Berlin: Wo ist eigentlich die Gedenktafel?

Anwohnerin 20.11.2007 17:14 Themen: Antifa
In Berlin-Friedrichshain sind in den letzten Jahren mehrere Gedenkzeichen zur Erinnerung an den Nationalsozialismus entwendet worden. Im Rahmen des Gedenkens an den 1992 von Neonazis ermordeten Antifaschisten Silvio Meier wiesen AnwohnerInnen gestern mit einer kleinen Aktion auf die fehlenden Gedenktafeln hin.
Friedrichshain hat eine bewegte Geschichte. Zur Zeit des Nationalsozialismus (1933-45) wurden viele MitbürgerInnen dieses Stadtteils von Nazis entrechtet, verhaftet, misshandelt, gefoltert und ermordet. Die Liste der Opfer ist lang: SozialdemokratInnen, GewerkschafterlerInnen, BürgerrechtlerInnen, KommunistenInnen, WiderstandskämpferInnen, Schwule, Lesben, JüdInnen und behinderte Menschen. Sie alle waren BewohnerInnen dieses Stadtteils bis sie durch den deutschen Faschismus zu niederwertigen Menschen degradiert wurden und ihre Misshandlung und Ermordung gesellschaftlich zum Teil gefordert oder von der Mehrheit zumindest stillschweigend hingenommen wurde.

Nach der Befreiung Deutschlands im Mai 1945 durch die Alliierten wurde von Angehörigen der Nazi-Opfer ein Gedenken etabliert, das es unmöglich machen sollte wieder im Namen von Volk und Rasse zu morden. Ein Bestandteil dieser Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit ist die Sichtbarmachung von Geschichte im alltäglichen Leben, in der Schule, in der Kultur und auf den Straßen. So wurden nicht nur ordentliche Grabstätten und Denkmäler errichtet sondern auch unzählige dezentrale Gedenktafeln und Stolpersteine, die durch ihre Präsenz im Straßenbild, mahnend und unvergesslich an den Nationalsozialismus im Alltag erinnern und Orte historisch markieren sollen. In Konkurrenz zu anderen Zeichen des öffentlichen Raums, Webebannern und blinkenden Schaufenstern repräsentieren Gedenktafeln gesellschaftliche Erinnerungsarbeit. Werden sie weniger, ist das ein Zeichen des Vergessens.

Deshalb muss die dauerhafte Konservierung von Geschichte erhalten und weiter ausgebaut werden. Meist sind es Geschichtsvereine und Opferorganisationen wie der VVN BdA (Verfolgte des Naziregimes / Bund der Antifaschisten), welche historische Recherchen veröffentlichen, Gedenktafeln herstellen und sich mit HauseigentümerInnen und den Bezirksämtern um die Anbringung auseinandersetzen. In Friedrichshain sind mindestens 13 Gedenktafeln von Unbekannten aus den Verankerungen gerissen und zerstört worden. Während sich die Bezirksregierungen größtenteils aus der dezentralen Gedenkarbeit zurückgezogen haben, obliegt es den AnwohnerInnen, den Vereinen, Gewerbetreibenen, den ZeitzeugInnen von damals und aktiven AntifaschistInnen dafür zu sorgen das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus zu erhalten und mitzugestalten.

Einige AnwohnerInnen nahmen ihre Verantwortung dafür wahr und brachten am 19.11.2007 provisorische Tafeln in mehreren Friedrichshainer Straßen an, um die entwendeten Tafeln teilweise zu ersetzen. Die Inschriften orientieren sich an den Originalen. Wie so oft ist selbst das Gedenken an den Nationalsozialismus der Finanzierbarkeit unterworfen, deshalb verdienen die Tafeln derzeit das Beiwort "provisorisch". Die Hoffnung besteht, dass andere Akteure sich diesem Beispiel anschließen und ordentliche Gedenktafeln an den Stellen anbringen.

Heute wie damals: Kein Vergeben, kein Vergessen..

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Die Tafeln im einzelnen

Barnimstraße, Ecke Weinstraße: „HIER STAND DAS FRAUENGEFÄNGNIS IN DEM ROSA
LUXEMBURG WEGEN IHRER REVOLUTIONÄREN GESINNUNG INHAFTIERT WAR“
Ehemaliges Frauengefängnis (1933-1945) für ca. 300 Widerstandskämpferinnen, letzte Station vor der Hinrichtung in Plötzensee, 1973 abgerissen

Colbestr.10: „HIER WOHNTE DER ANTIFASCHIST MAXIMILIAN KUBITZECK GEBOREN AM 31.12.1898 ERMORDET AM 3.10.1933“

Ebelingstr. 5: „IN DIESEM HAUS WOHNTE DER ANTIFASCHISTISCHE WIDERSTANDSKÄMPFER
ALFRED FUCHS GEB. 2.2.1905 VON DEN FASCHISTEN ERMORDET AM 2.9.1944 EHRE SEINEM ANDENKEN“
Gedenktafel für den parteilosen Alfred Fuchs, der als Soldat vom Kriegsgericht wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt wurde.

Gürtelstr. 20-24: „ZUM GEDENKEN AN DEN VERDIENTEN ARBEITERSPORTLER UND ANTIFASCHISTISCHEN WIDERSTANDSKÄMPFER KURT RITTER GEB. AM 31.12.1909 HINGERICHTET AM 28.8.1944 VORBILD UND MAHNER DER JUGEND“

Heidenfeldstraße 3: „IN DIESEM HAUS WOHNTE DER ANTIFASCHISTISCHE WIDERSTANDSKÄMPFER ERICH PRENZLAU GEB. 6.7.1895 VON DEN FASCHISTEN ERMORDET AM 25.9.1944 EHRE SEINEM ANDENKEN“
Führte die Widerstandsorganisation „Kampfbund“ an.

