Emsdetten und die Reaktionen

Pascal 23.11.2006 01:40 Themen: Bildung Freiräume Kultur Medien Repression Soziale Kämpfe
Die Reaktionen auf den Amoklauf von Emsdetten ließen nicht lange auf sich warten und waren ebenso übereilt wie substanzlos. Warum wird eine Diskussion der breiten Gesellschaftsschichten im Keim erstickt? Ein Kommentar.
Immer wenn ein Mensch sich das Leben nimmt, fängt sein Umfeld an, sich zu erinnern. An die Ereignisse der Vergangenheit, in denen sie eine Erklärung zu finden hoffen. Sie schauen sich um, versetzen sich hinein in den Toten, fragen sich, ob sie ihm hätten helfen können. Wenn ein 18-Jähriger Junge versucht, möglichst viele Menschen umzubringen und sich danach selbst tötet, versucht ein ganzes Land, diese Antworten zu finden, zumindest in einem Land, in dem nicht alles egal ist, was mehr als ein paar Kilometer entfernt geschieht.

Im Fall des Amokläufers von Emsdetten war die Situation für diese Spurensuche wie geschaffen: Im Internetzeitalter hinterlassen die Nutzer Unmengen von Spuren, die von jeder Suchmaschine gefunden werden können. Anhand dieser Spuren konnte man auch ohne in seinem Umfeld zu leben oder ihn persönlich zu gekannt zu haben erahnen, wie es zur Tat gekommen war. Man konnte nachlesen, was für Interessen er hatte, wie er sich zu bestimmten Zeiten seiner letzten Jahre fühlte, sah, dass er schon vor zwei Jahren nach eigenem Bekunden kurz davor war, einen Amoklauf zu begehen. Seine Beiträge in diversen Foren dokumentierten sein Interesse an Spielzeugwaffen und Anleitungen zum Bombenbauen. Zusätzlich zu alledem hinterließ er selbst noch das wertvollste Stück Information: Seinen Abschiedsbrief. Hier wird sein, zugegebenermaßen wirres, Weltbild detailliert erklärt. Es wird deutlich, warum er der Meinung war, die Menschen müssten sterben und er das Recht hätte sein eigenes Urteil zu vollziehen. Was für ein Diskussionspotential! Was für Möglichkeiten für eine Aufarbeitung, die unsere Gesellschaft nach vorn bringt!

Nun war es also an allen anderen, Lehren und Schlüsse aus den letzten Worten des Amokläufers zu ziehen. Lehren darüber, was alles falsch läuft in dieser unserer Gesellschaft, in der wir leben. Schlüsse über das Leben an deutschen Schulen. Wertvolle Einsichten, die die Mächtigen dieses Landes dringend nötig hätten, um sich in angemessener Form um die Zukunft unseres Landes, unsere Kinder, zu kümmern! Menschen, deren Schulzeit schon Jahrzehnte zurückliegt, hätten nun endlich sehen können, dass im deutschen Bildungssystem so einiges falsch läuft. Leider sind sie dabei, diese Möglichkeit zu vertun. Sofort kamen die ersten Schnellschüsse, aus dem Bauch, nicht aus dem Kopf. Die "Killerspiele" sind schuld. Diese "Killerspiele" die mangels Definition gar nicht existieren, müsse man sofort verbieten, um Taten wie die von Emsdetten zu verhindern, tönte es sowohl rechts als auch links von der Mitte. Die lautesten Stimmen der beiden großen Parteien sind die, die in Amokläufen ein Problem des Jugendschutzes sehen. Wohlgemerkt nicht des Schutzes der Jugend vor Amokläufern sondern vor "Killerspielen", "Killerfilmen" und "Killermusik". Killer. Präfix des Grauens und Zeichen dafür, dass der Erhalt der deutschen Sprache nicht mehr so wichtig ist, wenn man ein griffiges Wort sucht, um seine Parteifreunde im Amt zu halten.

