Zerfallene Gesellschaft, Revisionismus, Nazis

Dokumentation Gardelegen 17.08.2007 03:07 Themen: Antifa Repression
 Wie der Alltag in der ostdeutschen Kleinstadt Gardelegen in Sachsen-Anhalt aussieht, dokumentiert folgender Beitrag. Darin wird die Diskussion um die Mahn- und Gedenkstätte, eine Naziattacke bei einem Stadtfest, die skandalösen Äußerungen eines unmotivierten Polizeibeamten vor Ort und der Versuch, dies über Lokalzeitungen öffentlich zu machen, beleuchtet. Der vorliegende Artikel soll aufzeigen, wie gefährlich der Alltag für alternative oder gar antifaschistische Menschen in der Provinz ist. Fehlende Anonymität von AktivistInnen, Politikverdrossenheit oder Sympathien für faschistisches Gedankengut in breiten Bevölkerungsschichten und Angst durch gezielte Übergriffe in SA-Manier machen antifaschistische Arbeit beinahe unmöglich.

Bild: Opfer des Nazimassakers an der Gardeleger Feldscheune
      Inhalt
     1. Gardelegen – stille Provinz

Gardelegen, eine Kleinstadt im Norden Sachsen Anhalts, ist in den letzten Jahren immer mal wieder durch Negativschlagzeilen bekannt geworden. Zum Beispiel durch die Diskussion über die hiesige Karl-Marx-Sekundarschule, aufgekommen durch eine mit dem Handy gefilmte Prügelorgie, in der die umstehenden Schüler vergnügt zusehen, wie eine 16 Jährige eine andere mit einem Schlagring krankenhausreif schlägt und den Überfall der letztjährigen Abschlussklasse an ihrem letzten Schultag auf das Gymnasium, wobei Schüler des Gymnasiums geschlagen und Scheiben eingeworfen wurden.

Strukturschwache Region, geringe Bevölkerungsdichte, Abwanderung gen Westen, Arbeitslosigkeit, geringe Reproduktionschancen. Schlagworte einer zerfallenden oder einer schon zerfallenen Gesellschaft. Wer kann, geht weg.



Die Region hat die geringste Bevölkerungsdichte aller Landkreise Sachsen-Anhalts. Gardelegen selbst hat 11.500 Einwohner. Ein schlecht bezahlender Autoteileproduzent (AKT) ist der größte Arbeitgeber, hier und in der ganzen Region. Einige kleinere produzierende Gewerbe und Industrien auf dem Niedriglohnsektor, die zwischen 16 und 22% schwankende Arbeitslosenquote und 21% Jugendarbeitslosigkeit runden das Bild einer verarmenden oder bereits verarmten Bevölkerung ab. Hier ist die Erhöhung der Milchpreise ein Skandal, die Leute schreien auf – Parolengedresche in den Supermärkten. Nicht so groß ist die Empörung über die Geschichtsumdeutung des mittlerweile Ex-Verantwortlichen der Gardeleger Mahn- und Gedenkstätte Isenschnibbe.


     2. Mahn- und Gedenkstätte – ein kleiner Historikerstreit

„Die Stadt darf auf keinen Fall aus ihrer Verantwortung entlassen werden“, fordert Paul Schmidt vom Förderverein Gedenkstätte Gardelegen. „Sie trägt historische Verantwortung. Das ist sicher auch ein Grund für die relative Stille vieler Bürger bei uns in der Stadt.“

Ein neuer Historikerstreit ist entbrannt. Dieser findet zwar in der Provinz statt und wird folglich nicht so hohe Wellen schlagen wie das Original im Jahr 1986, doch gibt auch dieser Erinnerungsdiskurs Auskunft über den Umgang mit der NS-Vergangenheit und die darüber in der Gesellschaft wirkenden Wahrnehmungsmuster. Welche Aussagen bezüglich der Art und Weise des offiziellen Erinnerns heute möglich sind, soll folgender „Historikerstreit“, der Anfang Juli ins Rollen kam, verdeutlichen.