Richard-Sorge-Straße 10: „IN DIESEM HAUS WOHNTE DER ANTIFASCHISTISCHE WIDERSTANDSKÄMPFER HEINZ NAWROT GEB. AM 31.10.1910 VON DEN FASCHISTEN ERMORDET AM 11.4.1945 EHRE SEINEM ANDENKEN“
Gedenktafel für Heinz Nawrot, der sich in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft dem NKFD anschloß, Anfang April 1945 mit dem Fallschirm bei Templin abgesetzt wurde und bei einem Gefecht mit der SS umkam.

Richard-Sorge-Straße/Ecke Weidenweg: 1895-1944 DR. R. SORGE
Erinnerungstafel für Dr. Richard Sorge, der seit 1929 als Spion für die Sowjetunion vornehmlich in Asien tätig war. Als er Stalin bzw. die Führung der UdSSR 1941 auf den drohenden deutschen Überfall hinwies, wurde seiner Warnung kein Glauben geschenkt. Von der japanischen Geheimpolizei mit seinen Mitarbeitern (S. 330) festgenommen, richtete man ihn 1944 in Tokio hin.

Warschauerstr. 46: „HIER WOHNTE DER ANTIFASCHISTISCHE WIDERSTANDSKÄMPFER GREGOR PINKE GEB. AM 11.7.1898 VON DEN FASCHISTEN ERMORDET AM 9.5.1941 IN BERLIN-PLÖTZENSEE EHRE SEINEM ANDENKEN“
Georg Pinke wurde wegen der Unterstützung von Angehörigen Verfolgter verhaftet und 1941 ermordet.

Warschauerstr. 47: „HIER WOHNTE DER ANTIFASCHISTISCHE WIDERSTANDSKÄMPFER
HERBERT FIRL GEB. 29.09.1899 DURCH DIE ENTBEHRUNGEN IM LAGER VERNET, FRANKREICH, VERSTARB ER AUF EINER ÜBERFAHRT NACH MEXIKO.“

Wilhelm-Stolze-Straße 32: „IN DIESEM HAUS WOHNTE DER ANTIFASCHISTISCHE WIDERSTANDSKÄMPFER WILLI HEINZE GEB. AM 28.MÄRZ 1910 VON DEN FASCHISTEN
ERMORDET AM 26.2.1945 EHRE SEINEM ANDENKEN“

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Quellen:
Hoss, Christiane/Schönfeld, Martin: Gedenktafeln in Berlin. Hrsg. Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin, 2002
Sandvoß, Hans-Rainer: Widerstand in Friedrichshain und Lichtenberg. Hrsg. Gedenkstätte Deutscher Widerstand, 1998.
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Ergänzungen

Kaum noch Interesse

W. Pecher 21.11.2007 - 15:25
Schön, gut und richtig mit den Gedenktafel u.a., aber Masse ist nicht gleich Klasse. Unter der Überschrift "Weniger Holocaust, mehr Identität" in www.focus.de/schule zeigt eine Studie, dass die SchülerInnen davon nichts mehr hören wollen, weil man mit dem Nazi-Reich zugeschüttet wird und der Abstand dazu schon zu groß ist. So werden viele Antifa-Aktionen mangels Interesse immer mehr ins Leere laufen.

Bitte auch diesen Artikel beachten

Mediaspree blubblub 22.11.2007 - 19:46
Berlin: Stadtumbau & Verdrängung
 http://de.indymedia.org/2007/11/200203.shtml

Rosa Luxemburg saß tot im Knast?

Historiker 22.11.2007 - 21:27
Auf der Tafel soll tatsächlich stehen:
Barnimstraße, Ecke Weinstraße: „HIER STAND DAS FRAUENGEFÄNGNIS IN DEM ROSA
LUXEMBURG WEGEN IHRER REVOLUTIONÄREN GESINNUNG INHAFTIERT WAR“
Ehemaliges Frauengefängnis (1933-1945) für ca. 300 Widerstandskämpferinnen, letzte Station vor der Hinrichtung in Plötzensee, 1973 abgerissen?????????
Rosa Luxemburg wurde am 15. Januar 1919 erschossen.

Saß die ab 1933 da tot im Frauengefängnis?

Bitte bei den Fakten aufpassen sonst wird's lächerlich!

Frauengefängnis friedrichshain

@historiker 23.11.2007 - 01:18
Das Frauengefängnis in dem Roas Luxemburg vom Februar 1915 bis Februar 1916 inhaftiert war, enstand an dieser Ecke 1864. Während des NS saßen dort überwiegend aktive Gegnerinnen des Nationalsozialismus in Haft. Für Lilo Herrmann (1909–1938) und Hilde Coppi (1909–1943) war es die letzte Station vor ihrer Hinrichtung in Plötzensee. Jetzt ist da ein nicht weniger hübscher Plattenbau. Die Stele, die dort seit 1977 auf das Frauengefängnis hinweisen sollte, ist nicht mehr zu finden.
Die scheinbar unzulässige Verkettung von 1919 und NS wird verständlicher wenn die Mörder Rosa Luxemburgs näher betrachtet werden. Faschisten gabs nämlich schon vor 1933.

Auch wenn der Focus und manche Hobbyhistoriker das nicht wahr haben wollen: Masse erzeugt Dominanz. Die Playstation Portable beispielsweise scheint trotz Dominanz nicht unbeliebter bei heutigen Jugendlichen. Warum sollten sie sich weniger für die Geschichte interessieren, wenn sie auf dem Schulweg einer Gedenktafel über den Weg laufen?

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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