Schanzenviertelfest: Wir sind alle 129a!

beobachterin 14.09.2007 16:37
„Wir sind alle 129a“ -
Ein Stadtteil erklärt sich zur terroristischen Vereinigung

Am 22.09.2007 findet in Hamburg das Straßenfest im Schanzenviertel statt. Doch auf dem seit mehreren Jahren unangemeldet stattfindenden Fest wird nicht nur gefeiert. Vielmehr stellt es einen Versuch dar, der aktuellen Repression nach §129a einen starken Ausdruck der Solidarisierung entgegenzusetzen. Das Motto der Veranstaltung lautet: „Wir sind alle 129a“. Angesichts der mehr als zehntausend BesucherInnen und der Beteiligung von zahlreichen AnwohnerInnen, Initiativen und sozialen Projekten eine recht selbstbewusste Erklärung und ein Novum. Es geht um mehr als nur ein symbolisches Motto. Es ist der Versuch linksradikaler Intervention, jenseits klassischer Protestformen wie Demonstrationen und Kundgebungen.
Am selben Tag findet in Berlin eine Demonstration gegen Überwachung statt. In diesem Zusammenhang wird auch zu einem linksradikalen Block mobilisiert. Das Schanzenfest versteht sich als ein etwas anderer Beitrag, der Solidaritätskampagne für die Einstellung der aktuellen Verfahren und Abschaffung des §129a. Es steht nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich in einem Bezug zur Demonstration in Berlin und anderen Kampagnen gegen staatliche Repression.

Das Schanzenviertelfest ist kein Fest wie andere Feste. Es versteht sich nicht im Sinne partizipierender Stadtteilpolitik der 70er und 80er Jahre. Es geht nicht darum ein „wir„ im Viertel herzustellen, als heimelige Identitätspolitik von vermeintlich Unterdrückten oder linken AnwohnerInnen gegen böse Yuppies oder ein diffuses „die da oben oben“. Herrschaft ist kein Modell, das schlicht von oben nach unten führt, sondern Macht und Unterdrückung verlaufen kreuz und Quer durch den die Gesellschaft und eigene Befindlichkeiten. Herrschaft etabliert sich als Teilhabe und erst darin durch Ausschluss. Wenn die Verhältnisse in Frage gestellt werden, dann ist es auch notwendig die eigenen Lebensweisen und Umgebungen in radikaler Form zu dekonstruieren und als temporäre Brüche zu inszenieren. Nicht als dauerhafter Zustand realer Befreiung, sondern als Moment der Verweigerung und des Widerspruches.

Das Schanzenfest kann ein Blitzlichtgewitter der Irritation sein. Ein Ansatz von Diskursguerilla der sich Vereinnahmungen entzieht. Wer ein linkes Heimatfest sucht und unter sich bleiben will, der wird eher am falschen Ort sein. Das Fest bedient keine Identitäten, sondern treibt das neoliberale Chaos auf die Straße. Es betreibt eine massenhafte, kleinstmögliche Ordnungswidrigkeit und ist ein Ort selbstorganisierten Freizeitvergnügens. Es ist im Sinne der Strafverfolgungsbehören eine klandestine Veranstaltung und dennoch im öffentlichen Raum. Ein wabernder Organismus tausender kleiner Zellen, die in ihren Verstecken und Schlupfwinkeln ihre Teilnahme vorbereiten.

Wünschenswert wäre natürlich, dass sich möglichst viele mit Aktionen, Ständen, Straßentheater, Musik oder anderen inhaltlichen Beiträgen gegen Überwachungswahn und Repression am Fest beteiligen. Denn sollte es gelingen, die Kritik an autoritären Sicherheitsdiskursen über das Fest zum öffentlichen Thema zu machen, dann wäre dies auch ein wichtiges politisches Signal in der aktuellen bundesweiten Diskussion.

