Überflüssige rangeln mit Peter Hartz

Hartz IV-Empfänger_innen 17.01.2007 18:42 Themen: Medien Soziale Kämpfe

Seit über zwei Jahren sind die Überflüssigen hinter "Arbeitsmarkt-Reformer" Peter Hartz und den Auswirkungen seiner Reformen her. Als er heute vor dem Gebäude des Landgerichts in Braunschweig ankam, bedrängten ihn die Überflüssigen. Peter Hartz ist wegen Untreue als Arbeitsdirektor bei VW angeklagt.


Die Überflüssigen-Demo zum Landgericht

Mit verschiedenen Aktionen gegen Sozialabbau, Ein-Euro-Jobs und die damit einhergehende Zwangsarbeit traten die Überflüssigen bisher in die Öffentlichkeit. Heute nahmen sie Peter Hartz persönlich in Empfang, als er vor dem Braunschweiger Landgericht ankam, wo er seinen Prozess hatte.

Neben den Überflüssigen hatten sich weitere Demonstrant/innen in der Braunschweiger Münzstraße versammelt. Sie beschimpften Hartz als „Arbeiterverräter”, „Lump” und verwiesen auf die Doppelmoral des Angeklagten, der mit Hartz I bis IV sozial Schwache „fördern und fordern” wollte, andererseits seinem Kollegen Volkert Millionensummen zuschob. Hartz kaufte den VW-Betriebsrat und schaltete damit die betriebliche Mitbestimmung durch Korruption aus.


Überflüssige mit Transpi vor dem Gerichtsgebäude

„Sonderbonuszahlungen für alle! Alles für alle! Kapitalismus ist überflüssig!” riefen die Demonstrant_innen zusammen mit den Überflüssigen in den roten Kapuzenpullovern und weißen Masken. Außerdem verlautbarten sie: „Hartz alleine vor Gericht - Das reicht uns nicht! Das reicht uns nicht!” Denn Peter Hartz ist und wird nicht wegen Sozialkahlschlag angeklagt. Hartz und seine Clique deswegen zur Verantwortung zu ziehen ist Aufgabe der Bewegung auf der Straße.


Die Überflüssigen gehen ins Gebäude...

Als Peter Hartz ankam, stürmten die Überflüssigen auf ihn zu. Es kam zu Rangeleien. Einige Pressevertreter_innen sahen in den Überflüssigen "Schreckgespenster" für Peter Hartz. Soll er wegen Schreck und Gespenstern fortan nicht mehr ruhig schlafen können! Die Überflüssigen sind aber keine Gespenster. Sie stehen für den Teil der Menschen auf der Erde, deren Alltag seit jeher aus Erwerbslosigkeit, Armut, Hunger und Krieg besteht. Sie sind Menschen in den Industriestaaten, die vom gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen werden. Überflüssige sind das Ziel des Klassenkampfes von oben und der aktuellen Armutskampagne in Deutschland, sie sind Erwerbslose, deren Rechte weiter beschnitten werden, sie sind Flüchtlinge, die ins Asylbewerberleistungsgesetz fallen, sie sind allein erziehende Frauen, die in Niedrigstlohnjobs gedrängt werden, sie sind die Alten, die ihre Winterschuhe beim Sozialamt erbetteln müssen, sie sind die Kranken, denen 10 Euro Praxisgebühr fehlen. Nachfolgend die Rede der Überflüssigen.


Abschrift des Redebeitrags

Gegen die Veruntreuung unseres gesellschaftlichen Reichtums

Heute steht mit Peter Hartz der Namensgeber eines der größten sozialen Entrechtungsprogramme vor Gericht, das die Bundesrepublik Deutschland in ihrer bald 60-jährigen Geschichte gesehen hat. Doch die Anklage ist noch etwas unscharf und beleuchtet nur die Spitze des Eisberges; sie muss erweitert werden, in Hinsicht auf den Kreis der Straftatbestände ebenso wie den der Angeklagten. Es geht nicht um das bisschen Korruption und Veruntreuung von Firmeneigentum, nicht um die kleine Gaunerei im alltäglichen Kapitalismus. Es geht ums Ganze. Gegen die Veruntreuung unseres gesellschaftlichen Reichtums.

Wir sind hier, um unser Wissen zum Hartz-System zur Verfügung zustellen. Wir tun dies bewusst nicht im Gerichtssaal, sondern auf offener Straße, denn das, wofür Peter Hartz steht, geht alle an und er soll von allen beurteilt werden. Die Anklage gegen Peter Hartz lautet auf Untreue in 44 Fällen und Begünstigung des Betriebsrates. Dazu gab es in der letzten Zeit eine Menge unappetitlicher Details, die bestätigen, was wir eigentlich schon immer wussten: Der mörderische kapitalistische Alltag produziert Menschen mit niederen Bedürfnissen, geprägt von Großmannssucht, Gier und billigen Männerphantasien nach käuflicher Liebe. Menschen wie Peter Hartz, die sich tagtäglich und bewußt virtuos innerhalb der kapitalistischen Spielregeln bewegen und diese zu ihren eigenen Gunsten umzuschreiben versuchen. Menschen, die aus Macht- und Geldgier dann trotzdem an Gesetzen scheitern, die doch ohnehin recht großzügig den persönlichen Vorteil einiger weniger garantieren.

Wir wollen die Gelegenheit nutzen, der Anklage einige Punkte hinzuzufügen, die es gleichfalls zu verhandeln gilt: Peter Hartz steht mit seinem Namen ein für die Verrechtlichung des sozialen Angriffs, dem die VerliererInnen des globalen neoliberalen Programms seit einigen Jahren auch in der reichen Bundesrepublik ausgesetzt sind. Er hat sich deswegen niemals verärgert - nicht einmal peinlich berührt - gezeigt, geschweige denn von seiner Rolle als Namensgeber der Hartz-Reformen distanziert. Wir können also getrost davon ausgehen, dass Peter Hartz zu seinem Wort steht und somit nachweisbar eine erhebliche Mitschuld an der sozialen Entrechtung und Verelendung trägt, die sich in den letzten Jahren auch im reichen Europa rapide verschlimmert hat.


