Besetzte Fabrik: "Nichts zu verlieren!"

Dieter 03.08.2007 19:25 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe
Ein weiterer Bericht aus der Fahrradfabrik Bike Systems in Nordhausen, die seit dem 10. Juli besetzt ist, nach einem Besuch am 26./27. Juli. Inzwischen ist ein Spendenkonto eingerichtet worden, siehe unten.
FabrikbesetzerInnen in Nordhausen: Wir haben nichts zu verlieren!

Wer nach Nordhausen/Thüringen mit der Bahn fährt, um die BesetzterInnen der
Fahrradfabrik Bike Systems zu besuchen, braucht am Bahnhof keinen Passanten
nach dem Weg zur Fahrradfabrik zu fragen - obwohl jeder den Weg weiß - der
Besucher braucht nur seinen Ohren zu trauen. Er geht dorthin, wo ein lautes und
permanentes Gehupe herkommt. Vor der Fabrik sieht man, zumindest bei gutem
Wetter, ca. 20 Frauen und Männer in einer Reihe vor dem Werkzaun sitzen, einige
haben rote Schirmmützen der IG Metall auf, alle haben Trillerpfeifen zur Hand. Fast
jedes vorbeifahrende Auto hupt und alle BesetzterInnen heben als Antwort eine
Hand mit hochgestrecktem Daumen und trillern nachhaltig. Ein hoher Lärmpegel an
der vielbefahrerenen B 80, vom Hellwerden bis zum Dunkelwerden. Eine Kollegin
hatte am ersten Besetzungstag, Dienstag, dem 10. Juli, die Idee, ein Schild zu malen :
Bitte hupen. Das Schild braucht niemand mehr hochzuhalten!
Es sind 135 Beschäftigte und 160 LeiharbeiterInnen, die hier bis Dienstag Fahrräder
gebaut haben, zuletzt 9,5 Stunden am Tag, auch samstags. Auch nachdem sie
erfahren hatten, daß das Werk geschlossen werden soll, montieren sie pflichtbewußt
bis zum 10.7. weiter, bis zum letzten Auftrag. Für Juli haben sie ihren Lohn noch
erhalten. Am Dienstag um 9:30 Uhr ist dann Betriebsversammlung. Am Tag vorher
hatten sie erfahren, daß man sie so schnell und so billig wie möglich loswerden will.
Bike Systems gehörte zu DDR-Zeiten zum VEB IFA Motorenwerk. Mitte der 80er
Jahre erhielt IFA die Regierungsauflage, auch Konsumgüter herzustellen. Von da an
wurden in Nordhausen Fahrräder gebaut.
Nordhausen ist jetzt eine Kreisstadt mit noch 43 000 Einwohnern. Seit der „Wende“
hat die Belegschaft mehrere Besitzer erlebt und erlitten, auch ein abgewendetes
Insolvenzverfahren. Seit Dezember 2005 gehört Bike Systems dem Finanzinvestor
Lone Star. Zu Lone Star gehörte auch Bike Systems in Neukirch/Sachsen. Der
Finanzinvestor ist jetzt auch zu 25 Prozent an dem bisherigen Konkurrenten MIFA
(Mitteldeutsche Fahrradwerke Sangerhausen) beteiligt. Bike System in Nordhausen
war von da an nur noch die verlängerte Werkbank für die MIFA. Im Dezember 2006
wurde IFA Neukirch geschlossen mit minimalen Abfindungen – die KollegInnen
wehrten sich nicht.
In diese Lage waren die NordhauserInnen gekommen, nachdem Lone Star alle
Aufträge und alle Materialvorräte an den bisherigen Wettbewerber MIFA in
Sangerhausen weitergegeben hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden täglich bis zu
2000 Fahrräder produziert.
Am Dienstag, auf der Betriebsversammlung beschließt die Belegschaft spontan, die
Fabrik zu besetzen. „Wir haben keine richtige Erklärung wie das kam, es entstand
mitten in der Belegschaft“. Die von Lone Star angebotene Summe hätte nicht mal
ausgereicht, die Löhne für die Zeit des Kündigungsschutzes (ein bis sieben Monate,
je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit) auszuzahlen. (Thüringer Allgemeine
Zeitung vom 11.7.) „Mit einem Appel und einem Ei“ wie in Neukirch wollen sie
sich nicht abspeisen lassen. „Als die letzten sich noch in die Listen eintrugen, haben
die ersten schon unten Transparente gemalt“. Es sind viele neue Plakate und
Transparente dazu gekommen: Immer wieder taucht das Wort und das Symbol
Heuschrecke auf.
