Libanon: Rückkehr nach Nahr al-Bared

a-films 06.11.2007 02:33 Themen: Antirassismus Indymedia Militarismus Repression Weltweit
Rund 1000 palästinensische Familien durften bislang in die Ruinen des Flüchtlingslagers Nahr al-Bared in Nordlibanon zurückkehren. Was sie dort antrafen, waren nicht nur ihre zerstörten Häuser sondern systematische Plünderung, Brandstiftung, hasserfüllte, rassistische Graffities, Fäkalien, Erniedrigung und noch mehr Repression. a-films berichtet aus Beddawi und Nahr al-Bared.
Am 10. Oktober, mehr als einen Monat nach Ende der Kämpfe zwischen der libanesischen Armee und Militanten von Fatah al-Islam, konnten die ersten 100 palästinensischen Flüchtlingsfamilien nach Nahr al-Bared zurückkehren. Das Lager wurde in verschiedene Sektoren eingeteilt. In drei Sektoren, welche allesamt im sogenannt „neuen Camp“ Nahr al-Bareds liegen, konnten weitere Familien zurückkehren. Am südlichen Ende des Camps stellte das UNO-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge, die UNRWA, eiligst (viel zu) kleine Baracken auf. Das Camp selber wird von der libanesischen Armee kontrolliert. Gegenwärtig ist es durch drei Checkpoints erreichbar – sofern man eine Bewilligung hat. JournalistInnen, Hilfsorganisationen, Bulldozer oder andere Baumaschinen, grosse Quantitäten an Essen, Kameras usw. werden nicht hineingelassen. Die nördlichen beiden Checkpoints ’Abdi und Muhammara sind gefürchtet: Unzählige Rückkehrlinge wurden dort auf übelste Weise erniedrigt, geschlagen oder gar verhaftet.

Fäkalien, Graffitis und Plünderungen

Der Hass vieler Soldaten auf die palästinensischen Flüchtlinge ist auch in den Ruinen des Camps spür- und sichtbar. Vertrocknete Fäkalien liegen überall herum. Viele der noch intakten Hauswände sind mit Sprayereien übersäht. „Fack Shaker al-Abssi“ steht da an die Adresse des Anführers von Fatah al-Islam. Oder: „Fatah al-Niswaan“ („Fatah der Frauen“). Und halt eben auch unzählige, oft unter die Gürtellinie zielende, rassistische Statements gegen die ehemaligen BewohnerInnen des Lagers. Aber nicht nur die Checkpoints und Schmierereien rauben den Flüchtlingen die Freude an der Rückkehr. Von den meisten Häusern im neuen Camp ist nicht mehr viel übrig, viele Gebäude sind total zerstört. Im alten Camp steht derweil kein einziges Haus mehr, wie man von Aussen sehen kann. Die Häuser der Rückkehrenden sind aber nicht bloss zerstört, sondern auch geplündert und teilweise gezielt abgebrannt worden. Viele Geschäfte, Wohnungen und Werkstätten sind leer. Selbst die Fensterrahmen fehlen. Es finden sich kaum mehr Kühlschränke, Waschmaschinen, Fernseher, Computer, Telefone oder andere elektrische Geräte in den Ruinen. Auch Türen, Tische, Stühle und Betten fehlen. Autos, Wertgegenstände und Geld, selbst Küchengeräte, Kleider und Vorhänge wurden geraubt. In den Werkstätten fehlen die Maschinen, Werkzeuge und Werkbänke.

Systematische Plünderung und Brandstiftung

Die Leere findet sich in vielen Gebäuden und Ruinen. Zudem weist ein weiteres Merkmal auf ein systematisches Vorgehen hin: In vielen bloss teilweise zerstörten Häusern wurde Feuer gelegt. An den Wänden sind die Spuren des Öls und anderer Brennstoffe sichtbar, die darüber gekippt oder gesprüht wurden. An manchen Orten stehen sogar noch leere Benzinkanister herum. Einige Flüchtlinge erzählen denn auch, dass ihre Häuser am Ende der Kampfhandlungen im Camp noch intakt gewesen, und erst in den Wochen danach abgebrannt worden seien. Seit Kriegsende befand sich im Camp einzig und allein die libanesische Armee…
Interessant ist auch, was in einigen Häusern entlang der ehemaligen Hauptstrasse des Camps gefunden wurde: Dutzende elektrische Geräte und Möbel wurden da gelagert. Es scheint, dass man einen Teil des Diebesgutes aus den inneren Gebieten des Flüchtlingslagers weggetragen und vor dem Abtransport entlang der Hauptstrasse zwischengelagert hatte. Es gibt denn auch immer wieder Berichte von PalästinenserInnen, welche auf dem Secondhand-Markt in der nahen Stadt Trablous ihren eigenen Kühlschrank wiederentdeckt oder sich ab der grossen Zahl der zum Verkauf angebotenen Möbel und Geräten mit Kugelsplitterspuren gewundert haben.

