Armenier 1915: Massaker oder Völkermord?

Malte Olschewski 22.10.2006 13:09 Themen: Antirassismus Repression Weltweit
Der Literaturnobelpreis an den türkischen Dichter Orhan Pamuk und ein Beschluss der französischen Nationalversammlung haben neue Debatten über die Verbrechen an den Armeniern 1915/16 ausgelöst. War das Vorgehen der Osmanen ein Genozid? Oder waren die Deportationen eine kriegsbedingt Massnahme,die ausser Kontrolle geriet? Die offizielle Türkei leugnet den Völkermord seit neunzig Jahren. Die Ursachen für diese Haltung liegen in der Gründungegeschichte der Republik und in der Person Kemal Atatürks verborgen.
Malte Olschewski:
Armenier 1915: Massaker oder Völkermord?
Die Gründe für die türkische Leugnung der Verbrechen

Das von der französischen Nationalversammlung beschlossene Gesetz, das die Leugnung des Völkermordes an Armeniern unter Strafe stellt, dürfte im Senat scheitern. Das EU-Parlament hat in einem Beschluss den Genozid an Armeniern als Tatsache festgestellt. Die EU-Kommission sieht darin kein Hindernis bei Fortsetzung der Beitrittsgespräche. In der Türkei hat das Justizministerium schon vor einiger Zeit beschlossen, Behauptungen des Völkermordes vorerst nicht zu verfolgen. Doch in einer Sondersitzung des Parlamentes wurde ein Boykott französischer Firmen erwogen. Frankreich soll von allen türkischen Grossprojekten ausgeschlossen werden. Man überlegte eine Resolution zu verabschieden, in der französische Repressionen in Algerien als =Völkermord= bezeichnet werden. Ebenso sollen in der Türkei keine französischen Filme mehr gezeigt werden.

Alle Aktionen und Abhandlungen, die sich mit dem armenischen Genozid 1915/16 befassen, rufen eine Serie von Apologien, Entgegnungen und Verleumdungen hervor. Türkische Politiker geben Massaker und vereinzelte Greueltaten zu, bestreiten aber einen Genozid, wie ihn die UNO 1948 in ihrer Resolution 260 als =systematische und geplante Auslöschung....eines Volkes oder einer Volksgruppe= definiert hat. Bei Anerkennung des Genozids befürchtet die Türkei territoriale und finanzielle Forderungen durch die Armenier. Hierbei lässt die Geschlossenheit und das ehrwürdige Alter der türkischen Ablehnungsfront nach ihren Ursachen suchen. Seit über neunzig Jahren leugnet die Türkei die massenhaften Verbrechen an den Armeniern. Der tiefere Grund dafür scheint in der von Kemal Atatürk forcierten Gründungsgeschichte der türkischen Republik zu liegen.

Zum ersten Präsidenten der Republik gewählt, hat Kemal nach den Modernisierungen auch die türkische Geschichte reformiert. Er liess 1931 eine =Historische Gesellschaft= gründen, die eine glorreiche Vergangenheit zu konstruieren hatte. In diesem =Grundriss der türkischen Geschichte= (Türk Tarihinin Ana Hatlari) werden alle Völkerschaften, die je den Raum der neuen Republik besiedelt hatten, zu Vorläufern oder engen Verwandten der Türken. Die Skythen, die Hethiter, die Phryger,die griechischen Ionier und andere: Sie alle sind zu Prototürken geworden. Die Kurden haben die Kemalisten zu =Bergtürken= ernannt. Bei der nahezu religiösen Verehrung für Kemal Atatürk und bei Unverletzlichkeit seiner Prinzipien ist eine Korrektur dieses Geschichtsbildes bis heute unterblieben. Es erhebt sich auch das Mausoleum für den 1938 verstorbenen Atatürk auf einem Hügel, der schon den Phrygern im 12. Jahrhundert v. Ch. als Grabstätte gedient hatte.

Die Armenier widerlegen schon mit ihrer Existenz den kemalistischen Gründermythos. Die Armenier sind Nachfahren der sehr alten Hochkultur von Urartu (assyrisch für: Bergland). Urartu rund um den Berg Ararat war ein Rivale Assyriens und bestand bis ins 5. Jahrhundert v. Ch. Aus der Bevölkerung Urartus entwickelten sich die Armenier. König Tigran, dem Grossen, gelang um 70 v.Ch. die Bildung eines grosses Reiches. Um 313 n. Ch. nahm Armenien unter König Trdat III. als erstes Volk der Geschichte das Christentum als Staatsreligion an. Armenien hatte sich ständig gegen Byzanz, gegen Perser und Arabern und zuletzt gegen die Osmanen zu behaupten. Die Turkstämme Zentrasiens hatten ab 1000 n.Ch. mit einer einer Expansion in Richtung Westen begonnen. Nach Zerfall des seldschukischen Reiches herrschte Sultan Osman Anfang des 14.Jahrhunderts über einen Stamm in Anatolien. Die Osmanen setzten sich gegen andere Rivalen durch. 1453 eroberten sie Konstantinopel. 1529 standen sie vor Wien.

