Schleichender Staatsstreich in Israel

Daniel Amit / Rosso 06.07.2007 18:26 Themen: Militarismus Weltweit
Die massive Staatskrise in Israel mit einem inzwischen durch Shimon Peres ersetzten Staatspräsidenten Katzav, der sich wegen Vergewaltigung vor Gericht verantworten muss, zahlreichen Korruptionsaffären höchster Regierungsmitglieder (inklusive Ehud Olmert), einem zweiten gegen die Hisbollah verlorenen Libanon-Krieg im Sommer 2006, sich weiter verselbständigenden Militärs und einer Mc Carthy-Atmosphäre im Innern, die führende Oppositionelle wie Ilan Pappe und Azmi Bishara ins Exil trieben, haben an dem Gerede von Israel als „einziger Demokratie im Mittleren Osten“ und als „Vorbild für die arabischen Nachbarstaaten“ nur wenig geändert. Obwohl mittlerweile selbst die linksliberale israelische Tageszeitung „Haaretz“ (www.haaretz.com) ernstzunehmende Gefahren für die bürgerliche Demokratie im Kolonialstaat Israel sieht. In einem Interview für die linksradikale italienische Tageszeitung „il manifesto“ vom 13.6.2007 geht der linke israelische Professor Daniel Amit noch einen Schritt weiter.
Interview mit Daniel Amit, einem Intellektuellen und Universitätsdozenten, der zwischen Rom und Jerusalem pendelt. „Auch ‚Haaretz’, die Zeitung des gehobenen Bürgertums, spricht von einer Gefahr für die Demokratie.“

Gelenkte Medien und außer Kontrolle geratene Militärs: In Israel findet ein Staatsstreich statt

Emanuela Irace

Daniel Amit hat weiße Haare und den Blick desjenigen, der daran gewöhnt ist, sich mit der Realität auseinanderzusetzen. Er ist ein israelischer Wissenschaftler. Daran gewöhnt, die Probleme mit der Methode der Mathematik zu lösen und zu konkreten Lösungen zu gelangen. Als ordentlicher Professor für Physik an der römischen Sapienza pendelt er zwischen Rom und der Universität Jerusalem und nutzt seit einem Vierteljahrhundert seine Erfahrung beim Einsatz für eine Lösung des Konflikts im Mittleren Osten. „Vierzig Jahre Besatzung stellen eine tödliche Gefahr für Israel dar. Der Abstand zur Realität hat enorme Ausmaße erreicht. Es ist nicht mehr möglich, weiterhin die Vorstellung zu verbreiten, dass der Zionismus die Grundlage der Legitimität eines Staates ist, der in Palästina seinen Kolonialkrieg fortsetzt.“

Die Version der Regierung in Tel Aviv sieht etwas anders aus.

„In meinem Land findet ein Staatstreich statt. Nur ein Teil der Gesellschaft ist darüber auf dem Laufenden. Intellektuelle, Journalisten und einige Vertreter der politischen Kräfte sind sich dessen bewusst, was in den Besetzten Gebieten passiert. In Ramallah und in Cisjordanien hat die Illegalität unvorstellbare Ausmaße angenommen. Die Gewalt gegen die Palästinenser wird durch Bilder und Fotografien dokumentiert, die von dem Horror zeugen, allerdings weder den Weg ins Fernsehen noch in die Zeitungen finden.“

Bilder und Reportagen, die in den Web-Blogs wiedergegeben werden?

„Ja, die Informationen finden nur übers Internet Verbreitung. Über private Mails, an die Fotos und Berichte einzelner Individuen angehängt sind, die die Gewalttaten erlebt haben. Vor drei Tagen sprach ‚Haaretz’, die gemäßigte Tageszeitung des gehobenen Bürgertums, von Staatstreich. Realität ist, dass Israel kein demokratischer Staat mehr ist.“

Was ist geschehen?

„Die Armee gehorcht den Beschlüssen der Regierung nicht. Sie folgt einer eigenen Agenda, informiert nicht über die Positionen der Checkpoints, setzt die, die Mauer betreffenden, Urteile des Obersten Gerichtshofes nicht um und respektiert die wichtigsten Grundlagen des nationalen und internationalen Rechts nicht.“

Vor gerade mal einem Monat hat sich Olmert – nach der Vorlage des Untersuchungsberichts der Libanon-Kommission – öffentlich über die „Moralität der israelischen Armee“ geäußert. Was ist seitdem geschehen?

„Die Situation ist degeneriert. Aber das Problem ist vor 40 Jahren mit der Besetzung der Gebiete und der ideologisch-moralischen Degeneration der israelischen Gesellschaft entstanden. Die Resultate dieser Verunstaltung haben alle vor Augen. Aber die Stimmen der Intellektuellen (von Amos Eilon und anderen) haben niemals aufgehört, ihren Dissens zu bekunden und die Israelis auf die Gefahr eines Kollapses der gesamten Gesellschaft und der Staatsstruktur hinzuweisen. Die jüngste Stimme ist die von Avraham Burg , dem ehemaligen Präsidenten der Knesset, der ein Buch über den Abschied vom Zionismus geschrieben hat, in dem er die Gefahren eines religiösen Staates denunziert, der, indem er sich als jüdisch definiert, ein Gift verbreitet, das Israel in die Selbstzerstörung führt.“

Kehren wir zur Armee und zur Luftwaffe zurück. In den letzten zehn Jahren gab es zahlreiche „defätistische Akte“, Soldaten und Piloten, die sich weigerten Befehle zu befolgen, die palästinensische Zivilisten zum Ziel hatten. Heute hingegen?