Das Motto „Wir sind alle 129a“ beschreibt nicht nur ein solidarisches Verhältnis zu den Betroffenen der §129a Ermittlungen, sondern steht für ein Bewusstsein, das antiautoritäre Grenzüberschreitungen vielfach notwendig sind um emanzipatorische Prozesse in Gang zu setzen. Der Sicherheitsstaat dient keinesfalls einem vielfach zitierten Schutz des Einzelnen, sondern folgt dem eigenen Prinzip von Kontrolle und Ordnung. Die Verhältnisse sollen beherrschbar sein und bleiben. Terrordateien, Paragraphendschungel und Überwachungstechniken, dienen dazu Prozesse von Selbstorganisierung und kollektiver Verweigerung - und damit emanzipatorischer Entwicklung überhaupt – zu verhindern und anzugreifen. Der Schritt auf die Straße am 22.09. im Schanzenviertel, ist ein Tritt in die Beine eines sich im Kontrollwahn befindlichen Sicherheitsstaates, der sich zunehmend unwidersprochen zu einer totalitären und allumfassenden Kontrolle des Lebens befugt.

Noch wichtiger als der Widerstand gegen staatliche Einflussname und Machtwerkzeuge, erscheint dabei der Kampf gegen die neue, subjektiv empfundene Normalität der Überwachung und Kontrolle in breiten Teilen der Gesellschaft. Zugrunde liegt die Neigung in Zeiten gesellschaftlicher und ökonomischer Umbrüche staatliche Macht nicht als Zwangsinstrument sondern als persönliche Sicherheit zu empfinden. Die Teilhabe der Überwachten und Kontrollierten an jenem Gut das es zu schützen gilt. Dem Staat. Um dessen Repression und Kontrolle wirksam entgegenzutreten ist es notwendig auch eine grundlegende Kritik an den Verhältnissen zu entwickeln. Wer keine Veränderung will und unbewusst an den Ungerechtigkeiten der globalen Verhältnissen profitiert, der wird staatliche Gewalt gegen diejenigen die für Umverteilung und gleiche Rechte kämpfen, nicht aus etwaiger Verblendung sondern ganz Folgerichtig, als persönliches Interesse empfinden. Es geht darum die Systemfrage zu stellen und Ordnung als das begreifbar zu machen was sie ist. Totenstille.

Seit mehreren Jahren versucht die Innenbehörde das nicht angemeldete Fest zu verhindern. Mal mit sanftem Drängen, mal mit Drohungen, bisweilen mit Gewalt und martialischen Großeinsatz. Doch durch die große Anzahl der Feiernden und einige Standortfaktoren im positiveren Sinne scheiterte sie jedes Mal kläglich.

Die Aufgabe eines formalen Ablaufes mit Anmeldung, war einst als bewusste politische Konfrontation mit einer immer dreister agierenden Polizei gedacht, doch sie war gleichfalls auch ein Eingeständnis des Scheiterns einer bisherigen autonomen Praxis in der Stadtteilpolitik.

Was als kleines Fest im Rahmen der Kämpfe um die Rote Flora begann, wurde im Zuge der sich entwickelnden Umstrukturierung zu einem Massenevent, dass sich längst zum Konsumfaktor entwickelt hatte. Immer weniger bereiteten für immer mehr Menschen eine immer größer werdende Veranstaltung vor. Zwei Möglichkeiten boten sich. Kommerzialisierung und reich werden oder woanders hingehen. Arm bleiben aber dafür auch unter sich eine homogene Szeneveranstaltung für die eigene Klientel abzufeiern. Beides blieb letztlich aus. Stattdessen wurde dem faktischen Umstand, dass sich das Fest längst selbst organisiert, auch strukturell Rechnung getragen. Ohne eine Anmeldung verschoben sich die Koordinaten wieder zugunsten eines subversiveren Verlaufes. Diese Subversivität entstand aber nicht mehr aus der Hegemonie einer radikalen Linken, sondern der selbstbestimmten Form der Durchführung. Einer Mischung aus Marktradikalität von KleinhändlerInnen, egozentrischem Konsumbedürfnis mehrheitlich unpolitischer PartygängerInnen und einem, darin bisweilen mehr untergehendem als blühendem, ambitionierten Aktivismus. Chaos als Prinzip. Illegalität setzte dem Kommerz einige Grenzen und schafft erstaunliche Blickwinkel für alle die selbst Teil davon sind. Das Fest wurde nicht autonomer oder linker, die meisten BesucherInnen sind und blieben sicher ausgesprochen unpolitisch, aber ob sie wollten oder nicht befanden sich alle BesucherInnen und Mitwirkende in einem Prozess der Aneignung des öffentlichen Raumes.

