Die politische Situation in Italien

Piero Bernocchi / Gewerkschaftsforum Hannover 08.10.2007 22:23 Themen: Soziale Kämpfe Weltweit
In einem Leitartikel für „COBAS“, die Zeitung der Basiskomitees Schule (Cobas Scuola), Nr.36 vom September / Oktober 2007 lieferte Piero Bernocchi eine Bestandsaufnahme der politischen Lage in Italien.
Für alle, die ihn noch nicht kennen: Piero Bernocchi (geboren am 13.9.1947 in Foligno / Umbrien) lebt in Rom, ist Lehrer und nationaler Sprecher der linken Basisgewerkschaft Confederazione Cobas. Piero Bernocchi hat eine lange Vergangenheit in der radikalen Linken, zu deren prominentesten Vertretern er gehört. Er spielte, zunächst der 4.Internationale nahe stehend, in der 68er Bewegung und dann in der Autonomia-Bewegung von 1977 eine wichtige Rolle. Von 1979 – 85 war er Direktor des linken Radiosenders „Radio Città Futura“ (Radio Stadt der Zukunft) und ist Autor mehrerer Bücher über politische und gewerkschaftliche Themen und insbesondere über die Entwicklung der radikalen Linken. Seit ihren Anfängen 1999 zählt er zu den wichtigsten Aktivisten der italienischen Anti-Kriegs- und Anti-Globalisierungsbewegung sowie des Europäischen Sozialforums (ESF).


Die politische Situation

von Piero Bernocchi

Der bedeutendste Aspekt der politischen Situation in Italien in den letzten Monaten ist zweifellos der Einbruch, den die Regierung Prodi in jeder Hinsicht in punkto Glaubwürdigkeit und ((politischem)) Kredit erlebt hat, vor allem aber bei den unteren Schichten, den Jugendlichen, den abhängig Beschäftigten und den Rentnern, die sie gewählt haben. Die Kontinuität mit der Politik der Regierung Berlusconi gab es und sie ist auf fast allen Gebieten deutlich sichtbar, insbesondere was die Sozialpolitik, die Arbeitsmarktpolitik, den Umgang mit dem öffentlichen Eigentum, die Schulpolitik, den Militarismus und den Krieg, die Migranten und die Bürgerrechte anbelangt. Die Enttäuschung und das Misstrauen derjenigen, die an eine Veränderung dachten, wird von einem sozialen, kulturellen und moralischen Verfall begleitet, der in der Nachkriegszeit fast ohne Gleichen ist.

Besonders beeindruckend ist der regelrechte Zusammenbruch der zumindest formell „alternativen“ oder „radikalen“ Rolle dessen, was bis gestern die Linksopposition war, die seit ((den Anti-G8-Protesten im Juli 2001 in)) Genua erklärte, dass sie dazugehörte und in oder neben den Bewegungen agierte. In erster Linie ist hier der Partito della Rifondazione Comunista (PRC) gemeint, die zahlenmäßig wichtigste Kraft in diesem Bereich. Der vom PRC unternommene Versuch, vor allem dank der Bewegungen die Regierung konditionieren zu können und sie „nach links“ zu rücken, ist total gescheitert und – jenseits der Medienpropaganda, die jeden Tag von einer Regierung spricht, die „Geisel der radikalen Linken“ sei – ist die Situation in Wirklichkeit genau umgekehrt und das umso mehr nach dem Start des neuen Partito Democratico (PD), der wahrscheinlich von ((Roms DS-/PD-Bürgermeister)) Walter Veltroni geführt werden wird. Das Projekt der Beseitigung jeden Konflikts, voller sozialer Normalisierung und reiner und schlichter Verwaltung des bestehenden Kapitalismus ist der strategische Horizont der Regierung, dem sich der PRC und die anderen Kräfte der so genannten „radikalen Linken“ rasch und in unvorhergesehener Weise gebeugt und, mit allem was dazu gehört, die Rolle der „Regierungslinken“ übernommen haben. Der mit einer 180-Grad-Wende beschlossene Notbehelf, eine (vielleicht zunächst auf die Wahlen bezogene und dann organische) Fusion mit der Sinistra Democratica (Demokratischen Linken), der Partei der Italienischen Kommunisten (PdCI) und den Grünen einzuleiten, kann eine Organisation, die eine Zeitlang auf eine Bewegungslogik und eine Alternative zur wirtschaftsliberalen Linken gesetzt hatte, vielleicht für eine Weile vor dem Schiffbruch bewahren. Die Entscheidung für die Regierungsbeteiligung scheint inzwischen aber eindeutig und beherrschend zu sein.

