Mexiko hat offiziell einen Präsident

Ralf Streck 03.12.2006 13:17
Gestern ist es im militärisch abgesperrten Parlament dem konservativen Felipe Calderón gelungen, seinen Amtschwur abzulegen. Heimlich hatte sich Calderón schon in der Nacht zuvor zum Präsidenten küren lassen. Er überraschte aber seine Gegner, als er trotzdem das Parlament durch die Hintertür betrat und in nur vier Minuten die Zeremonie hinter sich brachte. Seit Dienstag hielten Gegner und Anhänger von Calderón das Podium besetzt, erneut kam es dort gestern zu Prügeleien. Der zum Gegenpräsident ausgerufene Oppositionskandidat hatte seine Anhänger zum zentralen Platz der Hauptstadt mobilisiert, um eine friedliche Demonstration anzuführen. Der Streit ist nicht beigelegt und weitere Konflikte sind vorprogrammiert, weil die Schere zwischen Arm und Reich im Land immer weiter auseinander geht.
Was sich die Tage in Mexiko auf der politischen Bühne abspielt, hat wenig mit dem zu tun, was man so allgemein Demokratie nennt. Seit Dienstag eskalierte die Lage im Parlament, als die Parlamentarier von Calderóns "Partei der Nationalen Aktion" (PAN/  http://www.pan.org.mx) auf das Podium stürmten, um den Anhängern der Linkskoalition unter Führung der "Partei der Demokratischen Revolution" (PRD/  http://www.prd.org.mx) zuvorzukommen. Die PAN fürchtete, die könnten erneut das Podium besetzen, um die Amtseinführung von Calderón zu verhindern, wie sie den Ex-Präsidenten Vicente Fox kürzlich daran hinderten, Rechenschaft abzulegen ( http://de.indymedia.org/2006/09/156549.shtml).

Überrascht stürzten dann die Linksparlamentarier ebenfalls los und wurden von den Konservativen mit Schlägen und Fußtritten empfangen. Doch dies hielt sie nicht ab, so dass schließlich beide Gruppen das Podium tagelang bis zum gestrigen Freitag kampierten. Der peinliche Vorgang, live per Fernsehen in die Haushalte übertragen, ging soweit, dass man sogar einen Waffenstillstand aushandelte. Der "Nichtangriffspakt war aber auf Freitag 8 Uhr (14 Uhr MEZ) begrenzt. Denn die Konservativen hatten angekündigt, die Amtseinführung ihres Kandidaten genauso durchzusetzen, wie die Linke angekündigt hatte, sie zu verhindern.

So eskalierte die Lage am Freitag früh erneut. Die Abgeordneten beider Lager traktierten sich gegenseitig im Parlament mit Schlägen und warfen mit Stühlen aufeinander. Parlamentarier der Linkskoalition versuchten die Türen zu versperren. Drinnen kursierten Listen, um festzustellen, ob ein Quorum von mehr als 300 der 628 Parlamentarier vorhanden sei. Als das gesichert war, wurde Calderón schwer bewacht von Leibwächtern durch einen Hintereingang ins Parlament von San Lázaro geschleust. Dort brachte er im Schnelldurchgang den Akt hinter sich. In nicht einmal fünf Minuten legte er seinen Eid ab, ließ man die Nationalhymne erklingen und brachte den neuen Präsident wieder hinaus. Anwesend waren auch einige wenige Ehrengäste, wie US-Präsident Bush, die zur Vereidigung angereist waren.

Die Linke wurde überrumpelt, die offenbar nicht mehr damit gerechnet hatte, dass Calderon kommen würde. Denn der hatte sich schon um Mitternacht, in einer im Vorfeld geheim gehaltenen Zeremonie, zum Präsidenten küren lassen. Vor ausgewählten Gästen und bewacht von viel Militär hatte der Ex-Präsident Vicente Fox seine Präsidentenschärpe abgegeben und sie Calderon im Präsidentenpalast "Los Pinos" überreicht. Der hatte dann, bei dem im Fernsehen übertragenen Akt, zur Überwindung der politischen Spaltung aufgerufen. "Ich ignoriere nicht die Komplexität der politischen Situation oder unsere politischen Meinungsunterschiede", sagte er. Dennoch jetzt sei es an der Zeit, den Streit beizulegen.

Während sich die Parlamentarier prügelten, sammelte der von der Linkskoalition eingesetzte Gegenpräsident ( http://de.indymedia.org/2006/09/157608.shtml) Andrés Manuel López Obrador (AMLO/ http://www.amlo.org.mx) erneut zahllose Anhänger auf dem zentralen Platz der Hauptstadt. Auf dem Zócalo warf der "legitime Präsident" Calderón erneut "Wahlbetrug" ( http://de.indymedia.org/2006/08/155013.shtml) vor. Er erinnerte daran, dass er die Nachzählung der Stimmen vorgeschlagen habe, um die Zweifel bei dem extrem knappen Wahlausgang auszuräumen. Die Einführung von Calderón nannte er einen "Staatsstreich". ( http://www.eldictamen.com.mx/1a.asp?idn=53431). Es werde solange keine politische Normalisierung und keine Verhandlungen geben, bis das Land zur "Demokratie zurückgekehrt ist" ( http://www.esmas.com/noticierostelevisa/mexico/586427.html), kündigte er weitere Massenproteste an.