Der Streit entzündete sich an der geplanten Neuinstallation von Informationstafeln auf der Mahn- und Gedenkstätte in Gardelegen. Hier kam es am Abend des 13. Aprils 1945 zu einem Massaker an 1.016 Häftlingen, die am Rande der Stadt in eine Feldscheune gesperrt, bei lebendigem Leib verbrannten. Sich aus der Feldscheune befreiende Häftlinge liefen den Bewachern in die Maschinengewehrsalven. Die Bewacher waren SS-Leute, Luftwaffensoldaten, Angehörige der KZ-Wachmannschaften, Angehörige des Reichsarbeitsdienstes, Angehörige des Volkssturms sowie 25 ausgewählte Funktionshäftlinge (auch Kapos genannt). Diese Kapos wurden von der SS ernannt und waren „Volksdeutsche“. Auf den von verschiedenen Ortschaften zurückgelegten Todesmärschen töteten SS-Männer zuvor schätzungsweise 300 bis 400 Häftlinge, die den körperlichen Strapazen nicht mehr gewachsen waren. Am 14. April wurde Gardelegen von der 102. US Infantry-Division befreit.



Dr. Herbert Becker, Museumsleiter und Leiter der Mahn- und Gedenkstätte in Gardelegen, verkündet nun auf den von ihm ausgearbeiteten neuen Informationstafeln für die Gedenkstätte: „Am 12. und 13. April 1945 ergänzte der SS-Transportführer die verbliebene reguläre Wachmannschaft aus SS-Männern, ehemaligen Wehrmachtsangehörigen und Funktionshäftlingen durch zahlreiche Freiwillige aus den Reihen der Gefangenen.“ Diese „neuformierte Wachmannschaft“ habe die Gefangenen zur Feldscheune gebracht, diese Wachmannschaft habe dort mit der Ermordung der Häftlinge begonnen.

Herbert Becker hatte schon 1998 einen Text mit dem Titel „Dokumentenschau“ ausgearbeitet. Darin befindet sich das Kapitel „Die Blutorgie der Kapos“. Er stilisiert sich darin als unverkrampften Vorreiter eines „schreckenerregende[n] Kapitel[s], das bislang öffentlich verschwiegen worden“ sei. Ferner heißt es darin, die ausgewählten Häftlinge hätten am 13. April 1945 Wehrmachtsuniformen erhalten, zu ihnen sei zudem gesagt worden, „daß sie heute noch die Häftlinge zu erschießen haben. Dafür wird ihnen die KZ-übliche Belohnung für die Erledigung von Sonderaufträgen versprochen: Schnaps, Zigaretten und SS-Verpflegung.“ Am nächsten Tag hätten die „Häftlingswachen von der SS offenbar umgehend den vereinbarten Lohn für den Job erhalten.“

Jedoch ist das noch nicht das Ende vom Lied. Wie erst jetzt bekannt wurde, hat Herbert Becker im März und April 2004 und im Dezember 2005 insgesamt zehn Strafanzeigen wegen Mordes gegen KZ-Häftlinge gestellt. Alle zehn Strafanzeigen richteten sich gegen damalige Funktionshäftlinge bzw. Kapos. Der Sprecher der Stendaler Staatsanwaltschaft Thomas Kramer bestätigte dies. Das letzte Verfahren sei im Januar 2007 eingestellt worden.

Herbert Becker lehnte auf Anfrage der Zeitung Volksstimme ein Gespräch sowie die Beantwortung eines Fragenkataloges ab. Am Telefon argumentierte er abwehrend und unschlüssig, es handele sich nicht um Strafanzeigen gegen Häftlinge, sondern „gegen SS-Leute“. Denn: „Die sind zur SS übergelaufen.“

