Anmerkung der Moderationsgruppe: Trotz der Bitte, de.indymedia.org zum Veröffentlichen von eigenen Berichten und selbst recherchierten Reportagen zu nutzen, wurde hier ein Text aus einer anderen Quelle, ein Flugblatt, eine Presseerklärung oder eine Stellungnahme einer Gruppe reinkopiert.
Es ist nicht das Ziel von Indymedia ein umfassendes Infoportal mit Kopien möglichst vieler vermeintlich wichtiger und lesenswerter Texte anzubieten. Indymedia will eine Plattform für engagierte MedienmacherInnen und ihre eigenen Inhalte bieten. Die strategische Zweitveröffentlichung von Texten gehört nicht zu den Zielen dieses Projektes.
Bitte lest zu diesem Thema auch die Crossposting FAQ.

Futter für Chavez-Hasser

Chavista 21.11.2007 02:23
Chávez ist bisher der Garant der Fortsetzung und Vertiefung der Transformation, er
sorgt dafür, dass die verschiedenen linken Strömungen nicht übereinander
herfallen und sich zerfleischen, wie in der Linken üblich. Und er ist - bei
aller Widersprüchlichkeit - der Garant dafür, dass die Basisbewegungen nicht
von der konstituierten Politik verdrängt werden. Das stößt in der Tat auf,
aber revolutionäre Prozesse sind eben - vor allem in so komplexen
Gesellschaften wie Venezuela - voller Widersprüche und entsprechen nicht
dem, was sich Intellektuelle am Schreibtisch überlegen oder kleine linke
Zirkel aus Deutschland gerne sehen möchten.
Transformation ohne Zentrum


Von Dario Azzellini

aus Analyse & Kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis Nr. 522
(16.11.2007)

Venezuela: Ein revolutionärer Prozess voller Widersprüche

Das Bemühen der deutschen Linken ist vehement, eine linke Opposition in
Venezuela zu suchen. Genau das verhindert jedes Verständnis des dortigen
Transformationsprozesses. So findet sich von FAZ bis taz, und bisweilen auch
im ak, der gleiche bürgerliche Mainstream. Alte linke Grundsätze einer
materialistischen Analyse, Betrachtung der Klassenverhältnisse und die
Unzulässigkeit von Verallgemeinerungen, sind bei Venezuela schnell
vergessen. So kommt es dann zu realitätsfernen oder dekontextualisierten
Projektionen, wie auch bei Albert Sterr (ak 520): "Wir müssen zur Kenntnis
nehmen, dass es in Venezuela gerade unter linken Intellektuellen viele gibt,
die mit dem Chavismus wenig oder gar nichts zu tun haben wollen."

Tatsächlich gibt es eine Vielzahl linker Intellektueller, die den Prozess -
unkritisch bis kritisch - unterstützen. Doch sie bekommen in der
internationalen Presse keinen Raum. Das Phänomen hingegen vermeintlich oder
einst linker Intellektueller, die sich der Rechten andienen, ist nicht neu
und nicht auf Venezuela beschränkt. Es gibt kaum ein besseres Beispiel als
Deutschland, wo kritische Intellektuelle immer wieder historische Momente
gewählt haben, um die Seite zu wechseln: "Wiedervereinigung", Golfkrieg,
Jugoslawienkrieg, Afghanistankrieg usw. und aus Lateinamerika sind dafür
z.B. Octavio Paz, Jorge. G. Castañeda, Vargas Llosa oder Joaquín Villalobos
bekannt. Diese Seitenwechsel sind bei epochalen Brüchen gang und gäbe.

Venezuela wies zudem auch viel Ähnlichkeit mit dem Mexiko der PRI auf: So
lange linke Intellektuelle keine aktive Opposition organisierten, bekamen
sie ihre Spielwiesen finanziert, wie kritische Unizeitschriften,
Kulturprojekte etc. Repression, Haft, Folter und Tod war denen vorbehalten,
deren linke Haltung über ein Lippenbekenntnis oder akademische Aktivitäten
hinaus reichte. Die Regierung Chávez hat genau diese Fressnäpfe gestrichen.
Und daran gewohnt, "für die Armen zu sprechen", stößt den Intellektuellen
nun auch auf, dass die Armen für sich selbst sprechen.