Die Überflüssigen in Braunschweig vor dem Gerichtsgebäude

Lassen wir die Fakten sprechen und blicken wir zurück auf vier lange Jahre Hartz-I-bis-IV-Reformen. Schon die Übergabe des in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann-Stiftung erarbeiteten Berichts der Hartz-Kommission ließ nichts Gutes erwarten: In einem pompösen Zeremoniell im Französischen Dom am Berliner Gendarmenmarkt feierten sich die selbst ernannten Retter der Arbeitslosen für ihre Erfüllung der "persönlichen Herausforderung, das seit vielen Jahren wuchernde gesellschaftliche Übel der Arbeitslosigkeit jenseits der festgefahrenen Diskussionsfronten mit innovativen und konsensfähigen Vorschlägen wirksam und nachhaltig anzugehen". Schon die oberflächliche Lektüre des Berichtes machte klar, dass in ihrem zynischen Verständnis nicht die Arbeitslosigkeit, sondern der Arbeitslose an sich als Quell allen gesellschaftlichen Übels angesehen wird.

Obwohl weit davon entfernt, ein in sich stimmiges Reformprogramm zu sein, zeigen alle Maßnahmen der Hartz-Reformen in die ewig gleiche Richtung: Immer mehr Menschen werden in Abhängigkeit und Armut gedrängt, anstatt ihre Bedürfnisse zum Ausgangspunkt gesellschaftlicher Veränderungen zu machen. Der Zwang, die eigene Existenz zu Markte zu tragen, wird auf unterschiedlichsten Ebenen forciert, denn wer nicht für den Kapitalismus arbeitet, soll auch sein Brot nicht essen. Konzepte wie die kläglich gescheiterte PersonalServiceAgentur und die sich in ihrer Wortwahl selbst entlarvende Ich-AG trugen zur wachsenden Entsicherung und Verbilligung von Erwerbsarbeit bei. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe erweist sich wenig überraschend als gigantisches Verarmungsprogramm vor allem für diejenigen, die sich schon immer weniger virtuos als Peter Hartz und seine FreundInnen in der kapitalistischen Glitzerwelt bewegen, sei es aus mangelndem Können oder in Ermangelung der notwendigen moralischen Skrupellosigkeit. Systematisch wird durch die entwürdigende Behandlung in den Arbeitsagenturen, über Profiling, Verfolgungsbetreuung, Verpflichtung zum xten langweiligen Bewerbungstraining und die Drohung, das ohnehin nicht zum würdigen Leben ausreichende ALG II zu kürzen, die Angst vor dem sozialen Abstieg geschürt. Jede Arbeit sei besser als keine Arbeit, so lautet die immer gleiche Botschaft.

Eine andere uralte Weisheit gerät dabei leider ins Abseits: Wenn schon Lohnarbeit, dann bitte schön gegen einen anständigen Lohn. Dank Hartz-Reformen ist es heute möglich, in Hamburger Nobelhotels für 1,92€ brutto zu arbeiten. Hundertausende von Erwerbslosen werden über Ein-Euro-Jobs gezwungen, quasi unbezahlt die gesellschaftliche Reproduktionsarbeit zu leisten, die früher ganz selbstverständlich Jobs im öffentlichen Dienst begründeten.

Verarmung und Entrechtung, das sind die Eckpfeiler des Hartz-Systems. Ein System, das immer mehr Menschen für überflüssig erklärt und gleichzeitig von dieser Überflüssigkeit zu profitieren weiß. Ein System, dass sich immer weniger Mühe gibt, seine hässliche Fratze zu verschleiern mit dem abgeschmackten Versprechen künftiger Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum.

Peter Hartz steht heute vor Gericht. Wir wünschen der Staatsanwaltschaft Braunschweig einen klaren Blick über den eigenen Tellerrand hinaus. Doch wissen wir, dass die durch unsere Punkte ergänzte Anklageschrift nicht vor Gerichten, sondern nur auf der Ebene sozialer Kämpfe ausgehandelt werden kann.


Überflüssige am Eingang des Landgerichts: Kapitalismus ist überflüssig - Alles für Alle!
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Ergänzungen

Erste Presseartikel zu den Protesten

Hartz IV-Gegner_innen 17.01.2007 - 18:52
"Vor dem Gebäude hatten sich zahlreiche Demonstranten eingefunden. Der Skandal um Schmiergelder, Lustreisen und Sexpartys auf Firmenkosten war für sie allerdings zweitrangig. „Hartz steht für viel Schlimmeres, für Arbeitszwang und Sozialabbau“, sagte die Berlinerin Sylvia Schopp von den „Überflüssigen“, einem bundesweiten Zusammenschluss von Hartz-IV-Empfänger. Mit etwa 20 Gleichgesinnten, alle in roten Sweat-Shirts und weißen Gesichtsmasken, war sie angereist, um die Gelegenheit zu nutzen gegen Hartz zu protestieren. „Gegen Arbeitszwang und Lohndumping – weg mit den Ein-Euro-Jobs“ ist auf ihrem Transparent zu lesen, „Menschenschinder“ auf einem anderem." (Die Welt,  http://www.welt.de/data/2007/01/17/1180232.html )

"Hartz war bei seinem Eintreffen vor dem Gerichtsgebäude mit lautstarkem Protest empfangen worden. Gegner der nach ihm benannten Sozialreformen forderten ‚Weg mit den Ein-Euro-Jobs!’ und schimpften Hartz einen ‚Arbeiterverräter’." (ddp)

"Peter Hartz fühlte sich sichtlich unwohl, als ihn Demonstranten verfolgten, die als Schreckgespenster verkleidet waren." (Bildunterschrift von Reuters)

Ein Video wird in den nächsten Tagen auf dieser Indymedia-Seite nachgereicht.

