VW Brüssel: in der besetzten Fabrik

flying pickets 07.12.2006 17:01 Themen: Soziale Kämpfe
Am 17. November kam abends die Nachricht, dass die Arbeiter im Brüsseler VW-Werk nach der Ankündigung von 4000 Entlassungen spontan die Arbeit niedergelegt und die Fabrik besetzt hatten. Die nächste Schicht übernahm den Streik. Seitdem stehen die Bänder im ganzen Werk.
In den Medien ist es inzwischen um den Streik still geworden. Die Presse brachte nur noch die Ankündigung des Managements vom 4.12., dass das Werk teilweise erhalten bliebe, wenn der Streik beendet und einer Arbeitszeitverlängerung auf 38 Stunden zugestimmt würde. Mit ihrem konsequenten Kampf geraten die VW-Arbeiter in Brüssel in Gegensatz zum Kurs der deutschen IG Metall, die in einem neuen Tarifvertrag einer Arbeitszeitverlängerung von 28,8 auf 33 Stunden ohne Lohnausgleich zugestimmt hat, um die Auslastung der deutschen Werke zu verbessern. Dabei muss allen Beteiligten klar gewesen sein, dass dies zum Arbeitsplatzabbau in Werken außerhalb Deutschlands führen musste.

Kurzbesuch in der Fabrik

Brüssel liegt näher an Köln als Wolfsburg - nur zweieinhalb Stunden mit dem Auto oder dem Zug. Aber politische Grenzen und sprachliche Barrieren erschweren direkte Kontakte. Trotz nicht besonders weitreichender Französischkenntnisse und fehlender Kontakte sind wir am 5. Dezember auf gut Glück nach Brüssel gefahren. Schon mehrere hundert Meter vor dem Haupttor des zwei Kilometer langen Werkes ist die Straße gesperrt. Direkt vor dem Tor stehen mehrere Zelte der drei beteiligten Gewerkschaften (die sozialistische FTGB, die christliche CSC und die kleine liberale CGLSB). Etwa hundert Streikende wärmen sich an einem Feuer aus Paletten, das von den Fernsehteams gerne als stilvolle Streikkulisse abgefilmt wird. Am Zaun eines der üblichen Transparente bei solchen Gelegenheiten: "Wir wollen den Golf und den Polo - kurz gesagt: Wir wollen arbeiten." Zu diesem vermeintlichen Arbeitsethos passt nicht so ganz das davor drapierte halbfertige verrostende Polowrack (siehe Bild 2). Hinter dem Tor in der Fabrik entdecken wir später einen ähnlich zurechtgemachten Streik-Golf, aus dessen Schnauze eine Mülltonne gähnt, um darzustellen, wie sich die Arbeiter behandelt fühlen (siehe Bild 3).

Erst nach einiger Zeit des Rumlungerns gelingt es uns, mit Arbeitern ins Gespräch zu kommen. Die ersten, die wir ansprechen, reagieren zurückhaltend. Aber schließlich stoßen wir auf einen Kollegen, der auch wissen will, wer wir sind, und uns die ganze Situation ausführlich erklärt. Er selber arbeitet seit 25 Jahren in dieser Fabrik, was für diese Belegschaft nicht untypisch ist, und gehört der sozialistischen Gewerkschaft an, die in dem Betrieb die Mehrheit hat. Im Werk arbeiten 5400 Arbeiter (sechs Prozent Frauen), die pro Tag in drei Schichten im Siebentagebetrieb etwa 800 Golf und 200 Polo produzieren. Die beiden Modelle laufen auf einem Band (vier Golf - ein Polo). Der Golf wird vollständig in Brüssel gefertigt; die Karosserie des Polo kommt aus Bratislava/Slowakei. Jean (Name geändert) sagt, dass ein Arbeiter in Deutschland die Firma 45 Euro pro Stunde kostet, in Belgien 40 Euro, und in Bratislava sieben. Die Golfproduktion soll in Brüssel eingestellt und in Wolfsburg konzentriert werden, was in Brüssel zum Abbau von 4000 Arbeitsplätzen führen würde. Die Arbeiter schätzen es so ein, dass die restlichen 1500 Arbeitsplätze für die Poloproduktion dann auch keine längere Zukunft mehr hätten, dass VW den Betrieb ganz schließen und durch die schrittweise Schließung billiger davonkommen will. Jean erzählt, dass die Kollegen in Pamplona vor einem ähnlichen Problem stehen. Er sieht einen Zusammenhang darin, dass beide Belegschaften in den letzten Jahren rebellischer waren als die Kollegen in Deutschland und sich nicht alles haben gefallen lassen. In Brüssel haben sie die Flexibilisierung verweigert und sind nicht bereit, die durch Lohnverzicht erkaufte 35-Stunden-Woche wieder aufzugeben (siehe den vierwöchigen Streik gegen das Bandtempo 1994, Artikel in wildcat Nr. 64/65; zum Konflikt in Pamplona siehe auf indymedia u.a. "VW zieht Produktion aus Iruña (Pamplona) ab" , und "VW will Produktion als Strafe abziehen".) Außerdem weist er auf die enorm hohen Subventionen hin, die VW im Laufe der Jahrzehnte vom belgischen Staat bekommen hat.

