Ermittlungen gegen Polizei und Justiz

k.o.b.r.a. antirepressionsplattform 11.10.2007 20:55 Themen: Repression Soziale Kämpfe
Der Wind hat sich gedreht: Nach vier Jahren Hausdurchsuchungen, Gewahrsam, Anklagen und Verurteilungen laufen seit kurzer Zeit Ermittlungsverfahren gegen RichterInnen und PolizeibeamtInnen in Gießen. Der Grund: Sie hatten ihre KritikerInnen mit ausgedachten Straftaten und willkürlichen Festnahmen traktiert. Das ist zwar zwar sicherlich eher etwas Gewöhnliches in doitschen Repressionsstuben - doch nicht immer erfolgt die Gegenwehr so hartnäckig, wird so umfangreich recherchiert und schließlich soviel Material zusammengetragen, dass die unwillige Justiz gegen sich selbst ermitteln muss. Das Ganze ist zudem weiterhin mit einer lautstarken Kritik an der Logik von Strafe und Repression verbunden. Während die Staatsanwaltschaft Wiesbaden beauftragt ist, die "Nazimethoden" (Oberlandesgerichts-Beschluss) der Gießener Uniform- und Robenträger zu durchleuchten, startet eine Ton-Bilder-Schau mit fünf ausgewählten Beispielfällen unter dem Titel "Fiese Tricks von Polizei und Justiz" zu einer Rundtour durch Deutschland und die Schweiz.

Geschichte der Auseinandersetzung

Vier Jahre lang versuchten die Polizei- und Justizbehörden in Gießen mit oft illegalen Mitteln ihre lautstark auftretenden KritikerInnen mundtot zu machen. Hausdurchsuchungen, Festnahmen, die ständige Anwendung der damals noch neuen Regelung zum Unterbindungsgewahrsam (bis 1945: Schutzhaft) und schließlich umfangreiche Anklagen prägten das Geschehen. Ab Ende 2002 kam es fast täglich zu Konfrontationen - die direkten Aktionen behinderten die Polizeikräfte über Monate stark bei der Verfolgung der von oben vorgegebenen Ziele moderner Sicherheitspolitik: Verdrängung von Nichtseßhaften, Kontrolle von Nichtdeutschen, deutsch-saubere Innenstädte usw. Die Reaktionen: Einweihung des neuen hessischen Unterbindungsgewahrsamsparagraphen am 11./12.12.2002 gegen zwei Projektwerkstättler, das spektakuläre Wochenende mit Verhaftungen, technischer Zerschlagung der Projektwerkstatt am 10.1.2003 und dem vom Innenminister persönlich befohlenen Polizeiangriff auf eine Demonstration, für die der damalige Redner in mehrmonatige Haft geschickt wurde, aber am 30. April 2007 vor dem Bundesverfassungsgericht siegte. Eine Gedichtelesung, die von der Polizei per erfundenem Brandsatz zum Anschlag mutierte und schließlich am 15. Dezember 2003 die ersten längeren Haftstrafen gegen AktivistInnen.

Ab diesem Moment forschten die Betroffenen und einige UnterstützerInnen in Polizei- und Gerichtsakten, um die Manipulationen der Uniform- und RobenträgerInnen nachweisen zu können. Seit 2004 gaben sie jährliche Dokumentationen heraus mit jeweils etlichen Fällen von Manipulationen, Erfindungen (z.T. ganzer Straftaten) - doch die Phalanx des Schweigens hielt lange. Zeitungen, Rundfunk und politische Gruppen waren für die Enthüllungen nicht ansprechbar. AnwältInnen hielten Abstand, um ihren guten Ruf bei Gerichten nicht zu gefährden. Dabei war die Sache von Beginn an hochbrisant, denn Gießen war der Wohnort des hessischen Innenministers Volker Bouffier, der hier seine Law-and-Order-Politik zusammen mit seinen ebenso orientierten Parteikollegen an der Stadtspitze verwirklichen wollte - die Polizei- und JustizkritikerInnen wurden von ihm schnell zu persönlichen Feinden. Umfangreiche Internetseiten entstanden - nach der Polizeidokumentationsseite auch eine über Justizskandale, denn nach den ersten Prozessen in 2003 wurden es schnell viele mehr. Auf den Webseiten sammelten sich immer mehr gescannte Auszüge aus Polizei- und Gerichtsakten.