Obrador führte danach eine Demonstration zum Nationalauditorium an, wo Calderón sein Kabinett vereidigte und eine erste Rede hielt. Er schärfte seinen Anhängern ein, nicht auf Provokationen hereinzufallen, deshalb dürfe es keiner Gewalt, "nicht eine bemalte Wand, nicht eine kaputte Fensterscheibe geben". Immer werde von Kommunikationsmedien versucht, die friedliche Bewegung in die gewalttätige Ecke zu drängen. "Doch die vergessen manchmal den Hintergrund, dass man uns die Präsidentschaft geraubt hat", sagte er ( http://www.jornada.unam.mx:8080/ultimas/encabeza-amlo-marcha-al-auditorio-nacional-donde-estara-calderon). Obrador stoppte die Menge noch vor dem Eintreffen am Chapultepec-Park, der von der Polizei abgeriegelt war, um jede Konfrontation zu vermeiden.

Im Nationalauditorium forderte darin derweil Calderón bei der Vereidigung seines Kabinetts die Opposition zu Verhandlungen auf: „Wir sollten heute unsere Differenzen beilegen und die Interessen unseres Landes an erste Stelle setzen“. Calderón kündigte an, er wolle der Präsident aller Mexikaner sein und lobte die Arbeit seines Vorgängers und Parteifreundes Fox.

Auf welch schwachen Beinen seine Regierung steht, haben die peinlichen Szenen der letzten Tage gezeigt. Die Volksvertreter haben mit ihrer Gewalt im Parlament alles andere als ein gutes Beispiel für die Bevölkerung abgegeben. Dass ein Präsident heimlich ins Amt eingeführt werden muss, und zahllose Menschen gegen ihn friedlich demonstrieren, zeigt ebenfalls seine Schwäche an.

Ohnehin regiert der nur mit Duldung der ehemaligen Staatspartei "Partei der Institutionellen Revolution" (PRI/ http://www.pri.org.mx). Die hatte Mexiko bis 2000 über sieben Jahrzehnte autokratisch regiert. Santiago Creel, Koordinator der Senatoren von Calderóns PAN erkannte an, dass die Vereidigung des Präsidenten generalstabsmäßig mit der PRI geplant worden war. Jeder Senator und jeder Abgeordnete habe dabei eine Rolle zu spielen gehabt. "Sie haben ihr Wort gehalten und auch ich werde meines halten" kündigte er an. Er sagt aber nicht, welche Verpflichtungen die PAN für die Hilfe eingegangen ist. ( http://www.eluniversal.com.mx/notas/391380.html)

Man darf davon ausgehen, dass das gewaltsame Durchgreifen der Sicherheitskräfte in den letzten Tagen im Bundesstaats Oaxaca ( http://www.heise.de/tp/r4/artikel/20/20699/1.html) Teil des Pakts ist. Gegen die Volksbewegung, die seit einem halben Jahr ( http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24012/1.html) die Absetzung des PRI-Gouverneurs Ulisses Ruiz fordert, geht nun auch die aus der Hauptstadt entsandte Bundespolizei mit extremer Gewalt vor. Nach dem brutalen Angriff am Wochenende wurden im Laufe der Woche zahlreiche Führer der Volksbewegung (APPO/  http://www.asambleapopulardeoaxaca.com) verhaftet. Friedlich forderten Tausende Demonstranten gestern die Freilassung von 171 Menschen.

Mit der PRI kann Calderón auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen, was die gewaltsame Niederschlagung von Protesten angeht. So wurde diese Woche deren Ex-Präsident Luis Echeverría Alvarez angeklagt, dem nicht weniger als Völkermord vorgeworfen wird. Er wird für das Tlatelolco Massaker am 2. Oktober 1968 in Mexiko Stadt verantwortlich gemacht, dem Hunderten Studenten zum Opfer gefallen seien. ( http://www.milenio.com/mexico/milenio/nota.asp?id=459776). Dieses Massaker sei, im Gegensatz zu anderen Verbrechen des schmutzigen Krieges ( http://www.heise.de/tp/r4/artikel/20/20699/1.html) nicht verjährt, meint der zuständige Richter.