Viele Bereiche wurden schon in den letzten Jahren ausgelagert - ein Teil in den direkt neben der Fabrik gelegenen und mit ihr über ein Förderband verbundenen "Automotive Park". Insgesamt arbeiten 12000 Menschen an der Produktion der VWs. Vom Streik sind auch die meisten Zulieferbetriebe betroffen. Hier sind die Arbeitsbedingungen wesentlich schlechter, ein großer Teil ist als Leiharbeiter beschäftigt. Im Gegensatz zum Hauptwerk, wo seit Jahren nur noch Menschen mit belgischem Pass eingestellt wurden, sollen hier auch viele Ausländer arbeiten. Erst später haben wir erfahren, dass auch zwei dieser Betriebe, u.a. Faurecia, bestreikt werden.

In einem Kilometer Entfernung sollen sich ständig Bullen in Bereitschaft aufhalten. Jean betont, dass sie dort schon am 15. November, also zwei Tage vor der Entlassungsankündigung aufgefahren waren. Vielleicht hatte VW gehofft, durch die Ankündigung an einem Freitag Abend und staatliche Einschüchterung an dem nun ausgebrochenen Streik vorbeizukommen. Der Streik kann sich aber über das Wochenende fortsetzen, weil in Brüssel am Wochenende von einer eigenen Wochenendschicht rund um die Uhr montiert wird. Auf unsere Frage, ob die Fabrik von den Arbeitern besetzt sei, winkt er ab. Nein, sie würden nur die Tore blockieren und dafür sorgen, dass nichts rausgeschafft werden kann. Gern würden wir die Fabrik besichtigen, aber er meint, das sei nicht möglich aus Sicherheitsgründen. Er gibt sich aber viel Mühe mit uns, findet sogar einen deutschsprachigen Kollegen, der uns weitere Fragen beantwortet, aber bald wieder weg muss. Schließlich holt er doch einen Gewerkschaftsdelegierten, mit ihm zusammen führt er uns durch das Werk.

In den ersten zwei Tagen hatten die Arbeiter das Werk spontan besetzt. Danach übernahmen die Gewerkschaften die Kontrolle und reglementierten den Zugang zum Werk. Nur Notdienste wie Feuerwehr, Sicherheitsleute und ausgewählte Besucher kommen jetzt noch in die Fabrikhallen. So wollen die Gewerkschaften "Vandalismus" verhindern und die Maschinen schützen. Als am 17. November die Ankündigung der 4000 Entlassungen an den Bändern rumging, führte das außer dem spontanen Streik auch zu einigen Sachbeschädigungen an Karossen und Einrichtungen (siehe Bild 4, zerstörtes Pförtnerhäuschen). Aber nicht nur die Arbeiter sind ausgesperrt, auch das Management hat sich komplett aus der Fabrik zurückgezogen. Die Gewerkschaften wollen das Werk auf jeden Fall in einem Zustand erhalten, dass die Arbeit später wieder aufgenommen werden kann. Aber davon ist noch lange nicht die Rede. Der Gewerkschaftsdelegierte, der uns nicht ohne einen gewissen Stolz "ihre Fabrik" zeigt, schätzt, dass der Streik noch bis Januar andauern wird. Allerdings sind die finanziellen Einbußen ab jetzt erheblich. Bis zum 3.12. hatten sie noch ihren Lohn von VW bekommen. Seit dem 4.12. gibt es nur noch das Streikgeld der Gewerkschaft - 25 Euro pro Tag.