Das schreibt die Presse

copypaste 17.01.2007 - 21:20
 http://www.newsclick.de/index.jsp/menuid/2044/artid/6303640

Spießrutenlauf für Hartz vor Prozessbeginn - „Arbeiterverräter“


Von Anita Pöhlig (dpa)

Braunschweig (dpa) - Als Peter Hartz eine Viertelstunde vor Prozessbeginn in einem schwarzen VW Phaeton vor das Braunschweiger Landgericht vorfährt, schlägt ihm blanker Hass entgegen. Der Weg ins Gerichtsgebäude gleicht einem Spießrutenlauf. Mit angespanntem Gesicht muss sich der frühere VW-Arbeitsdirektor und Arbeitsmarktreformer am Mittwoch von Demonstranten als „Arbeiterverräter“ und „Lump“ beschimpfen lassen. Journalistenfragen beantwortet er nicht. Hartz muss sich nach gut eineinhalb Jahren Ermittlungen als erster in der VW-Affäre um Schmiergelder, Lustreisen und Sexpartys auf Firmenkosten vor dem Braunschweiger Landgericht verantworten. Die Anklage wirft dem 65-jährigen Hartz Untreue in 44 Fällen und unrechtmäßige Begünstigung von Betriebsräten vor.

„Wenn er ungeschoren davon kommt, dann verstehe ich die Welt nicht mehr“, sagt Peter Wilhein. Der Wolfsburger hat einen der begehrten 48 Zuschauerplätze im Großen Schwurgerichtssaal im Prozess gegen den früheren VW-Personalvorstand ergattert. Nach der Verlesung der Anklage hatte die Vorsitzende Richterin Gerstin Dreyer die Verhandlung unterbrochen, um mit den Schöffen über die Möglichkeit einer Verfahrensabsprache zu reden. Dabei könnte Hartz bei einem umfangreichen Geständnis maximal zu einer zweijährigen Strafe auf Bewährung und zu einer Geldstrafe verurteilt werden. Wilhein ist häufig als Gast im Landgericht. „Neulich waren zwei Ladendiebinnen angeklagt, die sollen für vier Wochen ins Gefängnis. Da ging es um ein paar Tausend Euro und hier geht es um Millionen“, wundert sich der Rentner.

Kurz nach 6.00 Uhr hätten die ersten Zuschauer vor dem Gericht angestanden, erzählt ein Justizangestellter. Und schon wenige Minuten nachdem das Gericht um 8.00 Uhr, zwei Stunden vor Prozessbeginn, seine Türen geöffnet hatte, waren die Platzkarten vergeben. Etwa 15 Prozessinteressierte zogen enttäuscht ab. Noch größer ist das Interesse der Medien. 64 Plätze werden im Saal offiziell von Journalisten eingenommen, auf den Zuschauerbänken und auf den Fluren sind weitere anzutreffen. „Hier im Landgericht gab es noch nie einen Prozess, bei dem das Medieninteresse so groß war“, sagt Gerichtssprecher Ingo Groß.

Vor dem Gebäude hatten sich zahlreiche Demonstranten eingefunden. Der Skandal um Schmiergelder, Lustreisen und Sexpartys auf Firmenkosten war für sie allerdings zweitrangig. „Hartz steht für viel Schlimmeres, für Arbeitszwang und Sozialabbau“, sagte die Berlinerin Sylvia Schopp von den „Überflüssigen“, einem bundesweiten Zusammenschluss von Hartz-IV-Empfänger. Mit etwa 20 Gleichgesinnten, alle in roten Sweat-Shirts und weißen Gesichtsmasken, war sie angereist, um die Gelegenheit zu nutzen gegen Hartz zu protestieren. „Gegen Arbeitszwang und Lohndumping - weg mit den Ein-Euro-Jobs“ ist auf ihrem Transparent zu lesen, „Menschenschinder“ auf einem anderem.

Während die Demonstranten im Nieselregen stehen, hört sich Peter Wilhein die Anklage an. Oberstaatsanwältin Hildegard Wolff wirft dem 65-Jährigen 44 Straftaten vor. Eine halbe Stunde berichtet sie von zweifelhaften Abrechnungen, 400 000 Euro soll allein die Brasilianerin Adriana Barros für einen Scheinvertrag erhalten haben. Weitere 200 000 Euro sollen für Reisen, Hotels, Schmuck und andere Einkäufe für die Geliebte des ehemaligen Betriebsratschefs Klaus Volkert angefallen sein. „Die Freundin von Volkert war ja mehr in der Luft als auf der Erde“, kommentiert Wilhein. Wenn der Prozess in der nächsten Woche fortgesetzt wird, will der Wolfsburger auf jeden Fall wieder dabei sein.
Mittwoch, 17.01.2007

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 http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/artikel/508/98410/

17.01.2007 11:53 Uhr

Prozessauftakt gegen Peter Hartz
Ein Verfahren aus der Retorte
Die Welt des Luxus der VW-Betriebsräte, die gern in feinsten Häusern dinierten, war eine künstliche Welt und das gilt auch ein bisschen für den ersten Tag im Prozess gegen Peter Hartz.
Von Hans Leyendecker

Als Peter Hartz an diesem Mittwochmorgen in einer ansonsten selten auf der Straße anzutreffenden Phaeton-Limousine vor dem Landgericht zu Braunschweig vorfährt, muss er wieder einmal erfahren, dass er der Hartz von Hartz IV ist.

Mitglieder einer rotgewandeten autonomen Gruppe, die weiße Masken tragen und sich „Die Überflüssigen“ nennen, rufen ihm zu: „Lump“, „Arbeiterverräter“.