Darüber hinaus anonymisiert er das Verbrechen auf den neuen Tafeln. Im Gegensatz zur bisherigen Darstellung der Ermordung auf den alten Info-Tafeln entpersonalisiert er die Täter und Verantwortlichen zu namenlosen Funktionsträgern. Lediglich der Kommandeur der 102. US-Infantry-Division General Frank A. Keating wird mit Namen benannt. Ansonsten liest sich die Planung und Ausführung der Ermordung wie ein von den äußeren Umständen notwendig herbeigeführtes Übel. Es ist die Rede vom Kommandanten des Militärflugplatzes in Gardelegen, der die „Gefangenen ursprünglich schnell abschieben wollte“, einem SS-Unterscharführer, der die Wachmannschaften „für die Ermordung der Gefangenen in der Feldscheune“ eingewiesen haben soll, einem Kampfkommandanten, der die Befehlsgewalt an der Scheune zum 14. April 1945 hin einem anderen namentlich nicht erwähnten Kommandanten des Volkssturmes übertragen haben soll, und den „hiesigen Befehlshabern“, die die Feldscheune „als geeigneten Ort für ihr Vorgehen gegen die Häftlinge bestimmten“. Über den NSDAP-Kreisleiter Gerhard Thiele, der sich rechtzeitig in den Westen absetzen konnte und bis zu seinem Tod in den 90-ziger Jahren mit neuer Identität in Düsseldorf lebte, verliert Becker kein Wort.



Gardelegens Bürgermeister Konrad Fuchs hielt seit acht Jahren zu Becker. Sein Kommentar zu einem drohenden Imageverlust der Stadt: „Schuld sind die, die das künstlich hochspielen. Die braune Brut wartet nur darauf.“ Inzwischen hat er die Notwendigkeit einer Personaländerung aber eingesehen und Becker von seiner Stelle entlassen.

Ein Mitglied des Zentralrats der Juden sowie ein Mitglied des Zentralrats der Roma und Sinti kritisierten die Stadt für ihren Museumsleiter und die herrschende Erinnerungskultur, die eher als Erinnerungspflicht zu bezeichnen ist, heftig. Dr. Jens-Christian Wagner, Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, erklärte, dass für die Funktionshäftlinge nicht Genussmittel und Verpflegung die Motivation zum Morden waren, „sondern die existentielle Zwangslage für jemanden, der selbst mit dem Tod bedroht wird“. Im Gegensatz dazu geschah das Ermorden bei SS-Männern, Wehrmachtssoldaten etc. aus innerer Überzeugung. Dr. Wagner wolle nicht sagen, „dass die Kapos unschuldig waren“, aber ihre Lage „verbiete uns ein Urteil“.

Dass Dr. Becker dabei nichts anderes als einen lupenreinen Geschichtsrevisionismus praktiziere, attestiert ihm auch Wagner. Dr. Becker gehe es darum, „Menschen zu belasten, die weniger schuldig sind und die Täter zu entlasten“. Dahinter stünden Beckers „fast missionarisch vorgetragene Bemühungen, von der Mitwirkung der Gardeleger am Massaker abzulenken und die Schuld den Häftlingen selbst in die Schuhe zu schieben“. Die Schluld der Kapos ließe sich aber nach den heutigen juristischen und ethischen Maßstäben weder bewerten noch verurteilen.

Wagner bringt es auf den Punkt, wenn er seinem Kollegen vorwirft: „Wer das Verhalten von Häftlingen kriminalisiert, folgt dem Bild, das die Nazis von den Häftlingen gezeichnet haben. Und mit einer Anzeige kriminalisiere ich die Häftlinge.“

Es scheint so, als wäre das letzte Wort um die neuen Informationstafeln noch nicht gesprochen. Man darf gespannt sein, wie sich dieser Streit weiter entwickelt. Fest steht jedenfalls, dass die offizielle Erinnerungskultur weiter in kaum vorstellbare Deutungsbereiche dringt. Geschichte wird zunehmend aus historischen Zusammenhängen gerissen. Dr. Becker als promovierter Pädagoge müsste um die Wirksamkeit seines Revisionismus Bescheid wissen, denn er schrieb seine Doktorarbeit 1988 zum Thema: „Die Erhöhung der Wirksamkeit des Staatsbürgerkundeunterrichtes“. Er hatte zudem in der DDR die Redaktion für etliche Filme für den Staatsbürgerkundeunterricht wie beispielsweise „Imperialismus – Parasit der Völker“.