Was für eine Vorstellung haben diese Menschen vom Leben eines Kindes und Jugendlichen in Deutschland? Die Kinder bekommen einen Klaps auf den Po und von da an läuft bis zur Volljährigkeit alles wie geschmiert. Außer natürlich, sie fangen an, Death Metal zu hören. So wie HIM. Oder Marilyn Dingsbums. Böse, dunkle Musik. Da ist es dann zu den Killerspielen, in denen man Frauen vergewaltigt und Kinder in den Backofen schiebt nur noch ein kleiner Schritt. Computer Strike oder wie das heißt. Dings. Pornografie und Drogen, PC-Spiele und Musik. Was für ein überschaubares Grüppchen an Übeln, die, einmal ausgemerzt, die Perfekte Gesellschaft hinterlassen werden. Dass dem nicht so ist, dass Verbesserungen ein harter Prozess ist und man auf dem Weg auch einige seiner Standpunkte fallen lassen muss dürfte sogar dem Flügel der CDU klar sein, der schon mit der NPD kuschelt.

Was schlimmer ist als die widerlichen Simplifikationen der Politiker ist die Bereitschaft, mit der die "etablierte" Presse darauf einging. Alle waren auf einmal unglaublich beschäftigt damit, unwichtige Fakten und Schnipsel zusammenzutragen: Langer schwarzer Mantel, welche Bands, welche Filme, welche Spiele, welche Hobbies. Als wenn man daraus ein Profil machen könnte, um den nächsten Amokläufer schon aus dem Verkehr zu ziehen. Zeitgleich mit diesen Reaktionen begannen Behörden, die Spuren des Amokläufers im Internet systematisch zu zerstören. Der Abschiedsbrief, ideal als Grundstein einer neuen Diskussion über die ethischen Grundsätze, die den Kindern (nicht) vermittelt werden, wurde zuerst entfernt. Danach alle Foren, Diskussionen, jedes Anzeichen, dass der Täter uns in der Vergangenheit gegeben hatte. Betreiber von Mirrors und Diskussionsforen wurden bedroht. Man musste den Eindruck gewinnen, dass weder die Presse noch die verantwortlichen Politiker ein Interesse an einer intelligenten Diskussion hatten, die über müßiges Indiziensammeln und Diskussionen über "Killerspiele" hinausgeht. Es ist so, als sei das fatale Scheitern eines Jugendlichen ein Fall für die BPjM, nicht etwa für Psychologen, Pädagogen und Bildungspolitiker. Ist dies die Wirkung eines Systems, in dem sich das gesamte politische System permanent im Wahlkampf befindet und jeder nur für sich und seine Partei, nicht aber die Menschen arbeitet? Eines Systems, in dem die Medien die Meinung unterstützen, die für die Menschen am einfachsten zu ertragen ist?

Sebastian B. war weder von Geburt an ein Psychopath noch ein Märtyrer oder Revolutionär. Die taz kürzte den Abschiedsbrief so, dass er wie ein intelligenter Gesellschaftskritiker anmutet, ohne Paranoia und fehlgeleiteten Rassismus. Die BILD stilisierte ihn zum wahnsinnigen Psychopathen. Nichts von beidem war Sebastian B. Sein Brief zeigt uns, dass er jemand war, der von seiner Umgebung mit Füßen getreten wurde und versuchte, seine Aggressionen zu kanalisieren. Zuerst in stumpfen Militarismus, dann in Rachepläne und schließlich in die Rache selbst, dilettantisch ausgeführt. Zum Glück.