Diese politische Situation hat für alle antikapitalistischen und antagonistischen Kräfte, die über eine gewisse Verankerung in der Gesellschaft verfügen, beachtliche Spielräume eröffnet. Und, dank unserer kohärenten und drastischen, sowohl gegenüber den Mitte-Rechts- wie den Mitte-Links-Regierungen (den vorangegangenen und der gegenwärtigen) entwickelten Opposition, gilt das für die COBAS zuallererst. Einer Opposition, die niemals in das minoritäre Politikastertum mündete, sondern sich – bei den allgemeinen und den spezifischen Themen des Konflikts – immer aus der sozialen Opposition genährt hat. Unsere Bündnispolitik, die kein taktischer Notbehelf war, sondern eine wirkliche und wahrhaftige, mit unserer Vorstellung von den gesellschaftlichen Veränderungen verbundene Strategie, hat in diesem Bereich funktioniert. Wir glauben nicht an das Ein-Parteien-System oder an das System der Einheitsgewerkschaft und generell nicht an das „reductio ad unum“ der politischen und sozialen Vertretung des Antikapitalismus und des Antagonismus. Weder theoretisch noch praktisch. Wir glauben im Gegenteil daran, dass die Bestandteile des Antikapitalismus und der Opposition gegen das Bestehende vielfältig sind und das zum primären und entscheidenden Konflikt zwischen Kapital und Arbeit weitere Konflikte hinzukommen, die nicht als geringer oder vernachlässigbar betrachtet werden können. Die Rede ist hier vom Konflikt gegen die globale Vermarktung des Bestehenden; dem Konflikt zwischen Kapital und Umwelt; dem Konflikt zwischen den patriarchalen Logiken und den Opfern derselben; dem Konflikt zwischen den imperialistischen Verfechtern des permanenten Krieges und den Völkern, die darunter zu leiden haben; den Konflikten, die durch den Willen zur Herrschaft über die Köpfe und durch das Verhalten der religiösen Hierarchien sowie der Fundamentalismen (hier bei uns an erster Stelle durch den Vatikan) verursacht werden, etc.

Infolgedessen muss man Formen einer dauerhaften, auf den Teilbereich bezogenen oder allgemeinen Zusammenarbeit zwischen denjenigen finden, die sich gegen die bestehenden Verhältnisse in allen diesen Bereichen wehren und sich ausgehend von einer wirklichen sozialen Verankerung organisieren. Das ist es, was wir getan haben und weiterhin tun und womit wir relevante Erfolge erzielt haben. Wie bei der nationalen Manifestation gegen die Prekarisierung am 4.November 2006 oder bei der landesweiten Demonstration gegen Bush und Prodi am 9.Juni 2007 als wir die Parteien der „radikalen Linken“ buchstäblich gedemütigt haben ((Anm.1)). Parteien, die den Versuch unternahmen, sich auf der Grundlage einer unannehmbaren inhaltlichen Plattform, die verlangte gegen Bush zu protestieren und die militaristische Politik der Regierung vor Kritik zu bewahren.