Am Montag, den 13. August, beschloss der Stadtrat Gardelegens in einer Sondersitzung ein Positionspapier, in dem die Verantwortung der Stadt Gardelegen für die Mahn- und Gedenkstätte bekräftigt wurde. Die öffentliche Sitzung schien turbulent zu werden, als im ersten Redebeitrag die ehemalige Bürgermeisterin Hannelore von Baehr (parteilos) begann: „Ist das Thema so wichtig, dass wir eine außerordentliche Stadtratssitzung einberufen mussten?“ Die Parteien hatten allerdings schon vorher auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners das Positionspapier erarbeitet, so dass dessen Verabschiedung ein rein formaler Akt wurde. In Erinnerung bleiben auch die letzten Worte der kurzen Diskussion. Wieder von Baehr, die den ehemaligen Mahn- und Gedenkstättenleiter Becker als wissenschaftlichen Experten hören wollte: „Bis dahin sollten wir über das Thema einfach schweigen.“

Nicht schweigen wollten andere.


     3. Naziübergriff auf Stadtfest

Stadtfeste, wie das alljährlich stattfindende Hansefest, werden von Nazis genutzt, sich zu versammeln und ihre Stärke zu demonstrieren. Viele in den letzten Jahren durch Nazi-Gewalttaten Verletzte sprechen eine deutliche Sprache. Rassistisch oder politisch motivierte Übergriffe gehören beinahe zum Alltag. Erst nachdem vor wenigen Jahren ein Nazi den ganzen Abend ungestört in SA-Uniform mit Hakenkreuzbinde über das Gardeleger Stadtfest marschiert war, reagierte die Polizei. Im folgenden Jahr sichern voll ausgerüstete Einsatzhundertschaften und Hundestaffeln das Fest. Der Einsatz wird als unverhältnismäßig angesehen – und die nächsten Stadtfeste finden wieder ohne Polizeigroßeinsatz, aber mit den bereits bekannten Gewalttaten statt.

Ein kurzer Blick auf die Menschen auf dem Fest reicht aus, sich ein schockierendes Bild der gesellschaftlichen Situation zu machen. Die so genannte Mittelschicht, so sie überhaupt noch existiert, bleibt diesen exzessiven Besäufnissen fern. Nazikader, Schlägernazis, Prolls und die Bauern vom Dorf vermischen sich zu einer widerlichen Masse aus Thor Steinar und anderen Szeneklamotten und deren Imitaten. Hier wird Londsdale noch von den Nazis getragen! Andere Festbesucher stören sich nicht am braunen Treiben. Von Akzeptanz kann erst gesprochen werden, wenn etwas als Problem ausgemacht wird. Und als das wird der ordentliche Junge von nebenan hier nicht angesehen.

Am Morgen des 5.8. griff ein Nazi aus einer Gruppe heraus ohne Grund (außer natürlich, dass seine Opfer keine Nazis waren) einzelne Menschen in der Nähe der Disko ‚Feuerwache’ an. Dabei schlug er gleich mehrere Personen. Eine der geschlagenen Personen sagte daraufhin sinngemäß: Zuschlagen, das könnt ihr Nazis. Wie damals mit den Juden. Ich bin Jude, schlag doch zu.

Daraufhin schrie der Nazi immer wieder das Wort „Jude“ und schlug und trat noch mehrfach auf sein Opfer ein. Aufgrund dieser Tatsache ermittelt neben der Kriminalpolizei auch der Staatsschutz.

Ein anderer junger Mann wurde geschlagen und stürzte zu Boden. Sein linkes Schlüsselbein brach durch diese Gewaltanwendung. Viel später hielt ein anderer Nazi, der dem Treiben seines Freundes zugesehen hatte, diesen zurück und sie verschwanden. Ohne sich zu wehren, wurden mindestens drei Personen zusammengeschlagen und zum Teil erheblich verletzt. Der Haupttäter, Patrick Ahlfeld, konnte später aus einer Vielzahl von Polizeifotos, auf denen das ganze Ausmaß der lokalen Naziszene deutlich wurde, identifiziert werden. Der bereits wegen Körperverletzung vorbestrafte Nazi wurde am Mittwoch, den 8.8. festgenommen, auf richterliche Anordnung aber gleich wieder freigelassen. Schon einen Tag später wurde der Täter mehrfach gesehen, wie er mit Freunden die kleine Stadt nach seinen Opfern absuchte.

