Quedlinburg

Quedlinburg - Krauts and more 11.09.2007 16:48
Vor 15 Jahren, im September 1992, griffen Nazis aus Halberstadt und Quedlinburg mehrere Tage lang ein Flüchtlingsheim in Quedlinburg an. In der ersten Nacht flogen Steine, Feuerwerkskörper und Molotow-Cockatails, am zweiten Tag kamen zu den rassistischen Randalen schon mehrere hundert Menschen. Erst am dritten Tag hielt die Polizei ein massives Eingreifen für nötig. Dies dürfte wohl auch dem Umstand geschuldet sein, dass AntifaschistInnen zu einer aktiven Verteidigung des Geländes angereist waren. Am 15. September, 15 Jahre danach, will die NPD mit Unterstützung von JN und „Freien Kameradschaften“ das erste Mal seit 1945 einen genehmigten Naziaufmarsch unter dem Motto „Und wer schützt uns vor euch?“ in der Weltkulturerbestadt im Harz durchführen - angemeldet durch Matthias Heyder vom NPD-Kreisverband Harz.
Der Aufmarsch durch Quedlinburg greift das Motto eines bürgerlichen Bündnisses auf, das tags zuvor zur Rückeroberung öffentlicher Plätze in der Nachbarstadt Halberstadt aufruft. Auch die Verbote verschiedener Gedenkveranstaltungen zu Ehren des Nazi-Kriegsverbrechers Rudolph Hess im letzten Monat scheinen die Nazis verärgert zu haben. Der Aufmarsch hat somit Symbolcharakter für die regionale Rechte.

Der Kreisverband der NPD um den Immobilienmakler aus Elbingerode gilt als aktives Element der lokalen Naziszene. Bundesweit fand besonders im vergangenen Jahr die „Verhinderung“ eines Konzertes mit dem Liedermacher Konstantin Wecker in Halberstadt durch ein von heyder verfasstes Schreiben an den Halberstädter Landrat Beachtung. Auch sonst ist Heyder bemüht, sich durch Provokationen in den öffentlichen Diskurs einzubringen. So organisierte er zum Besuch des israelischen Botschafters in Halberstädter Dom eine Mahnwache gegen Israel in unmittelbarer Sichtweite oder filmte in Wernigerode als Zuschauer die Störaktion einer nicht-rechten Veranstaltung, die anschließend auf dem „Nationalen Beobachter“ veröffentlicht wurde. Neben der NPD spielen vorallem die „Jungen Nationaldemokraten“ im Harz eine wichtige Rolle. Sie sorgen für die Einbindung bislang unorganisierter Nazis, Neulingen, Saufkameraden und Freizeithooligans. So gründete sich erst kürzlich ein JN-Stützpunkt in in Blankenburg. Die verkürzte Kapitalismuskritik von NPD und JN trifft auch bei einem nicht geringen Teil der Bevölkerung auf offene Ohren. Gerade in vielen kleineren Orten und Städten im Harz bot bislang, wenn nicht eine gewisse Hegemonie, dann doch wenigstens Ignoranz die Voraussetzung für den Ausbau und die Festigung lokaler Nazistrukturen.

Antifaschistische Strukturen haben, wenn vorhanden, mit einer hohen Fluktuation zu kämpfen. Wer kann, zieht weg. Wer dennoch hierbleiben muss/will, muss sich mit den rechten Schlägern, einer immer selbstbewusster agierenden Naziszene und staatlichen Repressionen auseinandersetzen.
Am Rande einer antifaschistischen Kundgebung im Juli 2007 wurden in Wernigerode mehrere AntifaschistInnen mit einem völlig überzogenen Polizeieinsatz und „couragierten Beamten“ des Staatsschutzdezernates Halberstadt konfrontiert. Ein Jugendlicher wird der „Sachbeschädigung“ beschuldigt, weil er einen rechten Aufkleber unkenntlich machte. Ein Teilnehmer soll sich vor Gericht für einen zu hoch gezogenen Schal verantworten, mit dem er sich vor Fotografen aus der AntiAntifa-Szene schützen wollte. Wie es scheint, berechtigt – denn immer wieder setzen Nazis auf die Einschüchterung ihrer Gegner. Auf den Internetseiten der NPD und der „Jungen Nationaldemokraten“ erscheinen immer wieder steckbriefartige Hetzartikel über unliebsame Personen. So scheint es nicht überraschend, dass Matthias Heyder 2005 mit dem Projekt „Red Watch Deutschland“ in Verbindung gebracht wurde. Die vorallem vom paramilitärischen Flügel des “Blood and Honour“-Netzwerkes, der rechten Terrororganisation „Combat 18“ geprägte Abschussliste potentieller Feinde wurde über eine von ihm angemeldete Domain weitergeleitet.

Runde Tische, Präventionsräte und sonstige Verhütungsmittel gegen den „Rechtsextremismus“ wirken meist nur wie der hilflose Versuch, „das Problem“ medienwirksam in den Griff zu bekommen. Das es sich nicht um ein Problem am Rande der Gesellschaft handelt und Übergriffe auf alles Nicht-Rechte längst nicht mehr verwirrten, arbeitslosen Jugendlichen ohne Perspektive in die Schuhe geschoben werden können, passt oftmals nicht in das Bild einer Region, die nicht zuletzt vom Tourismus lebt. Das die Zivilgesellschaft im Harz erst nach steigenen Gewalttaten rechter Schläger aktiv wird, ist ebenfalls bezeichnend. Übergriffe gehören zum rechten Alltag und sind keine Zufälle. Die organisierte Naziszene im Harz versucht zunehmend, sich im gesellschaftlichen Alltag zu integrieren und trifft dabei nur selten auf aktive Gegenwehr.

