Gesunder Klassenkampf

Wolfram Metzger 01.12.2006 20:17 Themen: Soziale Kämpfe Weltweit
Das Gesundheitsprogramm Barrio Adentro versorgt kostenfrei Millionen Venezolaner aus den Armenvierteln – bis hin zu Herzoperationen. Neoliberale Gesundheitskonzepte für »Dritte-Welt«-Länder werden damit als reine Profitmacherei entlarvt.
Daß Arme und von der Bildung Ausgeschlossene gleichzeitig die Kränkeren sind, die tendenziell früher sterben, ist eine Erkenntnis, die bereits mit dem Aufkommen kapitalistischer Produktion und der sie begleitenden bürgerlichen Wissenschaften in objektive Formen gegossen wurde. Schon vor mehr als 150 Jahren erkannte der Sozialmediziner Rudolph Virchow in seinem Bericht über die »Not im Spessart« die schlechte Wohn- und Ernährungssituation als eigentliche Ursache der epidemischen Ausbreitung des Typhus und erklärte, daß »Bildung, Wohlstand und Freiheit die einzigen Garanten für die dauerhafte Gesundheit eines Volkes sind«. Seither fördern Myriaden akademischer Studien – und sozialkritische Lehrstuhlinhaber der Volksgesundheit, englisch »Public Health« genannt, beschäftigen sich oft mit nichts anderem – diese zur Binsenweisheit geronnene Wahrheit stets wieder aufs neue zutage.

»Barrio Adentro« heißt »Im Viertel« oder »Hinein ins Viertel«, wobei im lateinamerikanischen Kontext »Elendsviertel« gemeint sind. Es ist der Name für das Programm der kostenfreien medizinischen Versorgung Venezuelas, die besonders der armen Bevölkerung zugute kommen soll, von der Basisgesundheitsversorgung bis zur Herzoperation, eingebettet in ein Netzwerk von Regierungsprogrammen zur Armutsbekämpfung wie zum Beispiel dem sozialen Wohnungsbau (Misión Habitat) oder der Ernährungssicherung (Misión Mercal). Barrio Adentro wird aus der staatlichen Ölindustrie finanziert und gründet sich auf die neue Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela, die in Artikel 84 den Staat verpflichtet, ein öffentliches Gesundheitssystem zu betreiben, das auf den Prinzipien der Kostenfreiheit, Universalität, Behandlung aller Erkrankungen, Gleichheit, sozialen Integration und Solidarität beruht, und welches nicht privatisiert werden darf.

Barrio Adentro wurde im Jahr 2003 ins Leben gerufen, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den 25. Jahrestag der 1978 vereinbarten Erklärung von Alma Ata feierte. Diese Deklaration hatte Gesundheit für alle im Jahr 2000 zum Ziel und wurde als einzigartiger Wendepunkt für das Verständnis öffentlicher Gesundheitspolitik vor allem in der dritten Welt gefeiert. In der Erklärung, von 134 Staaten unterschrieben, wird die Notwendigkeit konstatiert, daß der Staat eine zugängliche, erschwingliche und umfassende Gesundheitsversorgung für alle zur Verfügung stellt. Da Gesundheit und ihre staatliche Betreuung jedoch im entwickelten als auch im weniger entwickelten Kapitalismus nur als abhängige Variable von Akkumulation und Profit vorkommt, wurde das schöne Ziel nie erreicht.

Errungenschaften des Prozesses: Infocentro, Modul, Mercal
Errungenschaften des Prozesses im Barrio La Vega in Caracas: Ein Infocentro für den freien Zugang zu Computern und Internet, ein Modul der Misión Barrio Adentro für kostenlose Gesundheitsversorgung und ein Supermarkt der Misión Mercal, in dem subventionierte Lebensmittel verkauft werden.

Klassenkampf und Gesundheit

Eine zentrale Einsicht von Alma Ata war, daß die Verbesserung von Gesundheit nicht die Aufgabe des einzelnen ist, der an seinem Los selbst schuld sei, sondern daß Lebensbedingungen wie Trinkwasserversorgung, Ernährung, sanitäre Einrichtungen sowie Wohn- und Arbeitsverhältnisse Berücksichtigung finden und politische sowie sozio-ökonomische Mißstände wie Krieg, Hunger und Armut verhütet oder abgeschafft werden müssen. Hervorgehoben wurde die zentrale Rolle der aktiven Partizipation der Bevölkerung. Schlüsselkonzept von Alma Ata war die Basisgesundheitsversorgung, die einen integrativen Ansatz von Gesundheitsbildung, Prävention, Kurativmedizin und Rehabilitation verfolgte.