Genützt hat das wenig. Die Haftstrafen wurden rechtskräftig und mit Gefängniszeiten war zu rechnen. Etliche Prozesse standen noch an - etliche Angeklagte jetzt vorbestraft. Doch das Blatt sollte sich wenden - zuvor aber versuchten Innenministerium und Polizei einen finalen Schlag gegen ihre KritikerInnen ...

 

Höhepunkt der Auseinandersetzungen: Der 14. Mai 2006

Einige Attacken auf die gemeinsame Kanzlei der Innenminister von Hessen und Thüringen in der Nordanlage 37 in Gießen provozierten Polizei und Innenminister Bouffier zu einer umfangreichen Aktion. Uniformierte mehrere Dienststellen in Mittelhessen, der Bereitschaftspolizei Mühlheim und die Landes-High-Tech-Einheit des MEK (Mobiles Einsatzkommando) planten im Auftrag von Bouffier eine umfangreiche Aktion, um mit einem Schlag ihre KritikerInnen hinter Gitter zu bringen. Der Plan mit aus fahrenden Polizeiwagen springenden James-Bond-Nacheiferern, nächtlichen Observationen, ungewöhnlichen Federballspielen, der Erfindung von Straftaten, manipulierten Beweisen, verschwiegenen DNA-Ergebnissen, zum Lügen überredeten Richtern und massiven Vertuschungen ging jedoch schief. Die Betroffenen konnten die Hintergründe in dreimonatiger Recherche offenlegen. Doch erst mehrere Monate, etliche Instanzen und viele so in die Sache verwickelte RichterInnen an Amts- und Landgericht in Gießen später, am 18. Juni 2007, fällte das Oberlandesgericht Frankfurt ein bemerkenswertes Urteil über die von ganz oben angezettelte Aktion: Die Aktion sei nicht nur rechtswidrig und unbegründet geschehen, sondern sie hätte auch Methoden benutzt, die seit der Nazizeit abgeschafft waren.
Das OLG-Urteil war bereits die zweite schwere Niederlage vor Gerichten außerhalb Gießens - nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das das harte Urteil im bislang umfangreichsten Strafprozess dieser Auseinandersetzung aufgehob und einen vom Innenminister persönlich angeordnete Polizeieinsatz gegen eine unerwünschte Demonstration als rechtswidrig bezeichnet hatte. Peinlich: Allen Strafgerichte, die Polizei und die Staatsanwaltschaft hatten alles als rechtmäßig bewertet. JustizkritikerInnen bezeichneten sie aber von Anfang an als grundrechtswidrig - das Verfassungsgericht gab ihnen am 30. April recht.

 

Aufmerksamkeit für die Hintergründe - Ermittlungen gegen Polizei und RichterInnen

Mit den beiden Urteilen wuchs die Aufmerksamkeit für Hintergründe der Urteile, Verhaftungen und sonstigen Maßnahmen von Polizei und Gerichten in Gießen. Im Juli 2007 erschien zudem ein Buch zum Thema - in dem auch der 14. Mai 2006 ein eigenes Kapitel hat. Unter dem am Standort von Gerichten und Gefängnis ausgerichteten Titel "Tatort Gutfleischstraße. Die fiesen Tricks von Polizei und Justiz" wurden etliche ausgewählte Fälle dargestellt - minutiös belegt mit den Auszügen aus Polizei- und Gerichtsakten. Nun wurden zumindest auch einige regionale JournalistInnen aufmerksam und fragten bei der Staatsanwaltschaft nach, wie diese mit den offensichtlichen und erheblichen Straftaten von Polizei und Justiz, zumal mit dem Vorwurf der Anwendung von Nazi-Methoden, umgehen wolle. Inzwischen sind offiziell Ermittlungen angelaufen - in der Staatsanwaltschaft Wiesbaden, da in Gießen die Gefahr der Befangenheit zu hoch sei (siehe Abbildung).

Doch die JustizkritikerInnen bleiben skeptisch: "Bisher sind alle Verfahren gegen Angehörige von Polizei und Justiz mit abenteuerlichen Begründungen eingestellt worden", äußern sie ihr Misstrauen. "In Wiesbaden kann die Landesregierung die ihr gegenüber weisungsgebundene Staatsanwaltschaft an der kurzen Leine halten, ohne dass das jemand mitbekommt." Stattdessen setzen sie auf eine andere Karte: Die in jahrelanger Wühlarbeit aufgedeckten Manipulationen, Fälschungen, Rechtsbeugungen und Freiheitsberaubungen öffentlich zu machen. Nach dem Buch soll nun eine Ton-Bilder-Schau die Recherchen in viele Orte tragen. Am Sonntag, den 14. Oktober geht es in Hannover los - für dieses Jahr sind noch fast 20 "Aufführungen" vorgesehen.

