Die ArbeiterInnen von El Alto

Wladek Flakin 13.05.2007 14:16 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe Weltweit
"El Alto" bedeutet auf Spanisch "Der Hohe", aber auch "Der Stopp". Beide Bedeutungen passen zu der rund 400 Meter über der bolivianischen Hauptstadt La Paz gelegenen Stadt. "Der Hohe" liegt mehr als 4100 Meter über dem Meeresspiegel. Und die Bevölkerung des "Stopp" ist eine der kämpferischsten der Welt. Regelmäßig kommt es zu Streiks, Bockaden und Straßenkämpfen mit der Staatsmacht.
Im April tagte in El Alto der "Kongreß der Regionalen Arbeiterzentrale" (COR), ein Dachverband lokaler Gewerkschaften. Auf dem Kongreß ging es um Organisationsfragen. Statuten sollten geändert und neue Gewerkschaften integriert werden. Hintergrund ist, daß die Arbeitenden und Armen im "höchsten Slum der Welt" beginnen, sich zu organisieren. Die rund 800000 Alteños sind in der Mehrheit Arbeitsmigranten aus dem Altiplano, dem Hochland der Region La Paz. Die meisten der ehemaligen Bauern sind Indigene, die die traditionelle Sprache Aymara sprechen. Heute betreiben sie Kleinstgewerbe: Sie verkaufen Produkte an kleinen Marktständen. Nicht zufällig beheimatet El Alto mit der "Feria del 16. de julio" den größten Markt Lateinamerikas, vielleicht auch der Welt.

In den vergangenen Jahren entwickelte sich auf Grundlage der billigen Arbeitskräfte eine Industrie. Kleine Fabriken und Werkstätten mit einigen Dutzend oder Hunderten Arbeitern schießen wie Pilze aus dem Boden. Sie produzieren Textilien oder Schmuck, die direkt in die USA exportiert werden. Schätzungen gehen von rund 100000 Lohnabhängigen in El Alto aus – Tendenz steigend. Aber diese Beschäftigten sind kaum gewerkschaftlich organisiert. Die COR besteht nach wie vor hauptsächlich aus "Gremiales", also Marktverkäufern, die sehr arm sind, aber ihre eigenen Stände und Waren besitzen.

Die neuen Gewerkschaften

Vor zwei Jahren gründete sich eine neue, kämpferische Gewerkschaft am internationalen Flughafen von La Paz, mitten in El Alto. Die 150 Angestellten arbeiten bei der Sicherheitskontrolle und auf der Landebahn für den spanischen Flughafenbetreiber SABSA. Einige "Unruhestifter" – ehemalige Bergarbeiter mit ihren starken syndikalistischen Traditionen – im Betrieb wollten eine Gewerkschaft auf die Beine stellen und begannen Gespräche mit Kollegen zu führen. Drei Organisatoren wurden entlassen, aber mit lautstarken Aktionen in der Abflughalle – einschließlich Protestplakaten in diversen Sprachen – konnten sie die Anerkennung ihrer Gewerkschaft durchsetzen und fast 5000 Euro für von der Belegschaft geleistete unbezahlte Überstunden kassieren. Jetzt dient SITRABSABSA ("die Gewerkschaft der Arbeiter von SABSA", leicht abgekürzt) als Modell für die weitere Organisierung der verschiedenen Beschäftigtengruppen El Altos.

TEA war eine kleine Werkstatt, in der rund 90 Handwerker Goldketten für den Export in die USA herstellten. Als die Morales-Regierung am 1. Mai 2006 ein Dekret erließ, das gewerkschaftliche Rechte garantieren sollte, entschieden sich die TEA-Beschäftigen, etwas gegen die miserablen Arbeitsbedigungen in dem Betrieb zu unternehmen. Mit Hilfe der Aktivisten von SABSA bildeten sie eine Gewerkschaft – woraufhin alle 90 prompt entlassen wurden. Da sie von COR keinerlei Unterstützung erhielten – der Dachverband wollte lediglich 150 Euro für die Anerkennung der Gewerkschaft kassieren – wandten sie sich direkt an den Präsidenten. Mit einem spektakulären Auftritt während eines Feiertagsumzuges übergaben sie einen Brief an Evo Morales und sprachen mit Parlamentsabgeordneten der Regierungspartei. Hilfe erhielten sie dennoch nicht. "Sie bekommen mehr als 1 000 Dollar im Monat aber geben keine fünf Pesos für den Streikfonds", empörte sich eine der betroffenen Arbeiterinnen über die Abgeordneten.