Der frühere VW-Personalvorstand Hartz tut zumindest so, als sei er unbeeindruckt. Er kennt das Elend. Schließlich hat er auch damals, als er noch im 13. Stock bei VW in Wolfsburg die Werktätigen regierte, körbeweise Schmähbriefe und sogar Morddrohungen bekommen.

Er gehört auch zu den wenigen Zeitgenossen, die montags ihre eigene Demonstration haben. Der Dauer-Demonstrant Hans Jürgen Zander, der zwei Tage zuvor die 121. Braunschweiger Montagsdemonstration anführte, ist natürlich auch erschienen. „Hartz in den Knast“, fordert er. So weit wird es nicht kommen.

Der Gang eines Preußens

Punkt 9:47 Uhr betritt Hartz dann, begleitet von seinem Schlachtenerfahrenen Verteidiger Egon Müller den Gerichtssaal 141. Er geht gewohnt aufrecht, fast wie ein Preuße.

Die Fotografen drängeln um das beste Bild, es wird geschubst und gestoßen. Hartz begrüßt einen Bekannten im Publikum. Er versucht wie ein Mann dreinzuschauen, der über der Situation steht, lächelt in den Saal. Es ist ein kleines, fast scheues Lächeln – ein Kratzfuß von Lächeln.

Auf der Richterbank haben die Mitglieder der 6. Großen Strafkammer Platz genommen haben: Drei Berufsrichter und zwei Laienrichter. Übrigens führt die alte, maskuline, Zuordnung des Wortes - in diesem Prozess zumindest - in die Irre. Vier Richterinnen und ein Richter wollen über den 65-Jährigen urteilen. Auf der Bank der Ankläger sitzen übrigens zwei Oberstaatsanwältinnen, Protokollführerin ist natürlich auch eine Frau. Das war schon früher so.

Golf-GTI statt Tannenzapfen

Hartz schaut die Damen freundlich, nachdenklich an. Müller, der ein richtiger Professor ist, biegt ihm das Mikrofon zurecht, aber Hartz hat noch nichts zu sagen. Die letzte öffentliche Äußerung von Hartz liegt schon lange zurück. Am 8. Juli 2005 sagte er: „Es geht um mehr als um meine Person. Es geht um die Reputation von Volkswagen, der ich mich verpflichtet fühle." Immer ging es um mehr, aber eigentlich geht es immer um ihn.

Seine früheren Mitarbeiterinnen bei VW erzählen übrigens über ihn, dass er ritterlich gewesen sei. Nur, dass er die Angewohnheit hatte, Weihnachten statt Tannenzapfen einen kleinen Golf-GTI in den Adventskranz zu stecken, hat manche gestört.

Erkennbar um Ruhe bemüht

Die Vorsitzende Richterin Gesine Dreyer allerdings interessieren an diesem Morgen keine Stilfragen. Es ist der bislang größte Prozess, den die 46-Jährige leitet und sie versucht erkennbar, ganz ruhig zu bleiben. Sie trägt die Personalien des Sohns eines Hüttenarbeiters vor, der es ganz nach oben geschafft hatte und der Zuhörer glaubt, ein leichtes Zittern in ihrer Stimme zu hören.

Dann trägt Oberstaatsanwältin Hildegard Wolff, die ausschaut wie eine Sopranistin in einer Kantorei, den Anklagesatz vor und der Ton, den sie anschlägt, verleitet dazu, das Vorgetragene zu unterschätzen: „Dem Angeklagten wird zur Last gelegt“, sagt sie und die Last klingt auch durch die zahllosen Vorveröffentlichungen schon merkwürdig leicht.

Fast alle im nicht ganz gefüllten Saal, der Platz für 112 Zuhörer bietet, wissen, dass Hartz wegen Untreue und Begünstigung des früheren Betriebsratschefs Klaus Volkert, angeklagt ist und dass der Gesamtschaden für VW von der Staatsanwaltschaft mit 2.628.359,75 Euro beziffert wird.

Anschlag auf die Arbeiterbewegung

Das ist keine Bagatelle. Allein der angeklagte Umstand, dass der IG-Metaller Hartz in den Jahren 1995 bis 2005 seinem früheren Duzfreund, dem einstigen VW-Betriebsratschef Klaus Volkert, Sonderboni in Höhe von 1.949 Millionen Euro auszahlen ließ, war der größte Anschlag auf die Arbeiterbewegung seit der Affäre um die Zement-Cäsaren der Neuen Heimat in den achtziger Jahren.

Dem Typ des selbstlosen, asketischen Vertreters der Arbeiterklasse, der in vielen Betrieben immer noch anzutreffen ist, muss einer wie Hartz wie ein Wesen aus einer anderen Welt erscheinen.

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 http://www.faz.net/s/RubD16E1F55D21144C4AE3F9DDF52B6E1D9/Doc~EE3AE40F83C20412D8E7FFEA3157EC7C3~ATpl~Ecommon~Scontent.html

VW-Affäre

Das schlechte Gewissen des Peter Hartz

Von Henning Peitsmeier, Braunschweig


Kommt wohl glimpflich davon
17. Januar 2007
Eigentlich dürfte Braunschweig Peter Hartz in angenehmer Erinnerung sein. In seinen guten Jahren, als mächtiger Personalvorstand des Volkswagen-Konzerns, ist Hartz einige Male in die niedersächsische Stadt gefahren – womöglich voller Vorfreude auf das, was ihn in der Kurt-Schumacher-Straße erwartete. Dort hatte VW eine diskrete Hochhauswohnung im sechsten Stock für 50.000 Euro hergerichtet, und Hartz soll sich dort mit einer Prostituierten vergnügt haben. „Der Peter“, gab die Dame aus dem Milieu später bei einer Zeugenvernehmung zu Protokoll, habe sich sehr „korrekt“ verhalten.