 

Tournee mit der Ton-Bilder-Schau "Fiese Tricks von Polizei und Justiz"

Am 12. Juli präsentierten JustizkritikerInnen in Gießen erstmals die Ergebnisse ihrer Recherchen an fünf ausgewählten Fallbeispiele. Zuvor waren Teile der Ton-Bilder-Schau bereits in anderen Städten zu sehen. Inzwischen hat es drei Aufführungen in der Region des Geschehens gegeben (4.9. im Kino Traumstern, 9.10. im kurdischen Kulturzentrum) - und ganz allmählich dringt das Wissen um die Manipulationen, Fälschungen und teilweise schwerwiegenden Straftaten in Robe und Uniform durch die Mauer des Schweigekartells hindurch. Nun soll die Veranstaltung in einer langen Tournee in vielen Städten Deutschlands und der Schweiz zu sehen sein. Den Start macht Hannover am 14. Oktober, es folgen Freiburg, Basel und Luzern, dann Städte im Westen, anschließend im Norden sowie schließlich im Osten der Bundesrepublik. Alle Veranstaltungen sind öffentlich und eintrittsfrei. Ergänzungen des Tourneeplans sind möglich, erste Planungen für weitere Städte im kommenden Jahr laufen bereits an. Eine ständige aktuelle Übersicht sind auf den Seiten des Verlags SeitenHieb und zum Projekt zu finden. Bei letzteres ist auch ein Mitschnitt einer Aufführung nahe Berlin zu hören einschließlich der relevanten Aktenauszüge.

 

Die kommenden Stationen bis zum Jahresende

  • 14. Oktober 2007 (Sonntag), 18 Uhr in Hannover (Atomplenum, Stärkestr. 15, H-Linden) ++ Flyer
  • In Planung: 16. Oktober (Dienstag) in Gifhorn
  • 21. Oktober 2007 (Sonntag), 18 Uhr in Freiburg (KTS, Basler Str. 103) ++ Flyer
  • Noch möglich: Weitere Veranstaltung in der Schweiz oder im Bodenseeraum
  • 23. Oktober (Dienstag), 19 Uhr in Basel (SowieSo Bücher, Oetlingerstrasse 74) ++ Flyer
  • 24. Oktober (Mittwoch), 20 Uhr in Luzern (KiwianaSquat, Fluehmattstrasse) ++ Flyer
  • 30. Oktober 2007 (Dienstag), 18 Uhr in Iserlohn ++ Flyer
  • 31. Oktober 2007 (Mittwoch), abends in Paderborn im besetzten Haus
  • 1. November (Donnerstag), 19 Uhr in Wuppertal (AZ, Markomannenstr. 3)
  • Noch möglich: Weitere Veranstaltung im Ruhrpott am 2.11.
  • 3. November 2007 (Samstag), 18 Uhr in Köln (SSK, Salierring 37, 50677 Köln) ++ Flyer
  • Noch möglich: Weitere Veranstaltungen vom 7.-9.11. im Raum Wendland, Nordniedersachsen oder Bremen
  • In Planung : 12./13.11. in Flensburg, Kiel und Eckernförde.
  • 14.11. in Eutin und 15.11. in Mölln oder Ratzeburg
  • 16. November (Freitag), 19.30 Uhr in Hamburg-Harburg ("Alles wird schön", Fr.-Naumann-Str. 27) ++ Flyer
  • Angefragt: 14.-16. Dezember auf der Linken Literaturmesse in Nürnberg, 16./17.11. in Jena, Erfurt oder Chemnitz
  • 18. Dezember 2007 (Dienstag), 19 Uhr in Halle/Saale im Cafe Biohope (Mittelstr. 9, Eingang Schulstr.) ++ Flyer
  • 19. Dezember 2007 (Mittwoch), 19 Uhr in Dresden im Jugendhaus "Roter Baum" (Pieschen, Großenhainer Str. 93, Hinterhof) ++ Flyer

Alle Veranstaltungen sind offen. Fehlende Orte und Uhrzeiten werden noch bekanntgegeben. Einige weitere Stationen sind noch möglich, zudem laufen Planungen an, im Jahr 2008 die Tour fortzusetzen. Anfragen über den Autorenkontakt des Verlages oder die Antirepressionsplattform K.O.B.R.A. (siehe Email-Adresse).