Kritikwürdiger Polizeieinsatz

Unmittelbar nach dem beschriebenen Nazi-Angriff wurde die Polizei gerufen. Die zwei eingetroffenen Beamten ließen sich den Fall schildern, erteilten dann allerdings Platzverweise gegen die Opfer wegen Ruhestörung. Als kurz später einer der beteiligten Nazis zurückkam, wurde wieder die Polizei gerufen.

Beim Eintreffen der nun fünf Beamten weigerte sich einer von ihnen, die Anzeige der beiden Verletzen aufzunehmen und meinte, sie sollten nach Hause gehen und ihren Rausch ausschlafen. Erst durch eine weitere Person, die einen der anderen Polizisten kannte, konnte die Aufnahme der Anzeige durchgesetzt werden. Dabei weigerten sich die Polizisten anfangs jedoch, die offensichtlich rechtsextrem motivierte Straftat als solche anzuerkennen. Als die Geschädigten die Polizisten darauf aufmerksam machten, dass einer der Beteiligten in der Nähe stand, sagte der schon vorher aufgefallene Polizist, dass dies doch kein Nazi sei, sondern „Adolf“ – so der „Künstlernahme“ dieses polizeibekannten Nazis.

Hierüber machten im Nachhinein die Beamten andere Angaben als die Zeugen. So wird behauptet, ein Passant hätte diesen Satz gesagt. Die Zeugen bleiben allerdings bei ihrer Version. Nach einer Beschwerde wurde gegen den Beamten eine interne Untersuchung eingeleitet. Diese konterte er mit einer Anzeige gegen eines der Opfer wegen übler Nachrede, so wurde ihm vom Opfer sinngemäß auf die Aufforderung zum freiwilligen Alkoholtest geantwortet, das Opfer hätte nicht mehr Alkohol im Blut als er selbst. Ein Alkoholtest wurde weder beim Beschuldigten, noch beim Polizisten durchgeführt, so dass diese Frage wohl ungeklärt bleiben wird.

Tage später ist sogar noch ein weiterer Übergriff auf dem Hansefest bekannt geworden. Hierbei wurde eine Person wieder von Mitgliedern der rechten Szene zusammengeschlagen. Das Opfer erstattete keine Anzeige.

Das Schweigen aus Angst.


     4. Versuch eines Aufschreis

In den Lokalzeitungen Altmark Zeitung und Volksstimme (keine Nazizeitung, sondern typisch ostdeutsches DDR-Überbleibsel) wurde natürlich wieder einmal nur vom tollen Fest und keinen Vorkommnissen berichtet. Daraufhin wurden die Redaktionen beider Zeitungen direkt kontaktiert, um den Vorfall öffentlich zu machen. Doch die Zeitungen schwiegen weiter, wobei uns bekannt wurde, dass die Polizeiführung bei den Redakteuren darum gebeten hatte.

Am 15. August, also anderthalb Wochen später, gab es nun doch zeitgleich Artikel in beiden Zeitungen (in der Volksstimme sogar den gleichen Artikel in einer Ausgabe zweimal). Die Polizeiführung hatte nämlich am Vortag zur Pressekonferenz geladen. Der Naziübergriff wird als Mittel zum Zweck fast völlig unter den Tisch fallen gelassen. In verharmlosender Art und Weise ist von „Keilerei“ und „Streit“ die Rede, wo Menschen von einem Nazi ohne Gegenwehr zusammengeschlagen wurden.