Jemand hat eine Heuschrecke gebastelt und am Zaun aufgehängt. Am Schwarzen
Brett, auf dem Weg zur Kantine hängt ein Plakat: Wir spenden Blut bevor uns Lone
Star ganz aussaugt. (Dieser Spruch wird später in eine reale Blutspendeaktion
umgesetzt!).
Auf die Frage, wer die Idee zur Besetzung hatte, kommt jedesmal die Antwort: „Die
Belegschaft“. Ich frage weiter, warum in Neukirch nichts passierte, hier aber besetzt
wurde. „Wir haben nichts zu verlieren. Wir hatten immer ein gutes Betriebsklima,
wie eine Familie. Und wir haben einen guten Betriebsrat“. Das mit dem guten
Betriebsklima glaube ich sofort: alle sind entspannt und freundlich, die
ankommenden KollegInnen werden begrüßt, oft in den Arm genommen. „Und jetzt
ist es mit dem Betriebsklima noch viel besser geworden“, meint eine Kollegin. Sie
meint nach der Besetzung.
Ich frage einen Kollegen mit einer roten IGM-Schirmmütze, ob er
Gewerkschaftsmitglied sei. „Ach wo, ich trage die Mütze nur wegen der Sonne, die
blendet vormittags so, die Mützen wurden hier massenhaft verteilt“. Ob denn viele
Kollegen Gewerkschaftsmitglied seien, will ich wissen. „Außer dem Betriebsrat
kaum welche“. Dennoch ist ein Nordhauser Gewerkschaftssekretär oft vor Ort und
unterstützt den Kampf. Bei einer Frage nach dem Lohn sind die KollegInnen
zurückhaltend: „Wir durften über den Lohn nicht reden, das war ein
Kündigungsgrund, wurde uns gesagt“. Dann sagt der Kollege doch: „Wir verdienen
etwa 1 000 Euro netto, Urlaubs- und Weihnachtsgeld wurde uns ja schon
gestrichen“.
Es gibt keine vorfabrizierten IGM-Parolen sondern ausschließlich eigengefertigte
Transparente und Plakate, die der Lage Ausdruck geben:
„Vorsicht! Texanische Heuschrecke frisst sich durch durch Deutschland“
„Gestern Neukirch, heute Nordhausen, - und morgen (?) die Mifa“
„Wir wollen arbeiten und lassen uns von der Heuschrecke Lone Star nicht
auffressen“
„Gestorben 30.06.07. Danke Lone Star!“
„Abfallprodukt der US Lone Star: Ein Mensch“ (raufgeschrieben auf einen großen
schwarzen Müllsack).
Wie in der Produktion teilen die Schichtleiter die Besetzungsschichten ein, ein
Zeichen, daß sie voll mitziehen. Der frühere Produktionsleiter (!) ist für
Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Nur der Chef von Bike Systems, Frederick P. Müller,
genannt Müller III, steht auf der Gegenseite. Nachdem er Neukirch erfolgreich im
Sinne von Lone Star abgewickelt hatte, wurde der frühere Unternehmensberater, ein
Wessi, Chef in Nordhausen. Als die KollegInnen den Betrieb übernahmen, wahrte er
nicht mehr die Contenance und geriet ganz außer sich.
Nachts stehen zehn Besetzer Posten, Frauen nicht mehr nachts. Tagsüber sind oft 30-
40 BesetzerInnen da, trinken Kaffee, Selter, Bier ist verboten. Ständig ist was los,
ständig muß organisiert werden. Am 17. Besetzungstag war ein Chor der Uni
Göttingen, bestehend aus verdi-KollegInnen da. Sie sangen moderne und
Arbeiterlieder. Sie hatten extra ein Lied gedichtet. Kurz vorher hatte die Belegschaft
ein Kinderfest organisiert, viele Firmen der Stadt hatten es materiell unterstützt. Der
Ertrag des Festes, 400 Euro, wurde für ein geplantes Kinderhospiz gestiftet. „Wir
haben soviel Freundlichkeit und Sympathie aus der Stadt bekommen, das wollten wir
zurückgeben“. Dieser Satz eines Kollegen klingt gar nicht gekünstelt sondern ganz
echt.
Das Bläserquartett eines hiesigen Orchesters war dagewesen und hatte ein kleines
Konzert gegeben. Für die nächste Woche ist eine weitere Fahrradtour durch
Nordhausen und Umgebung geplant.
Am 23. Besetzungstag will attac aus Leipzig kommen und einen Film über eine
Fabrikbesetzung in Argentinien zeigen. Am 25. Besetzungstag dann Kollegen und
Unterstützer von Bosch-Siemens aus Berlin, die einen Film über ihren Streik zeigen.