Das Straßenfest ist ein Beispiel, dass Protest unberechenbare Wege gehen und sich in ungewöhnlichen Formen manifestierten kann und eben deshalb erstaunliche Dynamik entwickelt. Eine Praxis die nun dazu beitragen kann die Konstrukte der Bundesanwaltschaft anzukratzen und ein klitzekleines Lichtlein von Revolte ins ungewisse Morgen scheinen zu lassen.

Man müßte schon ein hoffnungsloser Optimist sein um heutzutage von einer bevorstehenden Revolution zu träumen. Daher ist das Motiv der französischen Revolution mit dem auf Plakaten und Flyern für das Schanzenfest geworben wird, wohl nicht als realistische Aufforderung zur Revolution zu verstehen. Vermutlich auch nicht als Bezug auf die fragwürdig ritualisierten Krawalle im Anschluss des Festes, die jährlich als sinnentleerter Beitrag von Innenbehörde und Polizei inszeniert werden. Es ist vielmehr eine Metapher darauf, dass Freiheit im historischen Prozess auch immer mit der Gewaltfrage zu tun hat. Der autoritäre Staat und staatliche Gewalt besitzen in Deutschland eine Tradition, die nicht nur zur Erhaltung grundlegender bürgerrechtlicher Minimalstandards auf die Barrrikaden zwingt, sondern immer auch zum Erhalt emanzipatiorischer Ideen überhaupt.

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DOKUMENTATION DES AUFRUFES ZUM SCHANZENFEST

22.09.2007: Straßenfest im Schanzenviertel
Wir sind alle 129a

»Fühlen Sie sich sicher?« Vor lauter besorgtem Staat um »unsere« Sicherheit fühlen wir uns jedenfalls schon lange nicht mehr wohl. Kameraüberwachung , Polizeipräsenz, §129a Verfahren, das BKA im Versandzentrum der Post, die Bundeswehr mobilgemacht zur Aufklärung rund um das G8 Treffen in Heiligendamm. Doch scheinbar umgibt uns in der aufgerasterten und gläsernen Wirklichkeit unseres Alltages immer noch nicht genug Sicherheit.

Geplant sind weitere Präventivbefugnisse für das BKA, Vereinfachungen beim großen Lauschangriff, heimliche Online-Durchsuchungen und die Nutzung von LKW-Maut-Daten. 30 Jahre nach dem deutschen Herbst könnte man meinen, die RAF wäre wieder auferstanden, so bleiern die gefühlte Lage der Nation. Die Realität sieht anders aus. Anlass für die jüngsten Verfahren nach §129a sind gerade mal Farbbeutel, Steinwürfe und einige abgebrannte Autos. Nicht gerade das, was gemeinhin als Schwerverbrechen betrachtet wird. Doch kriminalisiert werden nicht Taten, sondern politische Ideen und Strukturen. Auf den Busch klopfen eben, wie sich ein Ermittler nach bundesweiten Razzien und der Durchsuchung der Roten Flora ausgedrückt hat. Im Rahmen der G8-Proteste hat sich ebenso dramatisch wie beispielhaft ausgedrückt, wie der Staat mit Kritik und seinen Mitteln zur Repression umgeht. Es hat sich aber auch gezeigt, dass sich trotz totalitärer Überwachung und Repression, solidarischer Widerstand entwickeln kann.