 

Umdenken in politischen Gruppen?

Überraschenderweise wird das Projekt des Verlages bislang kaum aus überregional aktiven Organisationen und Medien unterstützt. Das hat jetzt bereits eine jahrelange Tradition - viele "linke" Zeitungen (Junge Welt, Neues Deutschland, Rote Hilfe, SoZ, ak und andere) verweigerten bisher die Berichterstattung über die Entwicklungen in Gießen der letzten Jahre. Viele Rechtshilfegruppen und AnwältInnen hatten in den ersten Jahren vor der offensiven Antirepression in Gießen gewarnt, die als Teil der Methodenentwicklung zu Direct Action zu sehr vielen neuen Aktionsformen gegenüber Polizei und in Gerichtssälen führte. Schnell entstand auch eine Kritik am schematischen Umgang mit Repression in politischer Bewegung bisher, wo der Repressionsschutz bislang auf das (wichtige!) Aufstellen von Ermittlungsausschüssen und das Vermitteln von AnwältInnen und Spenden beschränkt war. Die jetzigen Entwicklungen in Gießen müssen zu einer Neubewertung führen. Es ist dort nicht nur gelungen, sehr offensiv eine grundlegende Kritik an Strafe, Recht und Ordnung in die Öffentlichkeit zu tragen, sondern sich auch wirksam vor der Repression zu schützen. Inzwischen sind Gerichte und Polizei bemüht, weitere Verfahren einzustellen, um die ausufernden Auseinandersetzungen um den Sinn von Gerichten, Uniformen, Normen usw. einzudämmen. Im Zuge der Auseinandersetzungen sind Beiträge zu Utopien einer herrschaftslosen Welt ohne Strafe (z.B. das Kapitel "Alternativen zur Strafe" im Buch "Autonomie & Kooperation") sowie umfangreiche Tippssammlungen für die Verteidigung vor Polizei und Gerichten entstanden.

Es muss darum gehen, die politischen AkteurInnen fit zu machen für die Auseinandersetzung mit der Staatsmacht. Polizei- und Gerichtskontakte können Teil der Aktion sein. Eigenes Wissen und Übung können Angst nehmen. Die AkteurInnen sind die politischen Figuren im Gerichtssaal, AnwältInnen ihre UnterstützerInnen - mehr nicht. Die aktuelle Realität ist anders: Die RobenträgerInnen (die sich vom Studium kennen, die gleichen Cafes besuchen und die gleiche Sprache sprechen) liefern sich einen Schlagabtausch, während alle anderen (mal wieder) zu StatistInnen werden. Das muss ein Ende haben. Dazu sind aus den Erfahrungen von Gießen neben den Internetseiten etliche Broschüren entstanden. Außerdem soll in Workshops, Seminaren und Trainings der Umgang mit Polizei und Gerichten geübt werden: Offensive, kreative Aktionsformen, ohne Aussagen zu machen, die der Polizei oder Justiz nützen - das ist das Ziel.

 

Weitere Termine

  • 26.-28. Oktober in Freiburg (KTS, Basler Str. 103): Seminar "Kreative Antirepression"
    Freitagabend: Einführungsvortrag. Samstag/Sonntag: Workshops und Trainings zu kreativen Aktionsformen bei Personalienkontrollen, Gerichtsverfahren, Verhören, Festnahmen oder überhaupt gegen Polizei, Justiz, Knäste ... Terminankündigung bei der KTS Freiburg und im Stattweb.
  • Do, 29.11.2007, 9 Uhr im Landgericht Gießen, Raum E 15: Wiederholungsverhandlung in dem Bundesverfassungsgericht gekippten Prozess gegen einen Projektwerkstättler.
  • 13.12. im Amtsgericht Gießen: Prozess gegen einen Journalisten, der sich wagte, das Gengerstenfeld zu fotografieren (von der Straße aus) und dabei auch gleich verhaftet wurde.

 

Kontakt

  • SeitenHieb-Verlag, Jahnstr. 30, 35447 Reiskirchen, Info-/Pressetelefon: 0700-seitenhieb (=0700/73483644)
  • K.O.B.R.A. Antirepressionsplattform: c/o Projektwerkstatt, Ludwigstr. 11, 35447 Reiskirchen, 06401/903283, Fax -5, kobra (at) projektwerkstatt.de
  • Kontakt zum Referenten während der Touren: 0174/7640667
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