Behinderung der Aufräumarbeiten

Die meisten der 30'000 bis 40'000 BewohnerInnen Nahr al-Bareds flüchteten im Mai und Juni ins nahe Beddawi Camp, wo sie monatelang in überfüllten Schulen, Moscheen, Gemeinschaftszentren, Zelten, Garagen und Mietwohnungen hausten. Jene, welche ins zerstörte Flüchtlingslager zurückkehren, brauchen wenigstens ein bis zwei intakte Zimmer, wo sie irgendwie den Winter verbringen können. Das Leben und die Aufräumarbeiten im Camp gestalten sich aber enorm schwierig. Vom Abend bis in die Morgenstunden herrscht jeweils Ausgangsverbot. Nahrungsmittel müssen in kleinen Mengen von ausserhalb des Lagers beschafft werden. Jede Familie darf nicht mehr Lebensmittel reinbringen als für den täglichen Bedarf notwendig. Da es gegenwärtig im Camp verboten ist, Läden zu eröffnen, müssen die Menschen täglich zu Fuss durch die drei mit Erniedrigungen verbundenen Checkpoints bei ’Abdi gehen.
Für die bisher geöffneten Sektoren bewilligte die libanesische Armee genau einen Bulldozer, weitere Bau- und Aufräumgeräte werden nicht hereingelassen. Auch an Schaufeln mangelt es, Strom gibt es täglich bloss abends für ein paar Stunden, die Wasserversorgung ist prekär und sanitäre Anlagen gibt es eigentlich keine. Die meisten Menschen werken mit blossen Händen in den Ruinen herum. Die gegenwärtig rund 1000 Familien, welche bislang ins Camp zurückgekehrt sind, schauen dem Winter mit grossen Sorgen entgegen.

Brutale Repression

Täglich gibt es Berichte von vor allem jungen PalästinenserInnen, welche an einem der Checkpoints oder innerhalb des zerstörten Camps von der libanesischen Armee geschlagen oder verhaftet werden. Nicht wenige Flüchtlinge wurden auch dabei ertappt, wie sie durch die Ruinen in ihre Häuser im alten Camp schlichen, um nach ihren Habseligkeiten zu suchen. Mit den Verhaftungen ist oftmals brutale Gewalt verbunden. Menschen werden tagelang festgehalten, geschlagen und verhört. Wiederholt kam es auch dazu, dass man sie in eines der libanesischen Gefängnisse bei Trablous oder Beirut verschleppte, wo sie gefoltert wurden.
Der Bevölkerung wird all dies verschwiegen. Libanesische Medien äussern sich kaum zu Nahr al-Bared und scheinen auch nicht sonderlich daran interessiert, zur Aufdeckung der Verbrechen ihrer heroischen Armee beizutragen. Insbesondere nicht vor den Präsidentschaftswahlen, welche Mitte November anstehen. Zudem hat es die staatliche Propaganda geschafft, während Monaten Hassgefühle gegen die palästinensische Minderheit zu schüren und zu kanalisieren. Zudem stammen viele der 169 Soldaten, welche in den Kämpfen umkamen, aus dem Nordlibanon, sprich: aus Dörfern im Umkreis Nahr al-Bareds. Viele LibanesInnen versuchen deshalb und angesichts des potentiellen wirtschaftlichen Wiederaufblühens des Camps in einigen Jahren – Nahr al-Bared war ein verhältnismässig reiches und wirtschaftlich starkes Camp, ein regionales Handelszentrum – die Rückkehr der Flüchtlinge und den Wiederaufbau des Camps zu verhindern.

Das anarchistische Filmkollektiv a-films hat im Zusammenhang mit dem Schicksal der Nahr al-Bared-Flüchtlinge drei Kurzfilme publiziert. Sie lassen sich hier anschauen bzw. herunterladen:

Siehe auch den Artikel zur Lage in Beddawi Camp.

Weitere Kurzfilme des Kollektivs sind über den a-films-Blog verfügbar.
Creative Commons-Lizenzvertrag Dieser Inhalt ist unter einer
Creative Commons-Lizenz lizenziert.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Zeige die folgenden 3 Kommentare an

tja — und

@al-tona — AbisK