Mit öffentlichen Aktionen in La Paz, vor dem Parlament und der Universität, machten die Entlassenen – mit Unterstützung linker Aktivisten, von Künstlern und aus der Hiphop-Szene El Altos – auf ihren Kampf aufmerksam. Schließlich bekamen sie eine kleine Abfindung, die Entlassungen und die Schließung der Werkstatt waren jedoch nicht zu verhindern. Geblieben sind ein gewachsenes Selbstbewußtsein und eine starke Enttäuschung über Evo Morales. Der gleiche Prozess der Organisierung läuft in Duzenden Unternehmen in El Alto, z.B. bei den Müllmannern und -frauen der Stadt, bei den Beschäftigten einer Zementfabrik, bei einer Textilwerkstatt. Manchmal können die ArbeiterInnen ihre Forderungen durchsetzen und ihre Gewerkschaft wird anerkannt (wie bei SABSA), manchmal verlieren sie ihre Arbeitsplätze und landen auf der Straße (wie bei TEA), aber das ist letztendlich nicht entscheidend. Denn selbst von den entlassenen ArbeiterInnen bleibt ein nicht unbedeutender Teil aktiv, sucht einen neuen Job und fängt den Kampf für gewerkschaftliche Organisierung von vorne an.

Diese neuen Gewerkschaften sind radikal, selbst für die Verhältnisse in El Alto. Mitten im Organisierungsprozess steht die kleine trotzkistische Gruppe "Revolutionäre Arbeiterliga für die Vierte Internationale" (LORCI). Ihr Lokal, das "Haus der ArbeiterInnen und Jugend", ist die Adresse für ArbeiterInnen, die vor einem Konflikt stehen (nicht etwa die lokale Gewerkschaftszentrale). Diese Gruppe steht der linken Regierung von Evo Morales ablehnend gegenüber - diese Regierung ist dem Privateigentum und der "Investitionssicherheit" der multinationalen Konzernen verpflichtet und deswegen nur ein weiteres Herrschaftsinstrument der Kapitalisten. Eine Umfrage vor wenigen Wochen ergab, dass 88% der Alteños mit der Arbeit von Evo Morales zufrieden sind, aber die AktivistInnen der LORCI sind sich sicher, dass die ArbeiterInnen eigene Erfahrungen mit dieser Regierung machen und sich immer mehr von ihr distanzieren.

Jetzt tagt die Konstituierende Versammlung, die eine neue Verfassung für Bolivien ausarbeiten soll. Sie hat acht Monate gebraucht, um das Abstimmungsverfahren zu regeln. Es gibt jetzt einen Pakt zwischen der linken Regierungspartei (mit einer 54%-Mehrheit in der Versammlung) und der rechten Opposition, der eine 2/3-Mehrheit für strittige Fragen vorschreibt und damit ein Vetorecht für die Opposition sichert. Allerdings gilt der Pakt nur bis zum 2. Juli, als alle strittigen Artikeln der neuen Verfassung durch eine Volksabstimmung geklärt werden sollen. Die meisten Menschen in El Alto - die meisten armen, indigenen Menschen in Bolivien überhaupt - haben große Hoffnungen, dass die Constiuyente die strukturelle Ungerechtigkeit im Land, die der indigenen Bevölkerung seit 500 Jahren unterdrückt, aufheben wird.

Die LORCI und die ihr nahestehenden Gewerkschaften haben jetzt eine "Arbeiterpetition" an die konstituierende Versammlung aufgestellt, die den sozialistischen Charakter des Regierungslagers anhand von konkreten Forderungen auf den Prüfstand stellen soll. Es geht um Forderungen nach verfassungsmässigen Garantien der Arbeiterrechte, z.B. des 8-Stunden-Tages oder der Arbeiterkontrolle in allen Betrieben. Die Trotzkisten glauben nicht, dass solche Artikel ihren Weg in die neue Verfassung finden. VIelmehr geht es darum, dass die Arbeiterklasse nicht einfach passiv die Versammlung beobachtet, sondern sich eigentständig einbringt. Javo von der LORCI meint dazu: "Wir müssen den Unterstützern der Petition klar machen, dass es nichts bringen wird, wenn nicht 2.000 Arbeiter mit Dynamit in der Hand die Versammlung umzingeln, um für diese Forderungen Druck zu machen."

Die Stadt und die Geschichte

El Alto ist eine riesige Urbanisierung, die sich auf dem Altiplano ständig weiter ausdehnt. Dieses endlose, flache Hochland fällt abrupt in die Tal des Choqueyapu-Fluss, die die Metropole La Paz bis zum Rand ausfüllt - in den letzten Jahrzehnten sind die armen quasi über diesen Rand gedrängt worden.

Der Kontrast könnte kaum größer sein: in La Paz geht jede Straße nach oben oder unten, mit ständigen Kurven, aber El Alto ist ein flaches Schachbrett. La Paz beheimatet viele klassischen Gebäude aus der Kolonialzeit, aber die Häuser in El Alto, aus roten Betonwerksteinen oder Adobe-Backsteinen, sind alle in den letzten 10 oder 20 Jahren gebaut worden. Laut der Stadtverwaltung sind 60% von ihnen illegal, ohne Genehmigung oder Rechte aufs Grundstück entstanden. "Es existiert kein Staat in Bolivien" pflegt man zu sagen.