Viele die der Öffentlichkeit als linke Chávez-KritikerInnen präsentiert
werden, haben ihre Zeiten als Linke schon lange hinter sich wie z.B.
Ex-Guerillero Teodoro Petkoff. Um ihn als Linken darzustellen, muss seine
Rolle in den vergangenen 15 Jahren ausgeblendet werden: Er war von 1992-1998
Arbeitsminister der Regierung Caldera, liquidierte die Arbeitsgesetzgebung,
privatisierte Teile der Sozialversicherung und entwarf das
IWF-Strukturanpassungsprogramm.


Warum unterstützt die Armee in Mexiko nicht die Armen?


Sterr meint auch, es sei "ein bemerkenswerter (und bedenklicher) Umstand,
dass die bolivarianische Revolution an den großen Universitäten des Landes
nur geringe Unterstützung findet, und dies im Unterschied zu allen anderen
genannten linken Bewegungen Lateinamerikas". Solch eine Verallgemeinerung
überrascht. In der gleichen Logik könnte von Venezuela aus der
"bemerkenswerte und bedenkliche Umstand" formuliert werden, dass die Armee
in Mexiko nicht auf Seiten der Armen steht. Und welche sind die "größten
Universitäten"? Im gesamten alten öffentlichen Unisystem studieren 440.000,
in dem seit 2003 neu geschaffenen System der Bolivarianischen Universität
(UBV), inklusive des dezentralisierten Hochschulsystems Misión Sucre
330.000, und Hunderttausende weitere verteilen sich auf Privatunis und
diverse öffentliche und private Institute. An der UBV genießt der Prozess
eine uneingeschränkte Unterstützung.

Die meisten Studierenden der öffentlichen Unis (des alten Systems) gehören
zur Mittel- und Oberschicht, während die Privatunis, bis auf einige wenige
Eliteunis, von den Armen besucht werden. Dies ist die Folge der neoliberalen
Politik im Bildungssektor: Aufgrund der Einsparungen war das Niveau der
öffentlichen Schulen so niedrig, dass die AbgängerInnen die Zugangsprüfung
an den öffentlichen Universitäten nicht bestehen. Im Gegensatz dazu gelingt
dies der Mittel- und Oberschicht, die eine Privatschule bezahlen kann. So
versuchen arme Familien unter großen Opfern zumindest ein Kind an eine
Privatuni zu schicken.

Trotz der eindeutigen Klassenzugehörigkeit der meisten Studierenden
öffentlicher Universitäten, sind diese nicht mehrheitlich aktive
Oppositionelle. An einer landesweiten Studierendendemonstration gegen die
Verfassungsreform Ende Oktober in Caracas nahmen großzügig geschätzt 10.000
Personen teil, die meisten von drei privaten Eliteunis. Es sind die gleichen
StudentenführerInnen und Gruppen, die sich im Mai mit T-Shirts mit der
Aufschrift "Das Leben ist eine Telenovela" und die Erkennungsmelodie des
Privat-TVs singend gegen die Nicht-Verlängerung der Lizenz für
Antennenausstrahlung von RCTV wandten. Die gleichen, die seit 2006 von
Personal aus der US-Botschaft, Unternehmerverbänden und rechten Stiftungen
in Taktiken, medialem Auftreten, Rhetorik usw. geschult werden. Und sie
erklären stets, das Land vor dem Kommunismus retten zu müssen. Folglich
bewarfen sie am 8. November in San Cristóbal aus einer Demonstration heraus
das Büro der KP mit Molotowcocktails.

Am 7. November griffen oppositionelle StudentInnen nach einer Demonstration
in Caracas die Fakultät für Sozialarbeit der Zentraluniversität UCV mit
Steinen und Schusswaffen an, in der eine Versammlung von linken Studierenden
und Beschäftigten der UCV stattfand. Sie riefen "Wir werden euch lynchen"
und legten Feuer, um das Gebäude niederzubrennen. Bewaffnete Gewalt ist bei
diesen rechten Studierendenorganisationen üblich, nicht nur gegen die
erstaunlich zurückhaltende Polizei oder die Linke, sondern auch
untereinander. Am 2. November schoss eine studentische Oppositionsgruppe in
der Zulia-Universität in Maracaibo auf eine andere Oppositionsgruppe; es gab
eine Tote und elf Verletzte. In internationalen Medien wurde der Vorfall als
Konflikt zwischen Chavistas und Opposition dargestellt.