Das Landgericht Braunschweig ist keine zehn Minuten von der Maisonettewohnung entfernt. Im Gerichtssaal 141 muss sich Hartz für seine Machenschaften bei VW verantworten, für den dubiosen Pakt, den das Management mit den Belegschaftsvertretern geschlossen hat und der im Sommer 2005 in einem beispiellosen Sex- und Rotlichtskandal gipfelte. Untreue in 44 Fällen und millionenschwere Begünstigung eines Betriebsrats werden ihm zur Last gelegt.


Seinem Duzfreund Klaus Volkert, damals Gesamtbetriebsratsvorsitzender von VW, soll Hartz seit 1995 exakt 1.949.600 Euro an sogenannten Sonderbonuszahlungen zugeschanzt haben. Dessen brasilianische Geliebte, Adriano Barros, soll 398.806 Euro und 33 Cent ohne nennenswerte Gegenleistung bekommen haben. Hinzu kommt Geld für zahlreiche Flugreisen um die halbe Welt, für teure Hotelaufenthalte, für Schmuck, für einen Sprachkurs in London. Das alles wurde in all den Jahren immer abgerechnet über die Kostenstelle 1860 von Hartz.

„Hartz ins Loch“

Früh morgens hatten sich zwischen der Schar von Journalisten auch Demonstranten vor dem historischen Renaissancepalast in der Münzstraße zwischen Dom und Rathaus aufgebaut. Zwei Dutzend von ihnen tragen rote Kapuzenpullover und weiße Masken, es sind linke Aktivisten, die sich „die Überflüssigen“ nennen, allesamt angebliche Opfer der Arbeitsmarktreformen des beschuldigten Hartz. „Weg mit den 1-Euro-Jobs“ fordern sie auf einem Transparent. Eine der „Überflüssigen“ sagt, die „Anklage gegen Hartz ist nur die Spitze des Korruptionseisbergs.“

Andere Demonstranten halten Schilder in die Kameras, „Hartz ins Loch“ steht darauf oder: „Verräter ab in den Bau, auch hohe Tiere.“ Es ist viertel vor zehn, als der Beschuldigte in einer schwarzen Phaeton-Limousine vorgefahren wird. Sofort ist Hartz umzingelt von Journalisten und einigen Demonstranten. „Lump“ und „Arbeiterverräter“ rufen sie dem Sohn eines Hüttenarbeiters entgegen, der heute noch Mitglied in der IG Metall ist. Hartz braucht gut fünf Minuten, um sich den Weg ins Gericht zu bahnen. Auf der Treppe bleibt er kurz stehen, dreht sich um, als ein Pensionär leise sagt: „Alles Gute, Peter“. Es ist das einzige freundliche Wort, das im Landgericht über ihn fällt.

Hartz schweigt

Wenige Minuten später wird Hartz im turnhallengroßen Gerichtssaal mit der dunklen Seite seines langjährigen Wirkens bei VW konfrontiert. In seiner randlosen Brille spiegelt sich das Blitzlicht der Fotoapparate. Lange steht er vor der Anklagebank und schweigt, dann sagt er: „Ich will erst nach dem Prozess etwas sagen.“

Als die Vorsitzende Richterin Gesine Dreyer den modernen Raum mit den holzvertäfelten Wänden betritt, überlässt sie rasch der Staatsanwaltschaft das Wort. Eineinhalb Jahre haben die Braunschweiger Strafverfolger ermittelt, haben Zeugen vernommen und Aktenberge zusammengetragen. Die Anklageschrift ist 63 Seiten lang. Oberstaatsanwältin Hildegard Wolff liest nur elf Seiten vor. Doch die haben es in sich: Detailliert werden alle Ausgaben für Betriebsratsboss Volkert und seine brasilianische Geliebte vorgetragen. Frau Wolff spricht ruhig, trägt flüssig vor ohne auch nur einen Versprecher. Sie berichtet von Flügen nach Madrid, Lissabon, oder Genf von entlegenen Reisezielen wie Jamaica, Bombay oder Casablanca. Für die gut hundert Zuhörer im Saal entsteht schnell der Eindruck eines ausschweifenden Jet-Set-Lebens – auf Kosten von VW, bezahlt über den damaligen Personalmanager Klaus-Joachim Gebauer, der auch noch vor Gericht kommen wird.

...und verzieht keine Miene

Hartz verzieht während des 33 Minuten langen Vortrags keine Miene. Ein Mann mit den guten Manieren eines Peter Hartz wahrt die Form. Ihm ist die Pein, die ihm der Untreueprozess bereiten muss, nicht anzumerken. Er wirkt so, als ginge er gleich in eine Vorstandssitzung. Dunkler Anzug, hellblaues Hemd mit rotgestreifter Krawatte. Nur zu Beginn rutscht er etwas unruhig auf dem Sitz hin und her, und faltet die Hände wie zum Stoßgebet.

Dabei bleiben ihm die pikanten Details über mutmaßliche Bordellbesuche erspart. Keine der Prostituierten, die VW bezahlt haben soll, wird in diesem Prozess aussagen. Dieser Teil der Anklage wurde als „unwesentliche Nebenstraftat“ fallengelassen, zur Sprache kommen ausschließlich die millionenschweren Vergünstigungen. Hartz wollte das so und die Staatsanwaltschaft ist auf dieses Geschäft eingegangen. Ebenso steht die Obergrenze des Strafmaßes schon vor der Urteilsverkündung fest: Zwei Jahre auf Bewährung und 360 Tagessätze, also rund 300 000 Euro.

In weiten Teilen der Anklage geständig

In der öffentlichen Wahrnehmung wird stellvertretend über die moralische Integrität von Managern verhandelt. Aber anders etwa als im spektakulären Mannesmann-Prozess, in dem es um noch mehr Geld ging, ist hier die Schuld von vornherein geklärt. Hartz ist in weiten Teilen der Anklage geständig. Sein eloquenter Verteidiger Egon Müller, der früher schon Otto-Graf Lambsdorff in der Flick-Affäre vertreten hat, sagt zur Sache aus, gesteht die Fehler seines Mandanten ein.