Wir halten es daher für wichtig, gemeinsam in einem breiten Bündnis die Nazis daran zu hindern, ihre antisemitische und völkische Scheisse in Quedlinburg abzuladen und gleichzeitig rechte Tendenzen in der Gesellschaft zu thematisieren. Wir wollen den Nazis von Anfang an keinen Raum überlassen und nicht erst nach rechten Übergriffen reagieren. Daher rufen wir alle AntifaschistInnen auf, sich an den Gegenaktivitäten dieses Tages zu beteiligen und dafür zu sorgen, dass den Nazis kein Raum für ihre braune Propaganda überlassen wird!

Mehr Informationen zu den Gegenaktivitäten:
www.querstellen.tk
Creative Commons-Lizenzvertrag Dieser Inhalt ist unter einer
Creative Commons-Lizenz lizenziert.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

Zu Absatz 1

Kolpotnik 12.09.2007 - 04:32
Das erwähnte massive Eingreifen der Bullen beim Pogrom in Q 92-ein Gedächtnisprotokoll:
"Wir waren mit etwa 35-40 Leuten aus 2 westdeutschen Städten über Stunden zum Teil auf Schleichwegen in einem kleinen PKW-Konvoi angereist. Als wir etwa zwischen 21 und 22 Uhr
vor der angegriffenen Flüchtlingsunterkunft eintrafen bot sich uns folgendes Bild:
Das Gebäude wies mehrere Abbrandspuren irgendwelcher Brandsätze an der Aussenwand auf,
die Fensterläden waren verrammelt, auf dem schmalen Fussweg direkt vor dem Haus befand sich eine Mahnwache, die sich durch Fahnen und Transparente (PDS und ChristInnen) notdürftig gegen zahlreiche anfliegende Flaschen und Steine zu schützen versuchte.
Das können kaum mehr als 20 Leute gewesen sein.
Der Mob,aus dem heraus sowohl Gruppen von sich äusserlich zu erkennen gebenden Nazis,
wie auch angetrunkene "Normalo"-Jungmänner unter vielstimmigem Johlen und Beifall
ihre Angriffe auf Haus und Mahnwache vortrugen, war zahlenmässig kaum überschaubar und
staute sich bis in die Nebenstrassen. Eine Strassenecke weiter in etwa 200m Entfernung
befand sich ein altersschwacher Lada aus Vopo-Zeiten mit 2 Beamten, weitere polizei-
präsenz war nicht erkennbar.In dieser Situation freute sich auch der Pastor der pazifistisch angelegten Mahnwache über jede Verstärkung, und seien es ungläubige autonome Antifas aus dem Westen.
Wir stellten uns zunächst direkt neben die Mahnwache, ebenfalls mit Transparenten etliche
Wurfgeschosse abwehrend, was die Flaschen, Steine und Feuerwerkskörper werfenden Nazis
zusätzlich motivierte.
Die angreifenden Nazis bewegten sich in dieser Menschenmenge wie "Fische im Wasser",der Übergang zwischen ihnen, gelegentlich mitrandalierenden Jugendlichen, Beifallklatschenden
und stumpfen GafferInnen war bruchlos und fliessend.
Nach maximal 20-25 min wurde die Situation der zunehmenden Nazi-attacken mit unserem
bisher weitestgehend defensiven Auftreten unhaltbar. Die Lage war für die auf antifaschistischer Seite Beteiligten äusserst bedrohlich geworden, wir standen buchstäblich und materiell mit dem Rücken zur Wand, hatten eingekreistermassen
nicht mal ne Fluchtoption.
Unser Ausfall war demgemäss weder geplant noch abgesprochen, sondern eine pure Verzweiflungstat.
Wir feuerten vereinzelt Signalmunition und warfen was wir greifen konnten auf die Angreifer,der Effekt war beeindruckend:
Die tausendköpfige Pogrommeute löste sich in wilder Panik auf, wir setzten einzelnen Nazitrupps z.T. noch hunderte Meter nach, als die Ansage kam: "DIE BULLEN KOMMEN!"
Noch während sich die Einsatzhundertschaften z.T. aus Magdeburg aus ihren Fahrzeugen
aussteigend und die Kampfausrüstung anlegend formierten, war die antifaschistische
Ansammlung um ein mehrfaches angewachsen, wir hatten offensichtlich temporär einen Raum freigesetzt, in dem sich viele antifaschistische Jugendliche endlich auf die Strasse
trauten, die völkische Hegemonie schien situativ gebrochen.
Als wir dann mit etwa 250 Leuten in einer lautstarken Demo loszogen, bildeten die Bullen ein hastiges Spalier, konnten uns aber nicht wirklich aufhalten.
Bereits nach einigen hundert Metern flog ein von Nazis aus einem Gebüsch an der Demoroute
geworfener Molli durch das Bullenspalier mitten in unsere Demo, glücklicherweise konnten
alle irgendwie ausweichen und der Brandsatz verwandelte ein paar Quadratmeter Strasse
vor unseren Füssen in eine brennende Fläche.
Anstelle der Täter wurden unsere Leute, die diese verfolgten, von den Bullen angegriffen, der Rückzug der Nazi-angreifer unter Knüppeleinsatz von der Polizei gedeckt
Dennoch konnten wir ausgiebig und laut durch die ganze Stadt demonstrieren und die Stimmung war gut bis beinahe euphorisch.
Wir sind dann mit gemischten Gefühlen nach Hause gefahren,zum einen wars im Ergebnis
ein Erfolg, mit so wenig Leuten einen Pogrom zu beenden, zum anderen verpissen wir uns
und überlassen den von uns mobilisierten Bullen den Schutz der Flüchtlinge ?
Jedenfalls endeten damit vorläufig die rassistischen Ausschreitungen in Quedlinburg. "