El Alto begann als ein paar Häuser neben dem Flughafen, aber in den 80ern und 90ern führten Schliessungen der ehemals staatliche Bergwerke und der US-amerikanische Kampf gegen den Cocabau zu einer Massenumsiedlung in Bolivien. Jetzt gilt El Alto als die am schnellsten wachsende Stadt Lateinamerikas, die für viele BesucherInnen eine Ameisenkolonie gleicht: eine Stadt die sich ständig bewegt und ständig ihre Struktur verändert. Die Armut steht in krassem Widerspruch zu den fantastischen Blicken auf La Paz - im Gegensatz zu allen anderen Städten Lateinamerikas wohnen die Reichen weiter unten, ohne den tollen Blick aber dafür mit mehr Sauerstoff.

Die MigrantInnen nach El Alto, Coca-Bauer aber auch nicht wenige BergarbeiterInnen, brachten ihre Kampftraditionen mit. "El Alto auf den Füßen, niemals auf den Knien!" ist der Schlachtruf, den jeder bolivianische Polizist hasst und fürchtet. Auch bei kleinen Sachen - etwa wenn der LKW mit dem Gas zu wenige Flaschen hat - kommt es schnell zu Blockaden.

Bei den Protesten des "Gas Krieges" im Oktober 2003 haben die Alteños wochenlang die Hauptstadt von der Aussenwelt abgeschnitten. Ein militärischer Konvoi, mit dem die Regierung die Hauptstadt mit Benzin versorgen wollte, traf auf heftigen Widerstand und liess zahlreiche Tote hinter sich. Den Opfern dieses "Todeskonvois" wird immer noch gedacht, vor allem mit der Forderung nach der vollständigen Verstaatlichung der Gasressourcen im Land. Diese Forderung birgt unvorstellbares Konfliktpotential mit der noch beliebten Morales-Regierung, die mit dem Versprechen der entschädigungslosen Verstaatlichung an die Macht kam, sich jedoch auf das Aushandeln neuer Verträge mit den multinationalen Konzernen beschränkt hat. Denn auf dem frierenden Altiplano - in dem Land mit den größten Gasreserven des Kontinents - ist Gasknappheit keine Seltenheit.

In dieser Situation macht die Arbeiterklasse El Altos erste Schritte auf die politische Bühne. Bisher waren die Proteste durch die "juntas vecinales", Nachbarschaftsräte, organisiert. Aber beim Kongress der COR kamen rund zehn neue Gewerkschaften in diese Institution. Der regionale Gewerkschaftsdachverband wurde in den 80ern gebildet und ihre Strukturen repräsentieren überwiegend die Straßenverkäufer. Der "Arbeiter- und Volksblock" (ein Zusammenschluss verschiedener politischer Gruppen, die sich für eine bessere Vertretung der Lohnabhängigen in der COR einsetzen) beklagt, dass z.B. die Journalistengewerkschaft El Altos, mit lediglich 44 Mitgliedern, über 12 Delegierte beim COR-Kongress und 4 Sitze im Exekutivkomitee verfügt, während die Gewerkschaft der Müllmänner (und -frauen!), mit über 450 Mitgliedern, eineN einzigeN DelegierteN stellen darf.

Dieser Block hat den organischen Kongress erzwungen, um die Statuten und diese ungerechten Proportionen zu ändern. Niemand sagt, man soll die neuen Gewerkschaften aussen stehen lassen, aber die "Gremiales", die seit Jahren die COR-Führung stellen, geben ihre Rolle natürlich ungern auf. So gab es beim Kongress lange und hitzige Debatten darüber, wer wieviele Delegierte bekommt, wer im neuen Exekutivkomitee sitzt und wer überhaupt eine Gewerkschaft ist und wer nicht.

Die Bergarbeiter und die Veränderungen

Seit der Revolution von 1952 bilden die Bergarbeiter mit ihren militärischen Kolumnen und leichtem Zugang zu Dynamit die Speerspitze der bolivianischen Arbeiterbewegung. Die Statuten des Gewerkschaftsdachverbandes schreiben vor, dass nur ein Bergarbeiter Vorsitzender werden darf. Aber ihr politisches Gewicht schrumpft zusammen mit der Bedeutung der Bergwerke in der bolivianischen Wirtschaft. Bei der nächsten sozialen Krise - angesichts der Ineffiktivität der Konstituierenden Versammlung und der Instabilität der Morales-Regierung eigentlich nur eine Frage der Zeit - wird das Alteño-Proletariat eine große Rolle spielen.

von Wladek Flakin, El Alto
von der kommunistischen Jugendorganisation REVOLUTION ( http://www.revolution.de.com)

(Dieser Artikel wurde Mitte April in El Alto geschrieben. Er erschien in sehr gekürzter Form in der jungen Welt vom 8. Mai 2007: "Enttäuscht von Morales",  http://www.jungewelt.de/2007/05-08/007.php)
Creative Commons-Lizenzvertrag Dieser Inhalt ist unter einer
Creative Commons-Lizenz lizenziert.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen