Waffenstillstand in Kurdistan geht zuende

Informationsstelle Kurdistan 19.05.2007 10:25 Themen: Weltweit
Waffenstillstand geht zu Ende

Am 1. Oktober 2006 rief die kurdische Bewegung KKK (Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans) den fünften einseitigen Waffenstillstand aus. Inzwischen machen die seit den 1990er Jahren stärksten Militäroperationen der türkischen Armee gegen die kurdische Guerilla diesen Waffenstillstand jedoch zur Farce.
Der von der KKK (Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans) am 1. Oktober 2006 ausgerufene einseitige Waffenstillstand neigt sich dem Ende zu. Die Türkei hat die wiederholt einseitig erklärten Waffenstillstände immer als Schwäche ausgelegt, so 1993, 1995, 1998, 1999, ebenso bei der 2005 deklarierten „Aussetzung aller militärischen Aktionen“ und dem offiziell noch andauernden 5. Waffenstillstand. Auch diesmal lautete die Antwort des Generalstabs: „Die Militäroperationen werden fortgesetzt, bis kein Terrorist mehr übrig ist.“ An diesem Verlauf konnten weder die monatelangen Bemühungen demokratischer Massenorganisationen noch Demonstrationen und Kundgebungen Hunderttausender Menschen etwas ändern, die dazu aufrufen, eine positive Antwort auf den Waffenstillstand zu geben. Stattdessen erfolgten Hunderte Militäroperationen und als Resultat dieser der Tod von Hunderten Soldaten und HPG-Kämpfern. Die Forderung nach Frieden wurde mit Repression und Verhaftungen beantwortet. Jetzt richtet sich die Aufmerksamkeit erneut auf die bald zu erwartende Erklärung der kurdischen Bewegung zum Thema.

Vor der Deklaration des 5. Waffenstillstands war die Atmosphäre in der Türkei interessant. Nach dem Erlass des neuen Antiterrorgesetzes, mit dem die gesamte Gesellschaft unter Druck gesetzt wird, leiteten personelle Veränderungen im Generalstab eine neue „Zeit der Falken“ ein. Am 28. August übernahm Yasar Büyükanit als Repräsentant des Falkenflügels in der kurdischen Frage das Amt des Generalstabchefs von seinem Vorgänger Hilmi Özkök.

Als im Jahr 2006 das Ausmaß militärischer Auseinandersetzungen immer mehr zunahm, wurden bei Soldatenbeerdigungen zunehmend neue Töne laut. So erklärten die Eltern des Unteroffiziers Zeki Burak Okay, der im September 2006 bei einem Gefecht in Hakkari ums Leben kam, auf der Beerdigung: „Unser Sohn hat in einem Krieg sein Leben verloren, dessen Sinn und Zweck nicht klar ist.“ Diese Aussage löste in der Türkei ernsthafte Diskussionen aus. Dann folgten Aufrufe der USA, der EU, des irakischen Staatspräsidenten Celal Talabani, Intellektueller, Friedensgruppen und zivilgesellschaftlicher Organisationen aus der Türkei, an die PKK, einen Waffenstillstand zu deklarieren sowie an den Staat, zu diesem Thema konkrete Schritte zu unternehmen. Betrachtet man den Entwicklungsprozess, der schließlich zur Erklärung des Waffenstillstandes führte, so sind die Aufrufe der internationalen Öffentlichkeit sowie verschiedenster Kreise innerhalb der Türkei – einschließlich Gespräche zwischen Abgeordneten der Regierungspartei AKP und der DTP – nicht zu übersehen.

Die vielleicht wichtigste Erklärung in diesem Zusammenhang erfolgte vom Sprecher des US-Außenministeriums Sean McCormack am 15. August 2006, dem Jahrestag des Beginns des bewaffneten Kampfes der PKK. Er forderte die PKK direkt auf, einen Waffenstillstand auszurufen und die Waffen niederzulegen. Murat Karayilan vom Exekutivrat der KKK erklärte kurz darauf, der Aufruf der USA, die Waffen niederzulegen, sei unzureichend; wenn der Staat seine Angriffe einstelle, sei seine Organisation dazu bereit, einen Waffenstillstand zu erklären und danach auch, die Waffen niederzulegen.

Um den Weltfriedenstag am 1. September herum mehrten sich die Stimmen, die die kurdische Bewegung zum Waffenstillstand und den türkischen Staat zu konkreten Schritten aufriefen. Am 11. September schließlich gaben die DTP-Vorsitzenden Aysel Tugluk und Ahmet Türk eine Erklärung ab, in der sie die kurdische Bewegung zum Waffenstillstand aufriefen. Sofortige Unterstützung fanden sie einen Tag später am 12. September durch eine Erklärung von 224 kurdischen und türkischen Intellektuellen, die die PKK zur sofortigen und bedingungslosen Einstellung bewaffneter Aktionen sowie den Staat zu den unverzüglich notwendigen Gesetzesregelungen aufforderten.

Am gleichen Tag sorgte eine Meldung aus Amed für einen Schock: Im Kosyolu-Park im Stadtteil Baglar kamen durch eine Explosion an einer Bushaltestelle zehn Menschen ums Leben, davon sechs Kinder. 17 Personen wurden verletzt. Der Anschlag wurde von der DTP und weiteren Kreisen als gegen den Aufruf zum Waffenstillstand gerichtete Provokation bewertet. Zu der Bluttat bekannten sich die Türkischen Rachebrigaden (TIT).

Am 25. September schließlich erklärte der irakische Staatspräsident Celal Talabani in New York, wo er sich anlässlich einer UN-Vollversammlung befand, man habe die PKK vom Waffenstillstand überzeugt, sie werde in Kürze einen solchen offiziell bekannt geben.

Am 28. September rief auch Abdullah Öcalan über seine Verteidiger zum Waffenstillstand auf: „Damit mit Mittleren Osten eine Kultur der Demokratie entstehen kann, für eine kurdisch-türkische Koalition und Einigkeit, damit der erlittene Schmerz in einen würdevollen Frieden und Glück umgewandelt werden kann, für ein freies Leben, damit unsere Völker nicht weiter leiden, damit wir dutzendfach mehr gewinnen als wir verloren haben, rufe ich alle zu verantwortlichem Handeln auf; ich bin davon überzeugt, dass diese Phase eine große Gelegenheit darstellt und wünsche, dass ein Waffenstillstand auf dieser Grundlage einen guten Beginn darstellt.“

All diese Aufrufe fanden ihre Antwort am 1. Oktober mit einer Pressekonferenz der KKK in den Kandil-Bergen, die von internationalen Medien besucht wurde. Murat Karayilan deklarierte einen Waffenstillstand und erklärte, die Volksverteidigungskräfte HPG hätten eine geplante umfassende Herbstoffensive gestoppt. Der Waffenstillstand werde gebunden an die weiteren Entwicklungen andauern. Solange keine Vernichtungsschläge gegen die Guerilla erfolgten, werde von Waffen kein weiterer Gebrauch gemacht. Allerdings behalte man sich das Selbstverteidigungsrecht im Falle von auf Vernichtung ausgelegten Angriffen vor.

Die KKK-Erklärung fand breite Unterstützung bei der DTP, den Intellektuellen sowie wirtschaftlichen Zusammenschlüssen und Menschenrechtsorganisationen. Celal Talabani sowie der Präsident der Föderalen Region Kurdistan, Mesut Barzani, gaben Stellungnahmen ab, in denen sie die Türkei dazu aufforderten, den Waffenstillstand zu nutzen. Auch in Europa wurde dieser Schritt befürwortet.

Eine interessante Verlautbarung erfolgte vom DYP-Chef Mehmet Agar, der sich im Kampf gegen die Kurden einen Namen gemacht hatte. Im Rahmen einer Reise durch die kurdische Region im Oktober erklärte er zum Thema Lösung der kurdischen Frage: „Anstatt bewaffnet durch die Berge zu laufen, sollten sie in die Täler kommen und Politik machen.“ Auch aus dem Nachrichtendienst MIT waren neue Töne zu hören. […]

Am wichtigsten sollte jedoch die Haltung des Staates und der Regierung zu dieser Entwicklung sein. Mit Spannung wurde darauf gewartet, wie die Erdogan-Regierung reagieren werde. Am Tag der Ausrufung des Waffenstillstands deutete Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in New York an, die Militäroperationen würden ebenfalls eingestellt. Eine Stellungnahme des Generalstabches Yasar Büyükanit am 10. November machte jedoch diesbezügliche Hoffnungen zunichte. Mit den Worten „Die Operationen werden andauern, bis der Terror ausgelöscht ist“ machte er die Haltung des Militärs zum Waffenstillstand deutlich.

Im weiteren Verlauf kam es dann anstelle positiver Entwicklungen zu einer erneuten massiven Repressionswelle insbesondere gegen Mitglieder der DTP, u.a. unter Vorwänden wie Ermittlungsverfahren und Verhaftungen wegen der Betitelung Abdullah Öcalans als „Herr Öcalan“. Aber hierzu schwiegen die Intellektuellen, die zuvor lautstark einen Waffenstillstand von der PKK gefordert hatten. Damit wurde die Schwäche dieser demokratischen Kräfte deutlich.

Trotz dieses Schweigens und der andauernden Militäroperationen setzten die DTP und die kurdische Bevölkerung ihre Bemühungen fort. In den Monaten November und Dezember organisierte die DTP Massenkundgebungen zur Unterstützung des Waffenstillstands in Van, Hakkari und Agri. Am 16. Dezember fand ein „Marsch der Gewählten“ der DTP von Diyarbakir nach Ankara statt, mit der Forderung an den Staat, den Waffenstillstand durch eine positive Reaktion zu stabilisieren und die Militäroperationen einzustellen. Allerdings verweigerte der Parlamentspräsident Bülent Arinc ein Gespräch und somit wurde auch diese Aktion für eine Lösung und einen Dialog von Parlament und Regierung ignoriert.

Am 14. Januar fand in Ankara eine Konferenz unter dem Motto „Die Türkei sucht ihren Frieden“ unter Beteiligung von bekannten Persönlichkeiten wie Yasar Kemal und Vedat Türkali statt. Auf der Konferenz, die in der Öffentlichkeit eine gute Beachtung fand, wurden Vorschläge zur Lösung der kurdischen Frage unterbreitet.

Im Monat April 2007 schließlich beschränkte sich die öffentliche Diskussion in der Türkei fast ausschließlich auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen und die Haltung des Generalstabs dazu. Über den Waffenstillstand, dessen Beendigung mit vorhergegangenen Erklärungen bereits für den 18. Mai angekündigt war, wurde nicht mehr geredet. Die KKK hatte im April mehrere Erklärungen abgegeben, in der sie davor warnte, dass im Falle einer Aufhebung des Waffenstillstands der Türkei ein sehr gewalttätiger Krieg bevorstehe.

ÖP, 18.05.2007
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