Am kommenden Freitag gehen die KollegInnen zum Blutspenden nach dem Motto:
„Wir geben unseren letzten Tropfen, bevor uns Lone Star ganz aussaugt“.
Am Wochenende ist Stadtfest in Nordhausen. Die BesetzerInnen machen eine Art
TÜV-Stand: Alle NordhäuserInnen können ihre Fahrräder durchprüfen lassen.
Am Zaun, für jeden Vorbeifahrenden sichtbar hängt ein Pappschild mit dem
Besetzungstag. Ich bin am 17. und 18. Besetzungstag dort. Nachts wird das Schild
angestrahlt. Abends gegen zehn kommt ein Polizeiauto vorbei und hupt. Als
Reaktion Daumen nach oben, ein besonders lautes Trillern und ein trockener
Kommentar: „Das ist der erste, der hupt, bisher haben die Polizisten nur freundlich
gewunken“.
Der thüringische Ministerpräsident Althaus war mittels eines offenen Briefes um
Unterstützung, d.h. Suche nach einem Investor gebeten worden und um einen Besuch
im Werk. Die Antwort steht am Freitag, dem 27.7. in der Thüringer Allgemeinen
Zeitung: „Dieter Althaus (CDU) kommt nicht. Der Thüringer Ministerpräsident
lehnte die Einladung ins Fahrradwerk ...ab. Die Landesregierung habe keine
Möglichkeit , politischen Einfluß auf die Entscheidungen von Bike Systems zu
nehmen...“ Die KollegInnen diskutieren und sind sich einig: „Wenn der Althaus
nicht zu uns kommt, fahren wir eben nach Erfurt. Wir sind schon mal im Landtag
gewesen“. Die Absage wird schon als kleiner Affront empfunden: „Wir zahlen doch
dem Althaus mit unseren Steuern sein Gehalt und der kommt nicht mal hierher“.
„Erst zahlen die Politiker denen Subventionen und die kriegen Steuerermäßigungen,
dann macht Bike Systems den Laden dicht und braucht keine Steuern zurückzahlen.
Und uns will Lone Star auch noch um die Abfindung prellen!“. Nachdem sie es
schon aus der Zeitung erfahren hatten, bekamen sie am Dienstagmittag dann ein Fax
mit der förmlichen Absage. Der Ministerpräsident scheibt: „Der Verlust von 130
Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe ist schmerzlich. Für die Thüringer
Landesregierung besteht allerdings kaum eine Möglichkeit auf unternehmerische
Entscheidungen Einfluß zu nehmen; eine Intervention mit dem Ziel der
Rückgängigmachung der Betriebsstillegung wäre offensichtlich aussichtslos...“.
Den Beschäftigten wurde angeboten, bei MIFA in Sangerhausen weiterzuarbeiten.
Nur zwei Kollegen haben eingewilligt. Die anderen befürchten, ihre durch
jahrzehntelange Arbeit erworbenen Ansprüche zu verlieren: Kündigungsschutz bis
zu sieben Monaten, Abfindung. Und sie fürchten, in Sangerhausen dann die ersten zu
sein, die rausfliegen. Sie halten durch, weil sie eine angemessene Abfindung haben
wollen, sie sehen nicht ein, daß sich ein milliardenschwerer Konzern aus der
„Verantwortung davonstehlen“ will. Warum will Lone Star diese peanuts nicht
zahlen? Weil er befürchtet, in Zukunft mit hohen Abfindungsforderungen
konfrontiert zu werden? Die Streikenden von AEG Nürnberg erkämpften sich
bekanntlich 2006 eine monatliche Abfindungsquote von 1,88 pro
Beschäftigungsjahr.
Wenn kein Geld da ist, müßte Bike Systems Konkurs anmelden. Wenn das nicht
passiert, wäre das Insolvenzverschleppung, die strafbar ist. Ein Konkurs andererseits
würde dem Ruf schaden, den selbst Heuschrecken anscheinend noch zu verlieren
haben. Außerdem besteht bis zum 31.12.07 Standortbindung, da Bike Systems
öffentliche Mittel erhalten hat.
Am liebsten wäre den Kollegen, daß ein neuer Investor käme: „Was wir dann
produzieren, wäre uns ziemlich egal“. Das scheint mir aber nur so dahingesagt, der
Produzentenstolz auf ihre Fahrräder dringt immer wieder durch.
Am 18. Besetzungstag ist wieder Betriebsversammlung, diesmal mit ihrem Anwalt,
Jürgen Metz aus Erfurt, den sie schon seit dem Insolvenzverfahren kennen. Die