Mehrheitlich gegen den Prozess eingestellt sind die Rektoren der
öffentlichen Universitäten. Der Transformationsprozess verwandelt den Zugang
zu Hochschulbildung in eine nicht-elitäre Angelegenheit. Neben den typisch
kleinbürgerlichen Statusängsten nimmt dies den Rektoren zahlreiche
Einnahmequellen. Das betrifft nicht nur die gängige Praxis des Verkaufs von
Studienplätzen. So obliegt es z.B. einer Art Hochschulrektorenverband, neue
Fakultäten an öffentlichen Unis zuzulassen. Da aber die meisten Rektoren
Besitzer oder Teilhaber von Privatunis sind, die Juristen gegen saftige
Gebühren ausbilden, wurden seit 1958 keine neuen Jurafakultäten zugelassen.


Demokratie nicht als Zustand, sondern als Prozess


Die Verfassungsreform sieht vor, in den Unigremien ein Stimmenparität von
ProfessorInnen, Studierenden und Beschäftigten einzuführen (bisher wiegt
jede Professorenstimme wie 40 Studierendenstimmen). Eine Forderung linker
Hochschulpolitik, die von den Rektoren als Angriff auf ihre Autonomie
betrachtet wird.

Wer die Komplexität des venezolanischen Transformationsprozesses verstehen
will, muss zur Kenntnis nehmen, dass linke Kritik aus dem Prozess selbst
kommt. Angesichts der historischen Chance einer strukturellen Transformation
in Richtung Sozialismus und nach der jahrzehntelangen Erfahrung mit einer
mörderischen Demokratie, die mit die größten Ungleichheiten weltweit
produziert hat, stellt sich keine Linke außerhalb des Prozesses.

Die linke Kritik kritisiert aber ganz andere Punkte, als die bürgerliche
Presse und Albert Sterr. So hat sich das Parlament nicht "selbst
entmachtet", sondern hat Chávez gesetzgebende Vollmachten für 18 Monate
erteilt und die Bereiche definiert: Politische Verwaltung, Wirtschaft,
Soziales, Sicherheit und Verteidigung. Und jedes Gesetz kann von der
Nationalversammlung wieder verändert oder annulliert werden.

Dies ist der Versuch, den eigentlich unauflöslichen Widerspruch zwischen den
einerseits langen Zeiten partizipativer Basisdebatten und dem
venezolanischen Gesetzgebungsverfahren, die aufgrund der Befragung diverser
Sektoren sowie drei Lesungen im Parlament zwei Jahre dauern können, und der
Dringlichkeit bestimmter Gesetze zu lösen. So betrafen die bisher erlassenen
die Verstaatlichung der vormals privatisierten Telefon- und
Elektrizitätsunternehmen und der Schwerölvorkommen im Orinocobecken sowie
zwei Gesetze gegen Lebensmittelspekulation.


Chávez genießt das Vertrauen der Basis


Bezüglich der Verfassungsreform hat die Nationalversammlung den Entwurf von
Chávez diskutiert, alle 33 Artikelvorschläge überarbeitet und weitere 36
Artikel verändert. Dabei waren die Debatten durchaus kontrovers. Die Sorge
von Sterr ist diesbezüglich also verfehlt. Zu kritisieren ist vielmehr, dass
der Mechanismus mit dem die Nationalversammlung Vorschläge der Basis
aufgenommen hat, völlig undurchsichtig und die Zeit knapp war. Das hat die
Partizipation reduziert. Versteht man aber, wie in progressiven Ansätzen
üblich, Demokratie nicht als Zustand, sondern als Prozess, so war die
Debatte um die Verfassungsreform dennoch positiv. Wenn auch nicht alle,
diskutierten doch Hunderttausende in Basisorganisationen intensiv und
kontrovers. Dabei ging es um die Verankerung der Volksmacht, das
Weiterbestehen der bisherigen Verwaltungsinstanzen und ihr Zusammenspiel mit
den neuen Rätestrukturen, den Entwicklungsbegriff, geistiges Eigentum,
Nachhaltigkeit u.v.m.

Der vorliegende Reformentwurf hat zahlreiche Verbesserungen eingeführt wie
z.B. ein Sozialversicherungssystem für Beschäftigte des informellen Sektors,
die Verankerung der Rätestrukturen, das Verbot von Diskriminierung aufgrund
sexueller Orientierung. Allerdings beinhaltet er auch eine Stärkung der
Präsidial- und Staatsmacht. Diese widersprüchliche Entwicklung kennzeichnet
den bolivarianischen Prozess von Beginn an und ist auch Ursache ständiger
Debatten und Kritik der Basis.

