Frankreich: Proteste gegen Hochschulreform

helge 24.11.2007 20:52 Themen: Bildung Repression Soziale Kämpfe Weltweit
In Frankreich wächst seit Semesterbeginn der Protest gegen das Gesetz für die „Freiheit und Verantwortung der Universitäten“, kurz LRU (La loi relative aux libertés et responsabilités des universités). Das Gesetz soll allerdings nicht die wissenschaftliche Freiheit fördern, sondern die Verwaltung der Hochschulen liberalisieren. Am 23.11.07 demonstrierten ca. 5.000 Studenten in Paris – in ganz Frankreich waren es 20.000 - gegen die Hochschulpolitik der Regierung unter Präsident Sarkozy.
Das Gesetz LRU vergrößert u.a. die Macht des Universitätspräsidenten, schränkt die Beteiligung von Studenten ein, könnte die Unabhängigkeit gegenüber der Privatwirtschaft gefährden und verursacht verstärkt ein Zweiklassen-System von reichen und armen Universitäten. Die Ministerin für höhere Lehre und Forschung, Mme Valérie Pécresse, bezeichnet das Gesetz hingegen als „Renaissance der Universitäten“ ( http://www.enseignementsup-recherche.gouv.fr/cid20465/tribune-valerie-pecresse-dans-liberation.html).

Mitten in den Semesterferien, am 11. August 2007, wurde das Gesetz LRU im Schnellverfahren verabschiedet. Die Studentenproteste organisierten sich deshalb erst im Oktober. Sie konnten allerdings auf die Strukturen und Erfahrungen von 2005 zurückgreifen, so dass nicht all zu lange mobilisiert werden musste. Damals gab es wochenlange Proteste gegen die Lockerung des Kündigungsschutzes für Jugendliche (CPE), die schließlich dazu führten, dass die Regierung einen Rückzieher machen musste ( http://de.indymedia.org/2006/05/148354.shtml).

Mittlerweile wird mehr als die Hälfte der Universitäten in Frankreich von Studenten bestreikt ( http://paris.indymedia.org/article.php3?id_article=89951&id_mot=83). Dazu werden Eingänge blockiert, damit keine Kurse stattfinden können. Einerseits als direkte Protestform, andererseits um allen Studenten die Möglichkeit zu geben sich an der Bewegung zu beteiligen. Seit den neuen Bachelor-/Masterstudiengängen gibt es eine hohe Anzahl von Pflichtstunden verbunden mit obligatorischer Anwesenheit, so dass Vielen keine Zeit bleibt.
Über die Blockade wird meist in Vollversammlungen per Hand abgestimmt. An der Universität Paris X in Nanterre fielen die Ergebnisse z. T. recht knapp aus. Die Legitimität der Vollversammlungen wurde deshalb von einigen in Frage gestellt. Da viele Studenten auf keinen Fall ihre Kurse verpassen wollen, führte die Blockade zu einer gewissen Spaltung (die rechte Studentengewerkschaft UNI hetzt z. B. gegen die Blockaden:  http://www.uni.asso.fr). Dies ging so weit, dass am Dienstag den 13.11.07 die nationale Polizei (CRS) gerufen wurde, um die Blockade auf dem Campus auf zu lösen. Der Unipräsident hatte die „flics“ gerufen, um Kämpfe zwischen den „Blockierern“ und den „Anti-Blockierern“ zu verhindern. Diese Darstellung wird von vielen Beobachtern in Frage gestellt – die angespannte Situation zwischen den Studenten sei keinesfalls gefährlich gewesen ( http://www.universite-democratique.org/spip.php?article188). Als die Polizei dann gewaltsam gegen die protestierenden Studenten vorging, die in einer Kette vor dem Rechtsgebäude standen, wurde sie von einer Gruppe von „Anti-Blockierern“ mit Sprüchen wie „Allez les bleus!“ angefeuert (Video:  http://www.dailymotion.com/video/x3gy59_manif-a-nanterre).