Die zentrale Frage muss sein: Was machte Sebastian B. zum Amokläufer? Liest man seinen Abschiedsbrief kann man sagen, dass es mit Sicherheit nicht PC-Spiele waren. Aber wenn diese, so wunderbar einfache Erklärung entfällt, was war es dann? Ist es möglich, dass an deutschen Schulen systematisch ausgegrenzt, gemobbt, gehänselt und unterdrückt wird? Ist es möglich, dass eine Jugend ohne ethische Prinzipien herangezogen wird, deren einziger Grundsatz es ist, Stärke zu zeigen, in der man Täter sein muss, um nicht Opfer zu sein? Sind deutsche Schulen sozialdarwinistische Brutkästen die nur dazu da sind, Kinder so zu formen, dass sie später gut in eine bestimmte Rolle passen, ohne ihnen grundsätzliche ethische und soziale Regeln und Werte näherzubringen, die abseits der kapitalistischen Arbeitswelt existieren? Ist ein Bildungssystem zu halten, das sich anmaßt, im Alter von zehn Jahren über den Wahrscheinlichen Lebensweg eines Kindes zu entscheiden? Sitzen in den Hauptschulen vielleicht weitaus mehr potentielle Mediziner, Physiker, Künstler und Musiker die ihre Talente nie entdecken werden? Wenn nicht die Erwachsenen den Kindern beibringen, dass es erstrebenswert ist, einen teuren Sweatshop-Pullover von Nike zu tragen statt den selbstgestrickten von Mama, wer dann? Kann es auch Bildung um ihrer selbst Willen geben oder muss an Schulen grundsätzlich Pflichtbewusstsein und Disziplin gelehrt werden statt Charakterstärke und Menschlichkeit? Hatte der Amokläufer am Ende doch Recht, wenn er die Absolute Ausrichtung der Bildung auf die spätere Arbeitswelt kritisierte? Die Antworten auf diese Fragen muss die Gesellschaft suchen, doch so wie es aussieht wird sie sie weder bei BILD noch im Spiegel finden, weder bei RTL2 noch bei ARD und ZDF- Deshalb ist es Zeit, dass ein bisschen vom Geist der Foren und Blogs, von Wikipedia und indymedia in den Alltag mitgenommen wird, dass die breite Masse anfängt, die Dinge zu sehen, ohne dass sie Vorverdaut in der Tagesschau präsentiert werden. Versuchen wir alle, aus dieser Geschichte etwas zu lernen und hinterfragen wir uns, was wir tagtäglich präsentiert bekommen, was die wahren Folgen und was die wahren Ursachen sind.
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Ergänzungen

"Ich knall euch alle ab!"

(muss ausgefüllt werden) 23.11.2006 - 02:54
Nichts ist nach dem Amoklauf von Emsdetten so vorhersehbar wie die "Christiansen"-Sendung vom kommenden Sonntag. Vorschau auf eine gesamtgesellschaftlich hochbrisante Expertendebatte

Vielen dank

für den Artikel 23.11.2006 - 08:55
Regt zum Nachdenken an, was warscheinlich auch der Sinn dieses Artikels ist.
mehr davon

Mirroring-Request

... 23.11.2006 - 08:57
Es ist echt traurig, das Sebastian sein kreatives Potenzial nur so destruktiv benutzt hat. Hier mal das Video, das er zusammen mit seinen Freunden gedreht hat.

Seite bei myvideo.de (Google-Cache)
 http://tinyurl.com/y68c3a

Beschreibung dort:
HalloweenX Special Edition PART 1
----------
Diesen Part haben wir an irgendeinem Nachmittag/Abend ohne Skript gedreht. Ich hab das Material wiedergefunden, geschnitten und etwas Musik unterlegt!

Downloadlink(das sind Flashvideos, die z.B. mit VLC oder mplayer abgespielt werden können.):
 http://llnw09.myvideo.de/movies/42/236656.flv

Sein Gängstervideo gibt es hier:
 http://llnw09.myvideo.de/movies/9d/310296.flv

Die Polizei NRW schüchert immer noch Websitebetreiber ein, siehe z.B.  http://www.keinmensch.de, der Betreiber hatte Links auf Mirrorserver der Startseite von www.stay-different.de online gestellt, die z.B. zur Zeit noch uter  http://blog.dark-born.eu/dbb/download/WAR.htm zu finden ist.

Insbesondere das erste Video ist zur Zeit noch kaum im Netz verbreitet, da man nach _Bastian_ suchen muß und nicht ResistentX.