Ursache für die Neuorientierung der Basisgesundheitsversorgung in den siebziger Jahren waren die gesundheitspolitischen Erfolge von Ländern mit radikalen gesellschaftlichen, also revolutionären Veränderungen. Zum Beispiel waren sogenannte Barfußärzte im maoistischen China in Erster Hilfe ausgebildete Laienhelfer, die zu Tausenden in staatliche Betriebe und ländliche Produktionsgenossenschaften geschickt wurden, um für die medizinische Grundversorgung zu sorgen, so daß Parameter wie die Sterblichkeit von Kindern und jungen Müttern schnell und beträchtlich gesenkt werden konnten. Zudem ist Kuba in Lateinamerika für sein gutes Gesundheitssystem bekannt und sendet bis heute Ärzte in 80 Länder. Kuba gab im Jahre 2000 pro Kopf der Bevölkerung 193 US-Dollar für das Gesundheitswesen aus. In den USA betrug die Ausgabe 4499 Dollar pro Kopf. Trotzdem lag die Säuglingssterblichkeit in beiden Ländern fast gleich hoch bei sieben Promille. In Chile wurden während der kurzen Regierungszeit von Salvador Allende Schule und Gesundheitsversorgung kostenfrei angeboten, und auch in der ehemaligen DDR mußte sich niemand seinen Kopf darüber zerbrechen, ob er den nächsten Arztbesuch bezahlen konnte.

Obwohl sich in der Erklärung von Alma Ata eine nie zuvor dagewesene Aufbruchsstimmung ausdrückte, handelte sie sich berechtigte Kritik ein, da sie als gewagte Zielvereinbarung mit Appellcharakter auf der falschen Annahme beruhte, daß alle Akteure für den eindeutig guten Zweck kooperieren würden. Politische Interessen, die einer optimalen Gesundheitsversorgung unvereinbar im Weg stehen, wurden nicht benannt. Man predigte Kooperation statt Konfrontation oder, anders ausgedrückt, der Klassenkampf wurde ignoriert.

Hingegen wurden die Klassenauseinandersetzungen von der anderen Seite umso nachhaltiger geführt. Sogenannte Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) zwangen die Trikontstaaten zu einschneidenden Anpassungen von Land und Leuten an die Erfordernisse des internationalen Geschäftes. Staatsausgaben mußten reduziert, Löhne und Gehälter gesenkt, die Landeswährung abgewertet, Subventionen im Nahrungsmittelbereich eliminiert, die Preise im Agrarbereich angehoben sowie Staatsbetriebe privatisiert werden. Dadurch konnte eine flächendeckende medizinische Basisversorgung nie aufgebaut werden oder wurde, falls bereits existent, wieder zerschlagen. So tötet eine Krankheit wie Malaria im tropischen Afrika jährlich eine Million Kinder. Da Malaria mit wenigen Tabletten heilbar ist, wenn man sie rechtzeitig und richtig behandelt, sterben die meisten dieser Kinder bei fehlender Basisversorgung letztendlich an eingeschränkter Reisefreiheit, da sich die Eltern den Transport zur Behandlung vom Dorf in die Stadt nicht leisten können.

Die WHO wurde bald von der Weltbank und dem IWF in der Meinungsführerschaft des gesundheitspolitischen Diskurses verdrängt. Beide empfahlen, die vom Patienten zu entrichtenden Gebühren zu erhöhen, private Versicherungen einzurichten und staatliche aufzulösen. Außerdem sollte der private Sektor ausgedehnt werden. Im Jahr 1993 wurden neue Richtlinien in einem Grundsatzdokument der Weltbank mit dem Titel »Investing in Health« (Investition in die Gesundheit) in fein abgestimmter Weise vorgetragen. Ein Banker reflektierte darüber offen: Richtlinienpolitik besteht, wenn die Bank wirkliche Macht hat – ich meine pure Gewalt. Wenn die Länder mit dem Rücken zur Wand stehen, kann man sie dazu zwingen, Dinge in einem Ausmaß zu reformieren, wie sie das im Kontext von Projekten niemals könnten. Der Gesundheitssektor kann unter diesen Bedingungen auch erwischt werden.