Die protestierenden Studenten kritisieren an dem Gesetz vor allem die gestärkte Rolle der Privatwirtschaft im Bereich der Bildung. Das Prinzip der Stiftungen führe dazu, dass einige Universitäten besonders attraktiv sind für das Geld von Unternehmen, wohingegen andere im Wettbewerb zurückbleiben. Außerdem sei ein wirtschaftlicher Einfluss auf die Forschung nicht auszuschließen. Auf Grund der privaten Investitionen ist es außerdem zu befürchten, dass sich der Staat aus der Finanzierung zurückzieht. Dies kann nicht nur zu einem Ungleichgewicht zwischen „Elite-Unis“ und „Billig-Hochschulen“ führen, sondern auch die vermeintlich weniger rentablen Fachbereiche wie z. B. die Geisteswissenschaften in ihrer Existenz gefährden. Der Abgeordnete der rechten Partei UMP Benoist Apparu, der im Parlament für das Gesetz zuständig war, sieht die wissenschaftliche Freiheit in keinster Weise gefährdet. Er stellt sich die Zusammenarbeit von Unternehmen und Universität allerdings so vor, dass diese gemeinsam Produkte für den Markt kreieren ( http://www.dailymotion.com/video/x3itop_apparu_news).
Die Gewerkschaft der Lehrkräfte Snesup teilt die Befürchtungen der Studenten und kritisiert ebenfalls die maßlose Konzentration der Befugnisse des Universitätspräsidenten. Dieser kann z. B. nahezu willkürlich über Anstellungen von Universitätsmitarbeitern entscheiden. Neben dem Präsidenten hat der Verwaltungsrat der Universität den größten Einfluss. Seine Zusammensetzung wird durch das Gesetz LRU dahingehend verändert, dass die Zahl der externen Mitglieder (z. B. aus der Wirtschaft) erhöht wird. Diese werden auch vom Präsidenten berufen. Die Mitbestimmungsrechte der Studenten und Dozenten werden hingegen beschnitten ( http://www.universite-democratique.org/spip.php?article119).
Der Protest richtet sich aber auch gegen die Studienbedingungen insgesamt. Die Universitäten sind nach wie vor notorisch unterfinanziert. Deren Finanzautonomie durch das Gesetz LRU könnte dazu führen, dass die Universitäten selber eine Art Studiengebühren einführen - auch wenn Regierungsvertreter dies vehement bestreiten.

Neben der spezifischen Situation in Frankreich oder Deutschland ist es wichtig die Entwicklung auf der EU-Ebene zu beachten. Durch den Bologna-Prozess wurde die Hochschulpolitik der europäischen Länder angeglichen, so dass viele Entwicklungen parallel verlaufen.
Die Tendenz ist mehr Wettbewerb zwischen, und eine Anpassung an den Arbeitsmarkt in den Universitäten. Generell ist zu beobachten, dass das staatliche Engagement im Bereich der Hochschulen stagniert oder zurückgeht, wohingegen die Mechanismen der freien Marktwirtschaft zunehmend Einfluss gewinnen.
In den EU-Mitgliedstaaten hat es oftmals den Anschein, als wenn nur die Bestimmungen der EU ausgeführt werden, an denen man nichts ändern könne. Tatsächlich haben die nationalen Regierungsvertreter diese selber mit entschieden. Kritik und Protest müssen deshalb bereits auf der EU-Ebene ansetzen und sich transnational verknüpfen.

Quellen:

 http://paris.indymedia.org
 http://www.universite-democratique.org
Seite des Ministeriums für höhere Lehre und Forschung zum Gesetz LRU:  http://www.nouvelleuniversite.gouv.fr
Creative Commons-Lizenzvertrag Dieser Inhalt ist unter einer
Creative Commons-Lizenz lizenziert.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

einige Zahlen und Daten

Entdinglichung 26.11.2007 - 09:50
zu den letzten Demos und Streiks gibt es (in englischer Sprache) hier:  http://internationalviewpoint.org/spip.php?article1364