Definition "Amok"

EncEnc 23.11.2006 - 09:26
"Amok (malaiisch meng-âmok, in blinder Wut angreifen und töten) bedeutet eine psychische Situation, die durch Unzurechnungsfähigkeit und absolute Gewaltbereitschaft gekennzeichnet ist." [Quelle: Wikipedia.de]

Was in Emsdetten stattfand war kein Amoklauf, sondern von langer Hand geplant... warum spechen eigentlich alle Medien von einem "Amoklauf"?

Greets,
EncEnc

was folgt ist Kontrolle?

haarbicht 23.11.2006 - 10:20
(Quelle: Hamburger Abendblatt)
...
Innensenator Nagel will Datenbank für jugendliche Gewalttäter
Nach dem Amoklauf eines 18-Jährigen in Emsdetten hat Hamburgs Innensenator Udo Nagel eine Datenbank für gewalttätige Jugendliche gefordert. Damit könnten zielgerichtet polizeiliche Maßnahmen durchgeführt werden, sagte Nagel der Zeitung Die Welt. In Anbetracht einer stetig steigenden Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen in Deutschland hätte er „Sorge, dass uns das Thema Jugendgewalt entgleitet.“ Der parteilose Politiker war auf der Innenministerkonferenz in der vergangenen Woche zum Leiter einer Arbeitsgruppe gegen Jugendgewalt gewählt worden.
...

Zum Abendblatt

Quellenbär... 23.11.2006 - 15:09
Ähm, zum Abendblattzitat muss mensch sagen:

a) schlecht gewählt, da keine url enthalten ist, wo mensch das nachlesen kann,

b) dann wüsst mensch auch, dass es sich darum eher um Nagels (übrigens: Hamburg lässt jetzt auch Familien nach Afghanistan abschieben!) Reaktion auf "Gewalt auf Hamburgs Straße" handelt, und nicht um eine Reaktion auf den Selbstmord in NRW...

Sorry, es ist zwar scheiße, was nagel vor hat, aber trotzdem sollte mensch auf den Wahrheitsgehalt achten...

super artikel

politpunk 23.11.2006 - 22:14
dies ist keine inhaltliche ergänzung...
ich möchte nur dem autor sagen, dass dies ein großartiger artikel ist...
wegen solcher dinger lese ich indy...
thanx

Definition von "Amoklauf"

... 24.11.2006 - 00:20
Was in Emsdetten stattfand war kein Amoklauf, sondern von langer Hand geplant... warum spechen eigentlich alle Medien von einem "Amoklauf"?

-----------------

Sogar Bastian selbst hat in einem Forumsbeitrag geschrieben daß
er an "Amoklauf" denkt weil er in seinem Leben keinen Sinn mehr sieht.

Die ursprüngliche Bedeutung von Wörtern ändert sich manchmal.
Ihr Linksradikalen bezeichnet doch auch alle möglichen Rechten und
Konservativen als "Faschos" obwohl der historische Faschismus etwas
ganz anderes war. Das hatte mit Italien, Mussolini, Großfaschistischer Rat,
Einparteiensystem usw. zu tun.
Lauter Dinge die so im Detail oft gar nicht zutreffen wenn mal wieder
ein Konservativer als "Fascho" bezeichnet wird.

Die Videoversion des Briefes (Englisch)

Roland Ionas Bialke 24.11.2006 - 01:20

Mehr Text!

Querverweiser 24.11.2006 - 05:24
Schöner Artikel!

Hier ist noch einer zum Thema des Umgangs der Medien und Parteien mit dem Geschehen:
"Wieder Debatte um Computerspiele nach Amoklauf von Emsdetten"
 http://www.reticon.de/reporte/reporte/wieder-debatte-um-computerspiele-nach-amoklauf-von-emsdetten_138--1.html

abschiedsbrief

ist nicht geloscht 25.11.2006 - 16:42
Hier der Text von der inzwischen gelöschten Homepage von Bastian Bosse (www.stay-different.de):

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Zeige die folgenden 7 Kommentare an

Zum Brief vom Typ — rosenkohl

fuck off all — egal

Amoklauf in Emsdetten — Hexenkobel

Ausgrenzung — ...