Dieser enorm vergrößerte politische Spielraum erlegt uns weitere Aufgaben und eine Ausweitung des Aktionsradius der Confederazione Cobas auf. Dies nicht nur im Zusammenhang mit der „klassischen“ und der prekären, abhängigen Beschäftigung, sondern auch im Hinblick auf die verschiedenen Organisations- und Oppositionsformen der Jugendlichen, der Studenten und der Rentner; im Hinblick auf diejenigen, die sich innerhalb des Konfliktes zwischen Kapital und Umwelt gegen die Umweltzerstörung und für die Verteidigung der der Allgemeinheit gehörenden Güter territorial organisieren; und auch im Hinblick auf den Kampf um die Bürgerrechte, gegen die Übermacht des Vatikans, für die sexuelle, moralische und auf das eigene Leben bezogene Entscheidungsfreiheit. In diesen Bereichen müssen wir innovative organisatorische Entscheidungen treffen – sowohl in unserem Innern als auch in der Bündnispolitik. Vor allem muss berücksichtigt werden, dass der Prozess der Selbstorganisation auch neue Territorien erfasst und dass, angesichts des Debakels der Regierungslinken, viele Sektoren (vom No Dal Molin / Nein zur Erweiterung der US-Basis in Vicenza bis zur No TAV-Bewegung gegen die Hochgeschwindigkeits-Bahnstrecke Turin-Lyon, vom Patto di Mutuo soccorso ((“Gegenseitigen Beistandspakt“ der Bewegung in Vicenza mit anderen von der Bevölkerung getragenen, lokalen Proetstbewegungen)) bis zu den Dutzenden NEINS, die sich in den verschiedenen territorialen Bereichen organisiert haben und mittlerweile Hunderte auf ihren Gebieten fest gefügte Gruppen umfassen) faktisch und manchmal unbewusst jene Vereinigung des politischen, gewerkschaftlichen, sozialen und kulturellen Kampfes verwirklichen, die unsere Grundlage ist. Und sie machen nicht nur, mit beiden Beinen auf dem Boden stehend, „Politik“, wobei sie dieser ihren grundlegendsten Wert zurückgeben und einen Gegensatz zum entsetzlichen, verfilzten, korrupten, mafiösen und selbstbezogenen Klima der „politikasterhaften Politik“ bilden, sondern bei ihnen reift auch nach und nach die Überzeugung, dass viele der bestehenden Parteien (vor allem die Parteien einer bestimmten „Linken“) nicht mehr die Legitimität und auch nicht die sozialen Wurzeln besitzen, um behaupten zu können, dass sie alle sozialen, gewerkschaftlichen und kulturellen Kräfte auf dem allgemeinen und institutionellen bzw. wahlpolitischen Terrain repräsentieren.


Anmerkung 1:
An der Demonstration des radikalen Teil der Anti-Kriegs-Bewegung (inklusive COBAS) beteiligten sich offiziell – nach „italienischen Zahlen“ – „150.000“ (real 8.000 bis 10.000) Menschen, an der separaten Kundgebung der Regierungslinken offiziell gerade mal „500“ Leute. Real waren es sogar nur 40 – 50 Funktionäre!


((Vorbemerkung, Übersetzung, Anmerkung und Einfügungen in doppelten Klammern:
Gewerkschaftsforum Hannover))
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Ergänzungen

ein letztes olivenaufbäumen

MakaroniFresser 09.10.2007 - 13:12

Dieser Tage steht sowohl der (linken) Regierung Italiens als auch der Linken insegsamt eine Zerreisprobe bevor, die mit dem Auseinanderbrechen der Regierungskoalition enden könnte.

Prodi will die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 58 auf 61, die mit ihm regierenden Kommunisten sind dagegen und haben angekündigt die Koalition zu verlassen wenn das Gesetz kommt.
Auch im Gewerkschaftslager herrscht über die Frage Uneinigkeit, Industriegewerkschaften und die Katholiken sind dafür, die radikalen Linken und die Anarchisten sind dagegen, die grossen Gewerkschaften über die Frage gespalten.

Spannend wird die Frage, ob die Stimmung nicht noch kippt, wenn der Protest diese Woche auf die Strasse getragen wird, und wen die Italiener als nächstes eigentlich noch wählen sollen - denn Berlusconi hat natürlich gegen eine Rentenkürzung nichts einzuwenden und wird mit Prodi stimmen.