Müller braucht eine Dreiviertelstunde, um vor Gericht das Bild eines getriebenen, den ständigen Forderungen des Betriebsratsvorsitzenden Volkert ausgesetzten Managers zu entwerfen. „Meinem Mandaten lag daran, das gute Verhältnis zu Dr. Volkert nicht zu belasten“. Über Volkert, den gelernten Schmied, spricht Müller immer mit Nennung des Ehrendoktortitels – so wird für die Zuhörer unmissverständlich klar, wie weit sich dieser mit „Erster-Klasse-Flügen“ und „bevorzugtem Firmenparkplatz“ von den Belangen der Belegschaft entfernt haben dürfte.

Den Schulterschluss von Hartz und Volkert begründet Müller mit dem besonderen Mitbestimmungsmodell im VW-Werk. Die Mitbestimmung sei „zum Wohle des Unternehmens instrumentalisiert“ worden, das Rollenverständnis ginge zwar über das Betriebsverfassungsgesetz hinaus, aber die Belegschaft habe sich gut vertreten gefühlt und so etwa der Einführung einer Vier-Tage-Woche und der „Auseinandersetzung mit dem Toyota-Produktionssystem“ zugestimmt. Und Hartz? „Was bleibt ist das schlechte Gewissen und ein ungutes Gefühl“, behauptet Müller.

Was wusste Piech?

Einmal wird im Gerichtssaal gelacht: Müller sagt, dass Volkerts Geliebte, die früher als Animateurin in einer Ferienanlage gearbeitet hatte, für „interkulturelle Beziehungen“ bei VW zuständig gewesen sei. Müllers Ausführungen belasten „Dr. Volkert“ schwer, aber sie schützen einen Mann im Hintergrund, den damaligen Vorstandsvorsitzenden und heutigen Aufsichtsratschef Ferdinand Piech. In ihm sehen viele wenn nicht den Initiator dann doch einen Mitwisser im System VW.

Doch Müller sagt, dass alle Sonderboni diskret vereinbart worden seien, ohne Wissen Piechs. „Absolute Vertraulichkeit“ und „strengste Geheimhaltung“ sind Beschreibungen, die Müller verwendet. Seinen Vortrag schließt er mit einem Satz, den das Gericht milde stimmen soll: „Mein Mandant bedauert heute sein Fehlverhalten.“ Hartz wolle und müsse die strafrechtliche Verantwortung übernehmen.

Hartz sagt nur zu seiner Person aus. „Am 9. August 1941 wurde ich in St. Ingebert im Saarland geboren“, beginnt er seinen Lebenslauf. Er spart nicht seinen Grundwehrdienst aus und sein BWL-Studium auf dem zweiten Bildungsweg, er nennt auch seinen Ehrendoktortitel in Staatswissenschaften, den er von der Universität Trier am „9. November 1994“, wie Hartz genau sagt, erhalten hat. Heute kümmere er sich um eine gemeinnützige Stiftung: „Saarländer helfen Saarländern“. Sein Netto-Einkommen gibt er mit rund 25.000 Euro monatlich an, auf 2,7 Millionen Euro beziffert er sein „angelegtes Vermögen“.

Er, der Erfinder der Arbeitsmarktreformen, war unter Gerhard Schröder großspurig angetreten, die Arbeitslosenzahl zu halbieren. Geblieben sind die Gesetze Hartz I bis IV, die Erinnerung an die Anti-Hartz-Demonstrationen in Ostdeutschland. Heute taugt sein Name linken Politikern und Demonstranten vor dem Landgericht als Synonym für kalten Sozialabbau.

Am frühen Nachmittag werden vor Gericht schriftliche Zeugenaussagen verlesen. Niemand tritt persönlich in den Zeugenstand. Hartz hat bald den ersten Verhandlungstag überstanden. Doch dann ist noch nicht Schluss. Dem Untreueprozess gegen Hartz werden weitere Verfahren in der VW-Affäre folgen. Im Prozess gegen Betriebsratsboss Volkert, den Nutznießer des Systems VW, oder im Prozess gegen Personalmanager Gebauer werden die Sexgeschichten nicht ausgespart, wohl auch nicht im Prozess gegen den SPD-Bundestagsabgeordneten und früheren VW-Betriebsrat Hans-Jürgen Uhl, der ebenfalls in den Skandal verwickelt ist. Und dann können auch die Ereignisse in der Maisonette-Wohnung in der Kurt-Schumacher-Straße zur Sprache kommen. Peter Hartz wird diese Vorstellung nicht gefallen können.

Bilder Bilder Bilder

Fotographin 18.01.2007 - 11:10
Gestern waren sie in der Tagesschau zu sehen, heute sind die Überflüssigen zusammen mit Peter Hartz auf Titelseiten der bundesweiten Presse. Anbei noch ein paar Fotos von mir zur kostenlosen, nicht-kommerziellen Weiterverwendung - wegen der schönen Idee.