Die WHO war lange Zeit stiller Zuschauer im Streit um die Meinungsführerschaft. Sie versuchte aufzuholen, indem sie eine Kommission für Makroökonomie und Gesundheit ins Leben rief. Der Bericht dieser Kommission wurde im Dezember 2001 mit der Absicht vorgestellt, den höchsten ökonomischen Sachverstand zu bündeln, um eine Vision von Gesundheit in der globalisierten Welt zu schaffen. Zur Bekräftigung dieser Absicht erhielt Jeffrey Sachs, der von der New York Times als der wohl wichtigste Wirtschaftswissenschaftler der Welt bezeichnet wurde, den Vorsitz der Kommission. De facto war es der Versuch der WHO, die Sprache der Weltbank zu sprechen. Im Vorwort des Berichts heißt es: Die Globalisierung ist auf dem Prüfstand wie nie zuvor. Deshalb muß die Welt erfolgreich ihre hehren Verpflichtungen erfüllen, die Armut zu verringern und die Gesundheit verbessern. Wohlgemerkt, die Logik hat sich verkehrt: Armut soll verringert, nicht mehr abgeschafft, und Gesundheit verbessert werden, um den Zweck, das globalisierte Geschäft der Konzerne, das in Gefahr gesehen wird, zu erhalten und zu befördern. Die ideologische Übernahme der WHO durch das neoliberale Entwicklungsestablishment war damit gelungen.

Mobile Behandlungsstation der Misión Barrio Adentro
Mobile Behandlungsstation der Misión Barrio Adentro

Gesundheit selbst organisieren

Das Programm Barrio Adentro setzt nicht nur durch, was 1978 in Alma Ata konzipiert wurde, sondern geht darüber hinaus. Als im Dezember 1999, also in dem Jahr, in dem Hugo Chávez Frias zum Präsidenten Venezuelas gewählt wurde, heftige Regenfälle im Bundesstaat Vargas Schlammlawinen auslösten und mindestens 20000 Menschen unter sich begruben, wertete die entmachtete Oligarchie Venezuelas diese Naturkatastrophe als Menetekel eines drohenden Unheils. Damals trat als Katastrophenhilfe die Misión Medica Cubana, die medizinische Hilfsorganisation Kubas, zum erstenmal in Aktion. In den Jahren nach der Wahl von Chávez versuchte die in die Opposition gedrängte besitzende Klasse unter anderem mit einem blutigen Putsch, einem Unternehmerstreik sowie mit der Sabotage der Ölindustrie, die Macht wieder an sich zu reißen. Zum selben Zweck legte ein politisch motivierter Streik der venezolanischen Ärztezunft das öffentliche Gesundheitssystem über weite Strecken lahm. Nach dem Scheitern dieser Versuche begann die Regierung im Jahr 2003, die sozialen Programme, sogenannte Misiones, ins Leben zu rufen. Unter anderem wurde die venezolanische Ärzteschaft dazu aufgerufen, durch eine medizinische Versorgung die katastrophale Situation in den Elendsvierteln zu lindern, in denen 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung lebten, weil sie nie einen Arzt sahen. Die venezolanische Ärzteschaft winkte ab. Daraufhin wurde die Misión Medica Cubana erneut angefragt, die noch im selben Jahr Ärzte in einige der Slums von Caracas schickte.

Bedingung für die Aufnahme der kubanischen Ärzte in den Barrios war die Selbstorganisa­tion der Menschen in den Stadtteilen. Gesundheitskomitees wurden gegründet, um die Voraussetzungen für die medizinische Versorgung herzustellen. Zweifelsohne war dies kein Prozeß ohne Konflikte und Spannungen. Er führte jedoch dazu, daß die Betroffenen ihre Anliegen selbst in die Hand nahmen. So erzählt eine freiwillige Helferin aus dem Stadtteil Catia in Caracas: »Meine Rolle verändert sich seit der Ankunft der kubanischen Ärzte, da ich gelernt habe, mich besser auszudrücken. Ich war zu schüchtern. In der Gemeinschaft haben wir uns nicht getraut, und wir wußten auch gar nicht, wie man in der Öffentlichkeit spricht. Nach all den vielen Versammlungen für Barrio Adentro, an denen wir teilgenommen haben, und durch die Workshops habe ich gelernt, die Furcht zu überwinden.« Die Beteiligung der Stadtteile an der Organisation der medizinischen Versorgung ist nicht durch Planerfüllung staatlicher Vorgaben geprägt, sondern entwickelt sich im Wechselspiel mit anderen Misiones und den Ministerien. Eine der ersten Koordinatorinnen eines Gesundheitskomitees berichtet: »Hier wurde die ganze Zeit für uns entschieden, wir waren wie Marionetten, jetzt nicht mehr, jetzt haben wir uns als Gesundheitskomitee organisiert, das der Pionier für alles war. Von hier haben sich die OCV, das sind die Organisationen für den Wohnungsbau, und die Landkomitees gegründet. Über die Landkomitees kam es zu Gemeindeversammlungen. Niemand von der Regierung kommt und sagt uns, was wir zu tun hätten, wir halten Versammlungen in jenen Gesundheitskomitees ab, die eine sehr wichtige Rolle hier im Stadtteil spielen. Durch die Gesundheitskomitees haben wir uns vereint, so wie wir es jetzt sind, zu 99 Prozent. Das war eine sehr gute Sache.« Im Mai 2006 existieren im ganzen Land 8951 Gesundheitskomitees, für die vom Gesundheitsministerium eine nationale sowie weitere regionale Koordinierungsstellen eingerichtet werden. Aktivitäten der Gesundheitskomitees sind, neben der praktischen und logistischen Organisierung von Barrio Adentro, das Veranstalten von Stadtteilversammlungen zum Thema Gesundheit. Allein im ersten Trimester 2006 fanden 41639 solcher Versammlungen mit 1423815 Teilnehmern statt.