Legitimiert wird ein allumfassender Sicherheitsapparat regelmäßig mit der Sorge vor schweren Attentaten, Mord oder sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Der Staat verspricht Sicherheit, als bewaffneter Arm eines Bürgerwillens, der formale Ordnung als Grundpfeiler solcher Sicherheit versteht und heiligt. Und Ordnung wird neuerdings von Afghanistan bis Bad Reichenhall verteidigt. Denn jeder Schrebergarten eine Grenze und jede Grenze ein vorgelagerter Schutzwall deutscher Interessen. Angewendet werden Möglichkeiten aus dem Arsenal der Terrorismusbekämpfung, wenn sie erstmal da sind, gegen alles, was möglich ist. Ist z.B. mit dem Mautsystem die technische Möglichkeit zur Datensammlung erst einmal gegeben, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis dies auf eine rechtliche Grundlage gehoben wird, vorgeblich um Schwerverbrechen zu bekämpfen. Läuft diese Maßnahme dann an, wird sie aber auch im Routinealltag gegen kleinste Vergehen eingesetzt. Ist eine Kamera installiert, dann wird damit natürlich auch jede Bewegung die ins Blickfeld gerät, präventiv verfolgt. Die Möglichkeit der Kontrolle entwickelt durch ihr reines Vorhandensein eine eigene gleichsam unkontrollierbare Dynamik und Anwendungsbreite.

Der Rechtsstaat ist zum äußersten entschlossen und so empfiehlt dessen oberster Vollstrecker Wolfgang Schäuble inzwischen auch selbstbewusst gezielte Morde gegen Verdächtige. Übers Ziel hinausgeschossen? Abwarten! Die Strategie solcher Forderungen ist seit Jahren die gleiche. Erst ein Tabubruch, dann Schwamm drüber. Ein paar Jahre später kommt dann derselbe Vorschlag als unaufgeregte Gesetzesvorlage zur Diskussion. Ein Thema, das endlich »unbefangen«, frei von deutscher Zurückhaltung und Geschichte, geredet werden müsse, heißt es dann gerne. Tatsächlich werden mit der Verschärfung des Sicherheitsstaates zahlreiche bürgerrechtliche Mindeststandards abgeschafft, die nach dem Nationalsozialismus ganz bewusst eingeführt worden sind. Die Abwicklung von persönlichen Freiheiten und Rechten wird begleitet von der Abwicklung und Enttabuisierung der deutschen Geschichte.

Deutschland will unter allen Umständen wieder normal werden und zu dieser Form deutscher Normalitätstradition gehört nunmal der Auslandseinsatz deutscher Soldaten ebenso wie ein autoritärer Staat im Inneren. Soviel Normalität treibt uns einen kalten Schauer über den Rücken. Wir wollen diesem mit einem sonnigen Straßenfest begegnen. Der öffentliche Raum ist für uns kein Hochsicherheitstrakt und auch kein ökonomischer Standortfaktor. Wir steigern unser subjektives Sicherheitsempfinden, indem wir diesen Raum ungefragt zur Bühne der Auseinandersetzung machen und ihn mit unseren widerstrebenden Lebensentwürfen füllen. Wir wenden uns mit dem diesjährigen Schanzenviertelfest gegen den weiteren Ausbau eines Sicherheitsapparates, der eine Normalität zu verteidigen sucht, die längst nicht mehr die unsere ist.

Wir sind alle 129a, weil der Blick auf uns derselbe ist!
Ein ca. 3cm großes rundes Loch an jeder dritten Straßenecke, das unser Leben in Bits und Bytes verwandelt, in biometrische Daten und computerlesbare Ausweise. Wir sind 129a weil wir ein trotziges Fest feiern, uns diesen Blicken und einer Kultur der Anpassung widersetzen. Wir sind selbstorganisiert, machen Infostände, Flohmarkt, Musik, Straßentheater oder sind ein Teil des Ganzen, indem wir einfach mit dabei sind.

»Wider den Absolutismus des Sicherheitsstaates!«
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