Weitere Medien zum Protest gegen Hartz (IV)

Surfer 19.01.2007 - 03:30
"Vor dem Landgericht stieg standesgemäß Peter Hartz aus einem Luxus VW Phaeton aus. Hartz wurde mit Buh-Rufen von Erwerbslosen-Initiativen und den 'Überflüssigen' empfangen. Diese demonstrierten gegen den Vordenker und Namensgeber der Hartz-IV Arbeitsmarktreform."
( http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/0344e198bb0b46606.php)

"9 Uhr: Die Verhandlung soll um 10 Uhr beginnen. Eine Gruppe von Aktionisten, die sich 'die Überflüssigen' nennen, nutzt die Gunst der Stunde, um gegen die nach Peter Hartz benannte Hartz-IV-Gesetzgebung zu protestieren. Mit Transparenten protestieren sie gegen 'Lohndumping' und 1-Euro-Jobs. Doch für die nach ihm benannten Arbeitsmarktreformen kann Peter Hartz nun wirklich nicht belangt werden.
9.40 Uhr: Peter Hartz lässt sich in einem schwarzen VW Phaeton von einem Chauffeur vorfahren. Als er die wenigen Meter zum Eingang des Landgerichtes zurücklegt, ertönen vereinzelt Schmährufe der Demonstranten wie 'Lump' und 'Arbeiterverräter'."
("Handschellen mit Plüsch",  http://www.manager-magazin.de)

"Umringt von teils als 'Überflüssige' maskierten Demonstranten kam Peter Hartz zum Gericht." (Bildunterschrift von dpa)

Überflüssige auf den Titelseiten

Leserin 19.01.2007 - 11:52

Das Foto von Peter Hartz zwischen den Überflüssigen war am 18.02.2007 das dpa-Foto des Tages. Anbei ein Scan der Frankfurter Rundschau-Titelseite. Grüße und weiter so!

"Ein schöner Tag für Arbeitslose"

Katrin Teschner 20.01.2007 - 01:51
Spießrutenlauf für Hartz – Demonstranten beschimpfen Ex-VW-Personalvorstand auf dem Weg zum Gericht

Für wenige Minuten weicht das Gefühl, Prügelknabe der Nation zu sein. Es ist ein kurzer Moment, in dem sich die Verhältnisse umzukehren scheinen, in dem die Arbeitslosen austeilen dürfen und Peter Hartz, einer "von denen da oben", sich nicht wehren kann. Auf diesen Moment haben die Demonstranten vor dem Braunschweiger Landgericht lange gewartet.

Thorsten Bock steht in der Menge, er hat sich eine Trillerpfeife um den Hals gebunden und reckt ein Schild in die Höhe. "Enteignung und Hartz IV ist für den Volksverräter schärfer als Knast", steht darauf. Der Peiner ist Technischer Zeichner, seit drei Jahren arbeitslos, zuletzt war er Ein-Euro-Jobber im Bauamt. Er hat sich oft als Prügelknabe gefühlt – weil "die da oben" Arbeitslose wie ihn als Schmarotzer dargestellt hätten, die auf Kosten anderer eine ruhige Kugel schieben. "Für mich ist Hartz ein Verräter", sagt er.

Wenige Meter weiter steht der Braunschweiger Wolfgang Kraemer, seit sieben Jahren arbeitslos, allein erziehend und Arbeitslosengeld-II-Empfänger. Den Namen Hartz verbindet er mit einer Gesellschaft, "die unmenschlich geworden ist", mit seinem Schicksal und dem Schicksal von Millionen Menschen. Ebenso wie der Hannoveraner Frank Sondag, der mit Mitgliedern einer Erwerbslosen-Initiative anreiste. Er hat sich ein T-Shirt bedruckt. Darauf ist der Kopf von Hartz zu sehen, hinter einem Gefängnis-Gitter. "Nicht die Erwerbslosen betrügen, Peter Hartz betrügt", steht darunter. Auch Hartz-IV-Empfänger Timo Tasche hält ein Plakat hoch: "Wo sind die Nutten? Und wo ist das Geld?" Am Plakatrand baumeln Handschellen in rosa Plüsch.

Die Demonstranten stehen vor dem Landgericht, um zu verurteilen, was sie das "System Hartz" nennen. "Die da oben" – das sind die Politiker, Wirtschaftsbosse, die Mächtigen und Reichen. Eine Gruppe, die sich "Die Überflüssigen" nennt, kommt mit roten Pullovern und weißen Masken, eine Frau liest eine Erklärung vor. "Es geht nicht um das bisschen Korruption und Veruntreuung von Firmeneigentum, nicht um die kleine Gaunerei im alltäglichen Kapitalismus. Es geht um das Ganze", ruft sie. "Es geht um ein System, dass immer mehr Menschen für überflüssig erklärt und gleichzeitig von dieser Überflüssigkeit zu profitieren weiß."

Um 9.46 Uhr fährt Peter Hartz im schwarzen Phaeton vor, Kennzeichen SLS L 3050. SLS steht für Saarlouis, Peter Hartz lebt im Saarland. Er steigt aus dem Wagen. "Menschenschänder", ruft Thorsten Bock aus Peine. "Korrupter Vogel", rufen die Demonstranten. "Heute ist ein schöner Tag für Arbeitslose", "Ab in den Knast", "Arbeiterverräter", "Schwein!"

Hartz blickt in die Menge, er steht direkt neben den "Überflüssigen" in ihren roten Pullovern und weißen Masken, er sieht die Plakate. Er lächelt leicht, öffnet den Mund, als wolle er etwas sagen, schließt ihn wieder, geht über die Straße zum Eingang. Die Fotografen, die Kamerateams, die Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfänger rennen hinter ihm her, einige schütteln ihre Fäuste. Hartz blickt starr nach vorn, seine Augen flackern.

Als Hartz seine "Bibel für den Arbeitsmarkt" geschrieben hat, wie er sein Papier zur Arbeitsmarkt-Reform nannte, hatte er einen seiner größten öffentlichen Auftritte im Französischen Dom in Berlin. Journalisten beschrieben sein inneres Leuchten, seine visionäre Kraft, sein Name war klingendes Symbol im politischen Geschäft. Davon ist in Braunschweig nichts mehr zu spüren.

Dieser Auftritt muss schmerzen. Sein öffentliches Renommee war ihm immer wichtiger als die Millionen auf dem Konto, hatten Medien schon vor dem Prozess geurteilt. Er, das Kind der Arbeiterklasse, der noch Anfang der 90er Jahre durch die Vier-Tage-Woche bei VW 30 000 Jobs rettete, wird plötzlich zum Feindbild der Menschen, denen er mit den Hartz-Reformen doch eigentlich helfen wollte. Nun erntet er Häme und Spott.