„Die Armee ist in der Hand der Siedler, die die Streitkräfte, die das Land schützen sollten, mit Extremisten gefüllt und den gesunden Teil vertrieben haben. Die Stärke der Siedler liegt in der politischen Energie und in den feierlichen Symbolen, die den Militärs so sehr gefallen. Das war eine ganz natürliche Ehe: Einerseits die Mythen und die religiöse Verteidigung der heiligen Orte und andererseits ein militärischer Organismus, der sich aus bestimmten Symbolen nährt.“

Aber Tel Aviv hat vor kurzem versprochen, den Druck in Cisjordanien zu lockern.

„Die Militärs befolgen die Befehle nicht mehr. Sie gehorchen der Politik der Ultraorthodoxen, die weiter Druck zugunsten neuer Siedlungen macht. Sie machen, was sie wollen, und die Wenigen, die sich nicht an die politische Macht verkauft haben, müssen die Palästinenser vor den Angriffen und den Gewalttaten der Siedler schützen.“


Anmerkung 1:
Avraham Burg (geboren am 19.1.1955) absolvierte seinen Militärdienst als Offizier der Fallschirmjäger. 1983/84 einer der Führer der Protestbewegung gegen den ersten israelischen Libanonkrieg. Wurde am 10.Februar 1983 durch eine Handgranate verletzt, die der Rechtsradikale Yona Avrushmi kurz nach Ende einer Peace Now-Kundgebung im Jerusalemer Regierungsviertel in die Menge der abziehenden Demonstranten warf und die Emil Grunzweig tötete. Von 1988 – 95 und von 1999 – 2004 war Avraham Burg Knesset-Abgeordneter der Arbeitspartei (Avoda). 1995 - 1999 Vorsitzender der Jewish Agency for Israel und der Zionistischen Weltorganisation. Von 1999 bis 2003 Präsident der Knesset. Im Herbst 2003 sorgte er für großes Aufsehen, als er in der britischen Tageszeitung „The Guardian“ vom 15.9.2003 einen Artikel unter dem Titel „Das Ende des Zionismus“ veröffentlichte, in dem er für den sofortigen und vollständigen Rückzug aus den 1967 besetzten Gebieten eintrat.

In einem Interview für „Haaretz“ vom 14.11.2003 erklärte er: “In den Straßen unserer Stadt sehe ich Slogans: ‚Tod den Arabern!’, die unsere Stadtbehörden nicht mehr entfernen. Ich sehe schreckliche Graffiti – rassistische und kahanistische – die wir lässig akzeptieren. Wir bemerken sie nicht einmal mehr. Der krebsartige Prozess verschlingt uns. Die durch die Siedler und den rechten Flügel pervertierte zionistische Form hat schließlich jeden Teil unseres Lebens erreicht und keinen Raum übrig gelassen, der nicht vom nationalistischen Bewusstsein erfüllt ist. Wenn sich nicht unsere letzten gesunden Zellen erheben und sich gegen den Virus auflehnen, werden wir nicht länger existieren. Wir werden einfach aufhören zu existieren.“

In einem weiteren Interview für „Haaretz“ vom 17.6.2007 forderte er die Abschaffung des „Rückkehrgesetzes“, das Angehörigen der jüdischen Religion in aller Welt – ob sie wollen oder nicht – zu israelischen Staatsbürgern macht und zur Ansiedelung in Israel auffordert. Originalton: "Den Staat Israel als jüdischen Staat zu definieren, ist der Schlüssel zu seinem Ende. Ein jüdischer Staat ist explosiv. Er ist Dynamit.”



Vorbemerkung, Übersetzung, Anmerkung und Einfügungen in eckigen Klammern: * Rosso

Der Name * Rosso steht für ein Mitglied der Antifa-AG der Uni Hannover und des Gewerkschaftsforums Hannover, das bereits in der Vergangenheit den Großteil der Übersetzungsarbeit beider Gruppen geleistet hat. Nachdem sich die Antifa Uni nach mehr als 17jährigem Bestehen Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe:  http://www.freewebtown.com/antifauni) werden die explizit politischen Übersetzungen von nun an in individueller Verantwortung unter diesem Logo veröffentlicht. Die Übersetzungen der gewerkschaftsbezogenen Texte erscheinen ab sofort nur noch im Namen und in der Verantwortung des Gewerkschaftsforums.

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ach nö — Gay Pride

endlösung? — keinen

Erstaunlich — wayne

hey rosso — egal

FALSCH! — Amir Peretz

x — xxx

mal wieder neutral betrachtet — nicht ausgefüllt

wow — me and myself

Oh mann. — B. Cole