Gesichter der Herauskommenden signalisieren: Nichts Neues. Anfang August soll es
eine Verhandlung bei der Einigungsstelle geben.
Der jetzige Besitzer des Geländes und der Anlagen heißt Biria. Bike Systems ist nur
Pächter. Ab und zu kommen noch LKW auf das Gelände und holen Fahrradteile ab.
Der Anwalt hat ihnen geraten, die Transporte nicht zu behindern.
Ein Kollege verspricht mir, am nächsten Tag einen Katalog der im Werk
hergestellten Fahrräder mitzubringen. Es sind Fahrräder bis ca. 2 000 DM drin, viele
der Marke Dührkop. „Früher haben wir auch hochwertige Rennräder hergestellt, die
letzten Jahre eher für Baumärkte und aldi“.
Mit der Post wird ein großes Paket mit Kaffee (Marke Störtebeker) gebracht, mit
dem Versprechen, bei Bedarf ein weiteres Paket zu schicken. Absender ist ein
Hamburger Kollektiv. Es gehen etliche Solidaritätsschreiben ein, in einigen steht die
Aufforderung, doch die Firma zu übernehmen und weiter Fahrräder zu bauen. Es
sind schon mehrere Bestellungen dabei! Ein Mann aus Holland schreibt, er kenne
mehrere linke Fahrradhändler, die würden gern die Fahrräder aus der besetzten
Fabrik verkaufen. Ich mache einen Kollegen auf die Bestellungen und
Versprechungen aufmerksam. Er habe auch schon dran gedacht, das wäre eine
schöne Lösung. Aber einige gute Kollegen, die man dazu brauchte, seien schon nicht
mehr da – und woher solle das Geld kommen?
Ich denke an 1973, die Besetzung der Uhrenfabrik LIP in Besancon (Frankreich).
Bei ihnen wurden zigtausende Uhren in wenigen Wochen bestellt, sie kamen mit der
Produktion kaum nach. Die Solidarität nicht nur in Frankreich war atemberaubend.
Davon rede ich aber nicht. Ich würde mir vorkommen wie: Der rote Großvater
erzählt.
Das zentrale Symbol der Besetzung ist die Heuschrecke, der zentrale Satz: „Wir
haben nichts zu verlieren“. Beim halbjährigen Streik von gate gourmet in Düsseldorf
2005/2006 gab das Plakat „Menschenwürde!“ den Kern des Kampfes wider.
Als ich mich verabschiede, kommt mir der Gedanke, daß Besetzung genau so
anstrengend sein kann wie Produktionsarbeit: wahrscheinlich haben die Posten vor
dem Zaun schmerzende Kehlen, Arme und Daumen. Ich habe sie leider nicht danach
gefragt. Aber mit ihrer ausdauernden Antwortgeste auf das Solidaritätshupen wollen
die BesetzerInnen wohl ihre Hartnäckigkeit und Unnachgiebigkeit bekunden.
Auf der Heimfahrt fällt mir ein, daß die gelassene, ja heitere Stimmung der stärkste
Eindruck in diesen beiden Tagen war. Auf der Hinfahrt hatte ich gedacht, daß mich
Wut, Empörung, vielleicht Niedergeschlagenheit und Angst vor ALG II erwarten.
Sie haben alles wohl schon mehrere Male durchlebt in einer Achterbahn der
Gefühle – geblieben ist Gelassenheit, Offenheit, fast heitere Stimmung.

Dieter Wegner, Jour Fixe der Gewerkschaftslinken Hamburg.
(Stand 31.7..07)


Spendenkonto: Kreissparkasse Nordhausen, BLZ: 820 540 52, Nr. 30026518
Kennwort: Besetzer Bike Systems

Email-Adresse:  fahrradwerk@gmx.de
Weitere Informationen: www.labournet.de
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Ergänzungen

ArbeiterInnen von Chilavert solidarisieren si

SelbstverwalteteBetriebe 04.08.2007 - 16:41
Diese Woche ging ein Solischreiben der Selbstverwalteten Druckerei Chilavert aus Buenos Aires (empresa recuperada) an die ArbeiterInnen von Bike-Systems. Darin sprechen sie ihnen ihre Solidarität aus und erzählen kurz über ihre Erfahrungen. Sie sprechen davon, dass im Nachhinein die Selbstverwaltung der einzig gangbare Weg war. Hoffen wir, dass daraus eine wunderbare Freundschaft wird;-). Aber lest selbst (hiergehts zum Brief)

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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sauber — atze

Respekt! — dreamgirl