Gesundheitsnetzwerk ausbauen

Barrio Adentro, das inzwischen die traditionellen Strukturen des venezolanischen Gesundheitssystems integriert hat und innerhalb von drei Jahren zum staatlichen Gesundheitssystem Venezuelas herangewachsen ist, kann momentan in vier Ebenen unterteilt werden. Diese Gliederung soll jedoch nicht als krankenhauszentrierte Hierarchie, sondern als Netzwerk begriffen werden, das als Ganzes der medizinischen Grundversorgung dient. Mitte des Jahres 2006 arbeiten 31 439 Personen als Gesundheitsarbeiter in Barrio Adentro. 15 356 von ihnen sind kubanische Ärzte, die auf die verschiedenen Einrichtungen verteilt sind. Davon sind auf der Ebene der Primärversorgung (Barrio Adentro-1) etwa 13 000 kubanische und einige venezolanische Ärzte, denen je 250 bis 350 Familien zugeteilt sind. Vorausgesetzt, daß Patienten nicht zwei oder drei Doktoren wegen desselben gesundheitlichen Problems aufsuchen und daß eine venezolanische Durchschnittsfamilie fünf Mitglieder hat, kann der Erfolg der vollständigen flächendeckenden Primärversorgung durch einfache Multiplikation errechnet werden: zirka 19.500.000 Menschen entspricht den etwa 70 Prozent der venezolanischen Bevölkerung (insgesamt knapp 26 Millionen), die vordem von der medizinischer Versorgung ausgeschlossen waren, da sie die Behandlung nicht bezahlen konnten.

Als die kubanischen Ärzte in die Barrios kamen, wurden sie von Familien aufgenommen, in deren Unterkünften sie Puntos de Consulta (Gesundheitsposten) einrichten konnten. Gleichzeitig wurden Consultorios Populares errichtet, in denen die Gesundheitsposten nach und nach umziehen sollten. Es handelt sich hierbei um zweistöckige, achteckige Module, die im Erdgeschoß aus einer kleinen Praxis mit Behandlungs- und Warteraum, und im oberen Stockwerk aus zwei Schlaf- und einem Aufenthaltsraum für zwei Ärzte bestehen. Prinzipiell sollen die Ärzte 24 Stunden ansprechbar sein, wobei ihr Arbeitstag in eine morgendliche Sprechstunde im Consultorio Popular und eine Hausbesuchstour am Nachmittag unterteilt ist. Bauliches Ziel ist es, 5966 Consultorios Populares, im ganzen Land zu verteilen. Im November 2006 waren 2113 dieser Volkspraxen fertiggestellt und 3853 in Planung bzw. im Bau.

Des weiteren soll die Basisversorgung durch Polikliniken (Centro Diagnostico Integral) mit kleiner Intensivstation und Operationsraum, durch Rehabilitationszentren (Sala de Rehabilitacion Integral) sowie Diagnosezentren (Centro de Alta Tecnologia) und Volkskliniken (Clinicas Populares) ergänzt werden, um den kostenlosen Zugang zu Laboruntersuchungen, Rehabilitationstherapien und intensiver medizinischer Betreuung sicherzustellen (Barrio Adentro-2). Veranschlagt ist eine Poliklinik bzw. ein Rehabilitationszentrum im Einzugsbereich von zehn Volkskliniken. Etwa die Hälfte der angestrebten Anzahl von Polikliniken (254 von 600) und Rehabilitationszentren (342 von 600) sind bereits fertiggestellt. Von den 35 geplanten Diagnosezentren sind elf eröffnet, und elf von zwölf Volkskliniken haben ihre Arbeit aufgenommen. Die schwierige Reform der bereits existierenden Krankenhäuser wurde im August 2005 in Angriff genommen (Barrio Adentro-3). Barrio Adentro-4, der Bau von 16 modernen Spezialkliniken mit Spitzentechnologie, startete im August 2006 mit der Einweihung eines Hospitals für Kinderkardiologie, in dem Kinder aus ganz Lateinamerika mit angeborenen Herzfehlern kostenfrei operiert werden sollen.

