihm weitere an der Vertuschung des Mordes an Pinelli Beteiligte.

Die „Strategie der Spannung“ paralysierte Italien bis weit in die 90iger Jahre. Die Umstände um die Bomben des Jahres 1969 konnten erst Jahrzehnte später aufgeklärt werden, was jedoch nicht heißt, dass juristische Konsequenzen gezogen wurden. Im Gegenteil, die vermeintlichen, eher skandalös Inhaftierten und Beschuldigten am Tode von Commissario Finestra - Adriano Sofri und Giorgio Pietrostefani - sitzen bis heute im Knast. Ovidio Bompressi wurde 2006 begnadigt. Die beiden anderen weigern sich unschuldig ein Gnadengesuch zu stellen. Der Mörder wurde durch eine Briefmarke geehrt und seit diesem Jahr läuft ein Seligsprechungsverfahren beim Vatikan.

Pinellis Tod ist Anfang und Ende des Staatsterrors gegen links und gegen die eigene Bevölkerung. Die staatliche Taktik der „Strategie der Spannung“ ist bis heute auch außerhalb von Italien akut. Auch die alten Strukturen, der konspirativen Zusammenarbeit des Staates mit Faschisten, den Diensten und kirchlichen Einrichtungen ist bis heute aktuell. Die Eskalation von staatlicher Seite begann nicht erst mit dem 11. September und den Exzessen in Seattle und Genua. Auch in Deutschland fand sich mit Wolfgang Schäuble ein würdiger Epigone der „Strategie der Spannung“. Wahrscheinlich ging er beim „Propaganda Due“-Mitglied Berlusconi in die Lehre. Der G8 Gipfel in Heiligendamm war nur der erste Schritt zur Militarisierung der Gesellschaft. Willkürliche Verhaftungen mit konstruierten Beweisen nehmen wieder zu. Pinelli wurde ermordet! Er starb im Knast! Wie so viele andere.......


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Ergänzungen

trotzdem guter Beitrag

egal 16.12.2007 - 06:33
Die Verantwortlichen an den Bombenanschlägen im Staatsapparat und der Neofaschistenscene wollten nicht einen Linksruck verhindern, sondern - je nach politischem Standpunkt - einem starken Staat, bzw. einen faschistischen Staatstreich oder einen Staatstreich der Militärs herbeibomben - siehe "der schwarze Prinz" Borghese. Ach fanden damals Staatsstreiche der Militärs in den NATO-Ländern Griechenland und Türkei statt. Das Nato-Land Portugal war noch eine eine faschistische Präidialregierung. Und alle arbeiteten eifrig mit BRD-Politikern, -Militärs oder Geheimdienstlern zusammen.
Trotzdem guter Beitrag gegen das Vergessen und die Manipulation der Vergangenheit durch die Herrschenden.

akustische ergänzung

mayra 17.12.2007 - 14:14
literarische aufarbeitung bei dario fo: "zufälliger tod eines anarchisten"

kleine Anmerkung

Entdinglichung 18.12.2007 - 16:00
bleibt anzumerken, dass es sich bei Adriano Sofri und Giorgio Pietrostefani nicht um irgendwen sondern um führende Persönlichkeiten der italienischen 68er-Bewegung und zum Zeitpunkt der Tötung von Calabresi um zwei Leitungsmitglieder von Lotta Continua, der damals grössten Organisation der radikalen Linken in Italien handelt, an welchen der Repressionsapparat sich rächt, da Sofri und Pietrostefani in ihrer Tätigkeit als Journalisten damals die ganze Justizfarce um die Ermordung Pinellis und die Inhaftierung Valpredas mit aufgedeckt haben; Sofri ist inzwischen politisch in die Mitte gerückt, ihn einzusperren würde auf BRD-Verhältnisse bedeuten, bspw. Joschka Fischer o.ä. wegzusperren

Lesenswert zum Thema: Carlo Ginzburg: Der Richter und der Historiker. Überlegungen zum Fall Sofri. Berlin 1991

Freiheit für Adriano Sofri und Giorgio Pietrostefani und alle anderen politischen Gefangenen