So hat sich in Mexiko nun eine unheilige Allianz gebildet: Die PRI hat Calderón ins Amt gehievt, wofür ihr die PAN bei der Sicherung ihrer Pfründe hilft. So wird die PRI den schwachen Calderón, dessen PAN selbst keine eigene Mehrheit hat, solange halten, wie der sich entsprechend verhält. Unter diesen Vorraussetzungen dürfte auch das Verfahren gegen Echeverría kaum noch Aussicht auf Erfolg haben. Dass gestern auch die Polizisten in Oaxaca frei gelassen wurden, die in die Ermordung des Indymedia-Journalisten Brad Will ( http://www.heise.de/tp/r4/artikel/23/23854/1.html) verwickelt sein sollen, weist ebenfalls in keine gute Richtung ( http://www.milenio.com/mexico/milenio/nota.asp?id=460115).

Doch wird es dieser Allianz wohl kaum noch gelingen, den Deckel auf dem Pulverfass Mexiko zu halten. Der Unmut über die allgemeine Politik kristallisiert sich nicht nur in Oaxaca, Chiapas oder in der Hauptstadt. Auch in den Bundesstaaten Guerrero und Puebla brodelt es. Vor allem wird aber die wirtschaftliche Misere im Land dafür sorgen, dass die Proteste nicht abreißen werden.

Das staatliche Sekretariat für Entwicklung (Sedesol) ( http://www.sedesol.gob.mx/index/main.php) hat gerade Zahlen vorgelegt, dass von Entwicklung in Mexiko keine Rede sein kann. Nach dessen Angaben ist die Zahl der Armen in den sechs Jahren der Fox-Regierung auf 47 Millionen angewachsen ist. Das sind sieben Millionen mehr als vor dessen Wahlsieg 2000. Bei genauerer Betrachtung weist das Sekretariat tatsächlich sogar fast 54 Millionen Menschen aus, deren Einkommen nicht ausreicht, um die minimalen Anforderungen an Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung, Erziehung und Wohnung zu bestreiten. Das ist die Hälfte der gesamten Bevölkerung. Unter dem PRI-Präsidenten Carlos Salinas de Gortari (1988-1994) waren das nur etwa halb so viele Menschen. Besonders erstaunlich ist die Verarmung breiter Schichten, weil auch Mexiko über den extrem gestiegenen Erdölpreis in den letzten Jahren hohe Einnahmen verzeichnete. Doch die kommen der Bevölkerung nicht zu Gute.

So ist offensichtlich, dass die Reichen im Land immer reicher werden. Die Tageszeitung Jornada zitierte aus einem Bericht der Weltbank ( http://www.worldbank.org) und der UN-Entwicklungsorganisation ( http://www.undp.org), der diesen Trend deutlich macht. Der Bericht soll in der kommenden Woche veröffentlicht werden, schreibt die Jornada. "Aktuell profitieren die mächtigen Gruppen vom Status quo". Die würden große Gewinne auf Kosten der Dynamik und des Wachstums erzielen. Der Bericht identifiziere "eine Gruppe von 20 Familien, die als "mexikanische Multimillionäre" bezeichnet würden. Statt fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), zu Beginn der Präsidentschaft von Fox, hätten sie ihren Reichtum nun auf sechs Prozent des BIP ausgebaut. ( http://www.jornada.unam.mx/2006/11/27/index.php?section=economia&article=030n1eco)

© Ralf Streck, den 02.12.2006
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Ergänzungen

weltweiter Oaxaca-Aktionstag am 22.12.

egal 04.12.2006 - 16:49
Das Generalkommando des EZLN ruft für den 22.12.2006 zu einem weltweiten Solidaritätstag mit der Widerstandsbewegung in Oaxaca / Mexico aufgerufen: Für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit!

Quelle:  http://www.ainfos.ca/ainfos01416.html

(en) Mexico, Zapatista call for Oaxaca solidarity on December 22
Date Mon, 04 Dec 2006 09:41:58 +0200

Communiqué of the Indigenous Revolutionary Clandestine Committee - General Command of the Zapatista Army of National Liberation. -- Mexico. Dec. 2 of 2006

To the people of Mexico: To the people of the world: Brothers and Sisters:
The attack that our brothers, the people of Oaxaca suffered and suffer cannot be ignored by those who fight for freedom, justice and democracy in all corners of the planet.
This is why, the EZLN (Zapatistas) calls on al honest people, in Mexico and the world, to initiate, starting now, continual actions of solidarity and support to the Oaxacan people, with the following demands:
For the living reappearance of the disappeared, for the freedom of the detained, for the exit of Ulises Ruiz and the federal forces from Oaxaca, for the punishment of those guilty of torture, rape and murder.

We call to those in this international campaign to tell, in all forms and in all places possible, what has occurred and what is occurring in Oaxaca, everyone in their way, time and place.

We call for these actions to come together in a worldwide mobilization for Oaxaca on December 22, 2006.
The people of Oaxaca are not alone. We have to say so and demonstrate it, to them and to everyone.
Democracy!
Freedom!
Justice!

By the Indigenous Revolutionary Clandestine Committee - General Command of the Zapatista Army of National Liberation.
Mexico.

Insurgent Subcommander Marcos.
Mexico, December of 2006
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