Einzig die Polizeiversion über das mögliche Fehlverhalten des Polizisten wird ausführlich diskutiert. Dabei werden den Opfern exorbitanter Alkoholgenuss, Unzurechnungsfähigkeit und Wahrnehmungsstörungen unterstellt. Den Beamten sei zu keinem Zeitpunkt ein Vorwurf zu machen. Die Beschwerde ist eingestellt. Aus Opfern werden auch hier Täter – die Ermittlungen wegen übler Nachrede laufen weiter. Aus Tätern werden Opfer – zu „Adolf“ heißt es in der Altmark Zeitung: „Zumal der beschuldigte Rechte, so Gebur (Polizeichef Kreis Salzwedel), gar nicht der Haupttäter gewesen sei. Er habe den eigentlichen Schläger zum Schluss sogar zurückhalten wollen.“

Abenteuerlich wird es bei der Aufklärung der Bemerkung, es handele sich nicht um einen Nazi, sondern um „Adolf“. Hier wurde nun sogar ein ‚verlässlicher’ Zeuge gefunden, der von sich behauptet, selbst diese Bemerkung getätigt zu haben. Der Mann sei laut Polizei ‚angetrunken’ und auf der Suche nach seinem Auto gewesen (es war ca. 6:30 Uhr). Ob er auch damit fahren wollte, ist nicht bekannt. Gefunden hat er es jedenfalls nicht, so dass er die sich bietende Gelegenheit nutzte, bei den anwesenden Beamten eine Anzeige wegen Diebstahls aufzugeben. Dabei fiel dann dem Suffi ein, dass er gar nicht mit dem Auto unterwegs gewesen war. Dieser klärende Geistesblitz reicht nun der Polizei scheinbar als Beweis der Seriosität des Mannes, erklärt sie doch anhand seiner Aussage die Aussagen eines halben Dutzend Zeugen für falsch.

Die Aufnahme des Falls in den Medien gestaltete sich wie erwartet einseitig. Es ist nur schwer möglich, über die lokalen Medien eine rechtsextrem motivierte Straftat bekannt zu machen, ohne noch etwas „Spektakuläres“ beizufügen. Durch die heftige Kritik an Polizeieinsätzen in Halberstadt und Burg in folge rechtsextremer Übergriffe, bot sich hier die Chance zu handeln.

Von daher wurde der kritikwürdige Polizeieinsatz von uns benutzt, rechte Gewalt in Gardelegen in den öffentlichen Focus zu rücken. Die Altmark Zeitung ließ den rechten Gewaltakt nahezu vollständig unter den Tisch fallen. Die auflagenstärkere Volksstimme berichtete teilweise falsch und verzehrt, stellte den rechten Übergriff aber klar als solchen dar und druckte den Artikel nicht nur lokal, sondern auch regional.

Am Tag vor dem Erscheinen der Zeitungsartikel konnten viele Gardeleger BürgerInnen ein Flugblatt in ihren Briefkästen finden, in dem auf Nazigewalt in Gardelegen hingewiesen wird. Auf der Rückseite findet sich ein kurzer Text, der über das „Gedenken“ der Neonazis an den Naziverbrecher Rudolf Heß informiert.


     5. Gefahr für Opfer und Zeugen

Verschiedene Polizisten haben mittlerweile mehrere Opfer oder Zeugen des Übergriffes vor Racheakten der Nazis gewarnt. Dabei wurde von Polizeibeamten empfohlen, die Wohnungen abends nicht mehr zu verlassen.

In Anbetracht des 20. Todestages von Rudolf Heß und einer von den Nazis der Region geplanten Heß-Aktionswoche vom 17. bis zum 24. August steigt die Gefahr für diejenigen, die sich nicht schweigend der Ohnmacht ergeben. Nach den Verboten zentraler Gedenkveranstaltungen kristallisiert sich Gardelegen immer mehr als regionaler Aufmarschort heraus. Innerhalb der rechten Szene scheinen größere Aktionen geplant zu sein.


Nazigruppenfoto

Wie dummdreist die Nazis in ihrer sicheren Übermacht in dieser Stadt vorgehen können, zeigt ein weiteres Beispiel. Vor wenigen Tagen erhielt die Gardeleger Polizeidirektion Besuch von zwei stadtbekannten Neonazis, die sich erkundigten, was die „bekifften Linken und möchtegern Antifas“ gerade so planen.


Naziplagiat

Aber auch die Polizei ist nicht untätig. Unter dem Vorwand, uns nur bei Naziübergriffen schützen zu können, wenn unsere Namen bekannt seien, wurde eine Person unter Druck gesetzt, die Namen aller Beteiligten anzugeben, was sie allerdings nicht tat.