Wir werden durch den gesamten Produktionsprozess geführt: vom roboterisierten Karosseriebau über die Lackiererei bis zur Endmontage, wo über das Förderband die vormontierten Türen aus dem Zulieferpark kommen. Auf dem Band mit den unlackierten Rohkarosserien entdecken die Kollegen erste Rostspuren an den Schweißpunkten und -nähten - zwei Wochen Streik haben sich schon bemerkbar gemacht. Anders als bei einer geplanten längeren Unterbrechung der Produktion sind die Bänder nicht leergefahren, sondern stehen überall mit den halbfertigen Golf und Polo voll, so wie sie am Freitag angehalten wurden (Bilder 5 und 6).

Zum Abschluss werden wir noch in die Kantine geführt, wo gerade ein Delegierter Kaffee kocht. Zu den zwei Zapfhähnen an der Theke wird uns erklärt, dass jeder Arbeiter in seiner Pause genau ein Bier trinken darf. Aber Rotwein - nein, den gibt es nicht. Bei den Robotern hatten wir ihnen gesagt, das sei doch wohl ihre Fabrik, und wozu sie überhaupt Chefs brauchen ... sie lachen und verstehen sofort, was wir meinen. Schon vor der Führung durch die Fabrik wollten sie wissen, ob wir von einer deutschen Gewerkschaft kommen. Als ihnen klar wird, dass wir keine Gewerkschaftsfunktionäre sind, tauen sie zunehmend auf und debattieren mit uns über die sozialpartnerschaftliche Rolle und das wenig kämpferische Verhalten der Gewerkschaften in Deutschland. Von der IG-Metall und ihren heuchlerischen Solidaritätsbekundungen sind sie enttäuscht und hoffen nun auf andere Kontakte. Zum Abschied tauschen wir Telefonnummern aus und versprechen, zur nächsten größeren Aktion in Brüssel auch hier zu mobilisieren.

Weitere Informationen zum Streik auf labournet.

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Ergänzungen

IG Metall prinzipiell unsolidarisch

B. 07.12.2006 - 21:36
Die meisten erinnern sich sicher noch an den Streik 2003 in Berlin und Ostdeutschland in der Automobilindustrie, bei dem die Medien mit "IG Metall streikt die deutsche Wirtschaft kaputt" (Springer, Spiegel usw) zu hetzen begannen... Es war der Höhepunkt Schröderscher Politik. Die IG-Metall-Führung, besonders IG-Metall-Vize Jürgen Peters, begannen den Streik zu sabotieren und für beendet zu erklären. Das "Beste" Die IG Metall Führung behauptete dann (um den Unmut der Basis in Spaltung umzulenken), daß die Westbetriebsräte diejenigen gewesen seien, die gegen Streik gewesen wären. Durch diese Spaltung verlor die IG Metall/Ost natürlich an Kampfkraft und verlor tatsächlich.
Nur ein Beispiel. Auch wenn es um Streiks in anderen Ländern ging, stand die IG Metall stets auf Seiten der Arbeitgeber. Blutig niedergschlagene Streiks in Argentinien oder Chile sind mir da noch in Erinnerung.
Von daher naiv, wenn man sich von der Arbeitgeberorganisation IG Metall irgendwas erhofft außer ein bischen Valium in Form von Bratwurst-Demos und populistischen Wochenend-Reden.

zum Weiterlesen

FAUista 08.12.2006 - 10:55
Mehr Infos zum Streik in Brüssel auf Indy.de: Link zu einer Webseite Link zu einer Webseite Link zu einer Webseite

Soli-Schreiben des Internationalen Sekretariats der FAU: Link zu einer Webseite

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