Eine Konfliktlinie verläuft zwischen Basis und Verwaltung, die häufig noch
korrupt und ineffizient ist, die Erfüllung der eigenen Pflichten politisch
konditioniert, Prozesse behindert usw., allerdings lernt die Basis auch
zunehmend die Institutionen unter Druck zu setzen und sich Rechte zu nehmen.
Dabei ist sie keineswegs mehr so "molekular", wie sie es in den ersten
Jahren war. Einige Organisationen haben es zu einer bedeutenden
eigenständigen Stärke gebracht, wie etwa die Bauernorganisation Frente
Nacional Campesino Ezequiel Zamora (FNCEZ), die allein durchaus 20.000
Bauern nach Caracas mobilisiert und wiederholt Institutionen, Brachland,
Großgrundbesitz und sogar staatliche Agrarunternehmen besetzt. Dennoch
arbeitet sie selbstverständlich mit dem Staat und den Institutionen
zusammen.

Weitere Konflikte betreffen z.B. den Kohletagebau im Zulia oder
Fabrikbesetzungen (die von Teilen der chavistischen Verwaltung unterstützt
und von anderen abgelehnt werden). Allen Konflikten ist gemeinsam, dass sie
sich innerhalb der bolivarianischen Linken abspielen. Es ist eben ein
Prozess und der ist nicht linear, umso weniger, da es sich in Venezuela
nicht um eine Revolution einer Organisation handelte, deren GegnerInnen im
Kampf starben oder nach Miami flohen. Auch wurde kein Staatsapparat
zerschlagen bzw. das komplette Personal ausgetauscht. Es handelt sich um
einen Transformationsprozess ohne politisches Zentrum, mit unzähligen
Strömungen und in einem Land mit den größten sozialen Unterschieden, der
stärksten kulturellen Entfremdung, massivsten US-Orientierung und
Konsumhaltung aller lateinamerikanischen Staaten.

Dass die meisten von Chávez lancierten Initiativen aus der Basis stammen und
von ihm aufgenommen und verbreitet werden, darauf hat Malte Daniljuk (vgl.
ak 521) hingewiesen. Und genau das ist der Grund, weshalb die Basis die
Möglichkeit der Wiederwahl will, wie in der Verfassungsreform enthalten.
Niemand anderes genießt das Vertrauen der Basis in ihrer gesamten
politischen Breite. Das ist kritikwürdig und bedenklich, und wird auch in
Venezuela so thematisiert. Doch zugleich gibt es keine Alternative. Chávez
ist bisher der Garant der Fortsetzung und Vertiefung der Transformation, er
sorgt dafür, dass die verschiedenen linken Strömungen nicht übereinander
herfallen und sich zerfleischen, wie in der Linken üblich. Und er ist - bei
aller Widersprüchlichkeit - der Garant dafür, dass die Basisbewegungen nicht
von der konstituierten Politik verdrängt werden. Das stößt in der Tat auf,
aber revolutionäre Prozesse sind eben - vor allem in so komplexen
Gesellschaften wie Venezuela - voller Widersprüche und entsprechen nicht
dem, was sich Intellektuelle am Schreibtisch überlegen oder kleine linke
Zirkel aus Deutschland gerne sehen möchten.

Vom Autor ist im September 2007 die überarbeitete, erweiterte und
aktualisierte Neuausgabe von "Venezuela Bolivariana. Revolution des 21. Jahrhunderts" erschienen.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

Es gibt wirklich was zu kritisieren von links

ojito 21.11.2007 - 10:08



Dass es nicht nur Kritk an Chavez aus dem bürgerlichen Spektrum gibt, oder denjenigen, die den Rechten in die Hände spielen wollen, zeigt ein libertärer Zusammenschluss, der eine eigene Zeitung herausbringt und auch englische Texte zur Situation in Chavez-Land.
Besonders lesenswert die Analyse über die gestiegenen (Verdopplung) staatlichen Repressionen gegen Demonstrierende allein im Jahr 2006:  http://www.nodo50.org/ellibertario/english/repressionofpopularprotest.doc





 http://www.nodo50.org/ellibertario/english.html

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Zeige die folgenden 5 Kommentare an

indeed — tagmata

ich kann — diesen

ach — ja

@ja: erklär doch mal — sin embargo