Zur Zeit versuchen Politiker und hohe Polizeibeamte der Ohnmacht gegenüber dem Rechtsextremismus durch Drohung mit härteren Strafen für die Täter zu begegnen. Hilfsprogramme für Opfer rechtsextremer Straftaten, z.B. der Verein Miteinander, eine mobile Opferberatung, werden nur spärlich vom Land unterstützt und leiden seit der Regierung Böhmer (CDU) immer stärker unter Mittelkürzungen. Tatsächlich richten sich Kampagnen der Landesregierung, wenn überhaupt, immer nur gegen die Nazis, die straffällig geworden sind oder dumm genug waren, sich erwischen zu lassen. Der tägliche Terror, die Einschüchterungen und Bedrohungen Andersdenkender bis hin zu Lokalpolitikern aller Parteien wird damit nicht weniger, das Bild auf den Straßen nicht anders.

Die zivilgesellschaftliche Taubheit, Blindheit und Stummheit machen jeden Versuch, den Nazis wirksam entgegen zu treten zu einer lebensgefährlichen Aufgabe. Es fehlt an allem. Kein Geld, keine Strukturen, nichts. Anonymität als bedeutendster Schutzmechanismus. Gesicht zeigen gegen Rechts? Eine Parole aus den größeren Städten, die an der Wirklichkeit dieser Provinzkleinstadt scheitert. Infoveranstaltungen, Dokumentation von Übergriffen, öffentliche Konzerte zur Unterstützung antifaschistischer Arbeit – undenkbar. Wir hoffen, dieser Aufschrei dringt heraus aus dieser schweigenden Provinzstadt Gardelegen.


     Ergänzungen
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Ergänzungen

@ altmark

asdf jklö 17.08.2007 - 12:49
Name:
fkkdknkdkdakskakakw

Sieh an, es gibt sogar Nazis, die die zehn Finger Schreibweise auf der Tastatur beherrschen.

Was schlechte Zeitungsartikel wieder bewirken, sieht man hier:
Leserbrief Altmarkzeitung vom 17.8.

"Sich schämen"

Zum Artikel "Vorwurf, der nicht ganz ohne ist" (AZ vom 15. August) erreichte uns ein Leserbrief von Christian Schettge aus Zichtau:
"Nachdem unsere Landespolizei in letzter Zeit häufiger unter Kritik in die Schlagzeilen geriet, ist es an der Zeit, auch einmal eine Lanze für unsere Ordnungshüter zu brechen. Betrunken durch die Stadt zu ziehen und in eine Schlägerei verwickelt zu werden, ist eine Seite. Hierfür hat der Täter bestraft zu werden. Erst Recht, wenn es jemand mit rechtsradikaler Gesinnung ist. Die andere Seite ist jedoch, die Polizisten bei ihrer Arbeit zu beleidigen und anzupöbeln. Einen Beamten sogar völlig falsch in die "rechte Ecke" zu rücken und dann noch die Stirn zu besitzen, sich über die Polizisten zu beschweren, dazu gehört schon allerhand. Ich spreche den Polizisten meine Hochachtung und meinen Respekt aus, uns täglich mit ihrem Leib und Leben zu schützen und auch noch in solchen Situationen die Ruhe zu bewahren. Die fünf Polizisten hätten dafür einen Orden verdient. Auch weiterhin fühle ich mich in den Händen der Polizei gut und sicher aufgehoben. Diese Jugendlichen sollten sich für ihr Verhalten schämen und sich schnellstens dafür entschuldigen, um wenigstens etwas Anstand zu zeigen."