An der Tür zum Landgericht wartet Hubert Basso aus Salzgitter. Er trägt eine rote IG-Metall-Mütze mit Button: "Hände weg von der Tarifautonomie". 35 Jahre war er im VW-Konzern. Er hat als Autolackierer angefangen und war später im Werkzeugbau tätig, Vertrauensmann der IG-Metall. Mittlerweile ist der 60-Jährige im Vorruhestand.

Er ist gekommen, weil er sich als Stimme des einfachen Arbeiters versteht, weil er offen sagen will, was los ist, wie er sagt. "Die Verbrecher – das sind für mich die Betriebsräte, die IG-Metall-Zentrale, die Bescheid wusste über die Strukturen." Er ist einer der wenigen, die Mitleid haben mit Peter Hartz. "Der ist doch nur das Opfer. Die Täter sind die in den oberen Etagen, die alles gewusst haben müssen. Die müssen eigentlich hier stehen." Als Hartz an ihm vorbei durch den Eingang geht, raunt Basso ihm zu: "Sagen Sie die ganze Wahrheit!"

Die Demonstranten warten vor dem Gericht, sie harren aus mit ihren Trillerpfeifen und Plakaten. Wann haben sie schon mal solch ein Podium? Wie oft sind schon Kameras auf sie gerichtet? Für die meisten sind die Summen schwindelerregend, die hinter verschlossener Tür verlesen werden und von denen die Journalisten in den Pausen erzählen. Es gibt Rechnungen über Privatreisen, Hotelaufenthalte und teure Einkäufe von VW. Hartz soll mit einer Bewährungs- und Geldstrafe von wenigen Hunderttausend Euro davonkommen. An eine gerechte Strafe glaubt kaum einer. "Das ist doch ein Klecker-Betrag für einen wie den", sagt Frank Sondag. Für einen Mann, dessen Vermögen nach eigener Aussage 2,7 Millionen Euro beträgt.

Thorsten Bock nickt. "Wenn er aus dem Gericht rauskommt, werde ich ihn fragen, was er als härtere Strafe empfindet. Geldstrafe, Bau oder Arbeitslosigkeit?" Dazu wird er nicht mehr kommen. Hartz verlässt um 16.44 Uhr das Gebäude nahezu unbemerkt. Durch den Hinterausgang.

Urteil am zweiten Prozesstag und Überflüssige

Claus Dümde 26.01.2007 - 13:30
Am zweiten Tag des zwischen allen Verfahrensbeteiligten verabredeten kurzen Prozesses in Braunschweig war die Luft selbst bei den Demonstranten vorm Landgericht raus. Die »Überflüssigen«, die am Mittwoch voriger Woche mit weißen Masken und roten Pullovern den Erfinder auch von Hartz IV eskortiert hatten, entschuldigten ihr gestriges Fehlen per E-Mail: Sie seien auf dem Weg zu Wohnungslosenprotesten in Paris. Vielleicht würden sie en passant Hartz demnächst in seinem saarländischen Heimatort die Nachruhe rauben.

(Neues Deutschland, 26.01.2007)

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gute Aktion!

antifa 17.01.2007 - 19:06
Schröder sollte aber auch nicht vergessen werden. Hartz und Schröder waren schliesslich ein Team.

del all

danke 17.01.2007 - 19:56
danke für das löschen von kritik, super sache indymedia modteam. vielleicht haltet ihr eure persönlichen meinungen mal etwas zurück, denn die kritik war nicht unsachlich, nicht ausfallend, was also soll der grund sein?
ich denke sie hat euch einfach nicht gepasst.

Wo waren denn die Anderen ?

Detlef Rochner 17.01.2007 - 19:59
Wo waren denn die anderen Leute, die sich immer so groß tun ?
Wo waren denn die sozialen Hilfsforen ?

Diese angeblich überflüssigen Demonstranten haben wenigstens etwas getan !

Detti

Rangeln mit nem altem Mann...

der zweifellos... 17.01.2007 - 22:36
ne Menge Scheiße gebaut hat???
Selbst im übertragenen Sinne doch ziemlich sinnlos-der Selbstdemontierung des Sauberimages entgegenzutreten.
Hartz ins Loch??? Ohne Wertung dokumentiert hört sich das doch ziemlich menschenverachtend an!!! Oder wie war das denn noch mit der Gesellschaft ohne Knäste??? Oder sind einige doch "GLEICHER"??? Oder sind Prostituierte doch nur "Schmuddeltanten"?????

@Detlef

TS 18.01.2007 - 18:19
Ich muss dir total recht geben.

Ich möchte sogar behaupten, dass es ausschließlich Studenten waren, die wenigstens andeutungsweise Protest zum Ausdruck gebracht haben. So dass die Medien wenigstens in einer Zeile etwas Unmut beschreiben konnten.

Keiner scheint mehr an Widerstand zu glauben. Schon traurig.

Aber wenn mensch sich nicht wehrt, wer soll dann seine/ihre Rechte verteidigen?
Zum Glück sieht das in anderen Ländern noch etwas anders aus.

~GlobalPeace&Solidarity~

TS

PS: Karlsruhe, 26.01. 14Uhr Hbf - Gegen Studiengebühren und Sozialabbau
PPS: In Österreich gab's gestern auch wieder Proteste und Demos gegen Studiengebühren:  http://no-racism.net/article/1963
Wir brauchen international organisierten Widerstand!

 http://fading-hope.blog-city.com

Scheißt auf Hartz,

xonra 28.01.2007 - 16:49
Merkelnix, Müntefix, Bütelkofen, Schröder. Die Parteien und Gewerkschaften gilt es zu entlarven. Das Prekariat wird von allen mit Füßen getreten. Hartz ist nur der gut bezahlte Depp von Pieäch. Was sind wir doch harmlos und überflüssig wenn wir noch nicht einmal unsere Feinde kennen.