Dumme Sprüche der Reaktion

Ein besonders dummer Einwurf oppositioneller Venezuelaner gegen Barrio Adentro ist, daß die Kubaner gar keine richtigen Ärzte seien und das Land nur mit Kommunismus kontaminierten. Dieselbe törichte Attacke wird in veredelter Form geritten, wenn belächelt wird, daß die Ärzte aus Kuba nur Aspirin verordnen würden und ihre Medizin westlichen Standards nicht entsprechen würde. Angesichts von mehr als 18.000 Menschen, die ohne die Versorgung der Ärzte von Barrio Adentro gestorben wären, nimmt sich dieser als medizinische Kritik getarnte antikubanische Standpunkt besonders anmaßend aus. Grundsätzlich haben alle kubanischen Ärzte, die in Barrio Adentro arbeiten, ein sechsjähriges klassisches Medizinstudium durchlaufen, dem sich eine dreijährige Facharztausbildung in Familienmedizin (Medicina General Integral) anschloß. Über die Hälfte haben zusätzliche Qualifikationen und Auslandserfahrung. Da ein besonderer Schwerpunkt der Familienmedizin in Gesundheitsvorsorge und -aufklärung liegt, erstreckt sich ihr Arbeitsfeld, neben der kurativen Behandlung von Krankheiten, über vielfältige Tätigkeiten der Prävention und Gesundheitsbildung, besonders für Kinder, Alte, Schwangere und junge Mütter.

Um die kubanischen Ärzte in mittelfristiger Zukunft abzulösen und durch venezolanische Mediziner ersetzen zu können, unternimmt der Staat vermehrte Anstrengungen in der Ausbildung von medizinischem Personal. Man richtete an sechs Universitäten einen neuen sechsjährigen Studiengang in Familienmedizin mit 17000 immatrikulierten Studenten aus Barrios und Landgemeinden im Rahmen des Hochschulprogramms Misión Sucre ein. Darüber hinaus spezialisierten sich etwa 3000 bereits approbierte Ärzte in einer dreißigmonatigen Facharztausbildung zu Familienmedizinern. Beide Ausbildungen haben ihren Mittelpunkt in den Gesundheitsposten der Primärversorgung. Auch die freiwilligen Helfer, die den kubanischen Ärzten seit ihrer Ankunft zur Hand gingen, werden in Bildungsprogramme integriert, um Abitur zu machen und gleichzeitig im Rahmen eines dreijährigen Studienganges mit zertifiziertem Abschluß den theoretischen Hintergrund derjenigen praktischen Tätigkeiten, die sie täglich unter Anleitung eines kubanischen Arztes durchführten, nachzuholen.

Der Stolz der Elenden auf das Stückchen Macht, das sie errungen haben, ist in Venezuela nicht zu übersehen. Ein Politiker sagte einmal, wenn man Demonstrationszüge der Opposition und der Chavistas vergleicht, fällt auf, daß die Oppositionellen mit offenem Gesicht in die Kamera lachen, während viele Chavistas beim Lachen die Hand vor das Gesicht halten – das komme daher, daß die reichen Oppositionellen alle ein gutes Gebiß vorweisen könnten, während die Chavistas sich ihrer schlechten Zähne schämten. Im November dieses Jahres wurde die Misión Sonrisa (»la Sonrisa« heißt »das Lächeln«), das Programm für den kostenlosen Zahnersatz, angekündigt. Es ist nicht schwer vorherzusagen, daß wohl bald das Bild von den Demonstranten, die beim Lachen die Hand vor den Mund halten, weil sie den Zahnersatz nicht bezahlen können, nicht mehr typisch für die Straßen von Caracas, sondern leider eher typisch für Hartz-IV-Empfänger in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, sein wird. Denn auch hier sind limitierte Ressourcen und knappe Kassen letztendlich auf den gewaltsam durchgesetzten Ausschluß vom gesellschaftlichen Reichtum zurückzuführen.
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