Für mehr Info's aus der Altmark

Autonome Linke Salzwedel 17.08.2007 - 13:20
Um noch mehr Infos über neonazis aus der Altmark zu bekommen einfach per Mail bei uns melden...

 redical_left@web.de

www.redical-left.de

guter artikel

hammer&sichel 19.08.2007 - 00:27
Sehr guter Artikel, gut recherchiert und leider nur zu wahr.Bin vor ca.10-15 jahren selbst am Geschw. Scholl Gymnasium gewesen.War noch sehr jung damals, begann gerade erst im weitesten Sinne "links" zu sein (Kid-Punk :)). Schon damals waren Pöbeleien und Übergriffe von Nazis an der Tagesordnung, ich selbst wurde am Bhf. von mehreren Faschos mit Hund übern Acker gejagt.Das schlimme ist, das es schon damals normal war, das es einen Haufen Nazis gab. Selbst als "Linker" war es normal, das man jederzeit mit Übergriffen rechnen musste, entsprechend häufig hat man sich umgedreht... Damals gab es noch eine kleine Antifagruooe, ich glaub Rotkäppchen hiesen die (wie gesagt, war noch sehr jung damals). Gibt`s die eigentlich noch? Sind die übers Web zu erreichen? Mit solidarischen Grüßen:
einer der weggezogen ist.

PS: riesen Respekt für die Leute die dort weiterhin den Kampf aufnehmen!!!

Befehlsnotstand?

Anmerkende 19.08.2007 - 01:26
Die Rolle der Kapos, die, soweit ich es hier verstehe, mithalfen, ihre von ihnen ursprünglich mit Hilfe kleiner Vergünstigungen etc. im Sinne der Bewacher zu Disziplin und Subordination angehaltenen Mithäftlinge kaltzumachen, wird als ungeschehen betrachtet? beziehungsweise ihnen (den Kapos) wird Gefahr für Leib und Leben bescheinigt, was ihre Mitwirkung an der Mordorgie relativieren soll?

Das wäre der erste Fall in der gesamten, sehr umfangreichen NS-Forschung, dass der so oft behauptete Befehlsnotstand, auf Grund dessen viele NS-Verbrecher in der Nachkriegszeit freigesprochen wurden bzw. mit geringen Strafen davon kamen, wirklich EINMAL in realiter bestanden hätte.

Bitte genauer darlegen, ob dem Dr. Becker da tatsächlich unlautere Motive untergeschoben wurden oder ob er de facto unwahre Behauptungen von sich gegeben hat.

Danke!

A.

@fragende

fragender 19.08.2007 - 20:08
du solltest unterscheiden zwischen häftlingen, die in der tat bei strafe der eigenen ermordung dazu gewzungen wurden und deutschen tätern, denen keine strafe wiederfuhr, wenn sie sich nicht am massenmord beteiligten. in der regel wurden sie, wenn sie den 'sondereinsatz' verweigerten, einfach versetzt oder bekamen andere aufgaben zugeteilt.
das morden oder die mitwirkung/beihilfe dazu erfolte also freiwillig - ganz normale deutsche.

im gegensatz zu häftlingen, denen diese wahl eben NICHT gelassen wurde.
mit dem einsatz von häftlingen in so genannten 'sonderkommandos' beschäftigt sich unten angegebene internetseite.

Zerfallene Gesellschaft, Justiz, Nazis

Dokumentation Gardelegen Teil II 12.02.2008 - 16:34
| Vor einem halben Jahr erschien dieser erste Bericht über Gardelegen, einem kleinen Provinzstädtchen im Norden Sachsen-Anhalts. War uns diesmal daran gelegen, einen Einblick in die Mentalität und den Alltag einer kleineren Stadt in Ostdeutschland zu geben, haben wir im zweiten Teil zum einen über in der Zwischenzeit stattgefundene Naziaktionen berichtet, zum anderen aber anhand zweier Gerichtsurteile und -verfahren sowie staatlicher Opferhilfe die Rolle staatlicher Institutionen und ihrer Realität im Zusammenhang mit rechtsextremistischer Gewalt beleuchtet.

Zusammenfassung | Chronik | Opferhilfe | Unschuld | Dummheit | Ergänzungen

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Zeige die folgenden 13 Kommentare an

gut — sachsen-anhaltiner

termin!!! — alter

super beitrag — antifa

Möchte-Gern-Antifa-Aufnäher — Antiimperialist

Nazis? — Chris

Achso und.... — Chris

!Richtig lesen! — Gagarin