Um 1900 waren im Osmanischen Reich 66 Prozent des Handels und 80 Prozent von Handwerk und Industrie in Händen der Armenier, Griechen und Aramäer. Dem Land fehlte ein türkisches Bürgertum bzw. Mittelschichte. Durch Auslöschung oder Deportation der Christen sind durch das Konfiskationsgesetz vom 10.6.1915 ungeheure Besitztümer in die Hände von Moslems gefallen, die dann auch die kemalistische Nationalbewegung unterstützt und die neue Klasse gebildet haben. Der Aufstieg Kemals zum Vater der Türken (Atatürk) und die Gründung der Republik sind daher indirekt mit der Vernichtung der Armenier und Griechen verbunden. Kemal Atatürk soll den Genozid einmal als =Schandtat der Vergangenheit= bezeichnet haben. Der im türkischen Nationalen Sicherheitsrat angesiedelte =Ausschuss zur Bekämpfung der Völkermord-Anschuldigungen= will das Zitat nicht gelten lassen. Vielmehr habe Kemal bei der Parlamentseröffnung am 23.4.1920 erklärt: =Unsere Feinde haben... die eine Lüge darstellenden, angeblichen Armeniergenozid erfunden.= Allerdings war das Wort =Genozid= 1920 noch unbekannt. Die offizielle Version geht dahin, dass die Deportationen =kriegs-bedingte Massnahmen gegen die Sezessionspolitik der Nichtmuslime= gewesen sei. In Nordostanatolien habe Bürgerkrieg geherrscht, den Russland genutzt hätte. Bei den Deportationen seien etwa 300 000 Menschen ums Leben gekommen. Verantwortliche dafür seien nach dem Krieg vor Gericht gestellt worden. Ausserdem stelle die türkische Republik einen klaren Bruch mit dem Osmanischen Reich dar und könne nicht verantwortlich gemacht werden. So geht die offizielle Version Ankaras. Ihr wird entgegengehalten, dass die Deportationen lange geplant waren und die systematische Vernichtung zum Ziel hatten. In einem historisch gesicherten Telegramm hatte der jungtürkische Ideologe Nazim Bey gefordert: =Es ist erforderlich, das armenische Volk vollständig auszurotten.=

Bis heute agitieren türkische Botschaften und Vertretungen, aber auch in Westeuropa lebende Türken gegen Ausstellungen, Feierlichkeiten und Schulbücher, in denen der Genozid historisch korrekt dargestellt wird. So verlangte man von den USA und von Frankreich Korrekturen in den Schulbüchern. Ankara protestierte gegen die Umwandlung des Potsdamer Lepsius-Hauses in eine Gedenkstätte. Akten des Theologen mussten versteckt werden, weil man einen Angriff türkischer Extremisten befürchtete. Eine geplante Historikerkommission zur Untersuchung des Genozids kam bisher nicht zustande, weil Armenien als Vorbedingung die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Öffnung der Grenzen fordert. So können weiterhin historische Tatsachen von der Ablehnungsfront verschleiert, ver-zerrt oder uminterprätiert werden. Mit der gleichen Hartnäckigkeit bekämpft die Türkei alle Bestrebungen der Kurden, eine Autonomie in der Region Diyabakir oder einen Staat im Nordirak zu erreichen.

Als gesicherte Tatsache darf gelten: England, Frankreich und Russland haben die nicht-türkischen Bevölkerungsgruppen innerhalb des Osmanischen Reiches unterstützt und gefördert. Die Russen setzten hierbei vor allem auf die Armenier, die im kaukasischen Grenzgebiet und in den grossen Städten der Türkei siedelten. Die Hohe Pforte erkannte in den starken Minoritäten die Ursache dies Niedergangs und begann mit Massnahmen zu einer Osmani-sierung. Das führte zu den Massakern von 1894 und 1896 in Sasun und in Urfa. Nach dem Kriegsausbruch 1914 hat das jungtürkische Regime mit den Paschas Enver, Talat und Djemal an der Spitze den schwachen Sultan zu einem Beistandspakt mit dem deutschen Kaiser veranlasst. Die Armenier lebten damals in Russland, in Nordostanatolien, in Enklaven und in den grossen türkischen Städten. An der Kaukasusfront kämpften armenische Freiwillige auf Seiten der russischen Armee gegen die Osmanen. Auch hinter den russisch-türkischen Kampflinien wurden Armenier aktiv. Ausserdem haben die Armenier als Deserteure und Spione wie auch durch Sabotage die türkische Kampfkraft geschwächt. Im Nordosten des Landes würde ein Generalaufstand der Armenier drohen, hiess es damals, obwohl die meisten wehrfähigen Männer mit Kriegsausbruch eingezogen worden waren. Der türkische Autor Erdem Ilter beschreibt in seinem Werk: =Ermeni ve Rus Mezalimi= (Ankara, 1996) das Bündnis Russlands mit den Armeniern.

Das jungtürkische =Zentralkomitee für Einheit und Fortschritt= beschloss unter Generalsekretär Nazim Bey schon im Dezember 1914 ein geheimes Programm zur Behandlung der christlichen Minderheiten im osmanischen Reich. Die Armenier sollten aus Nordostanatolien in den Süden deportiert werden. Dazu war aus Kurden und Strafgefangenen eine Sonder-organisation, die =Teskilat i Mahsusa=, formiert worden. Das Zentralkomitee bestimmte Fristen und Marschrouten. Alles wurde genau vorbereitet und geplant, was die UNO-Definition des Genozids von Bedeutung ist. Am 24.4.1915 begann die Aktion. In Konstantinopel wurden 2 000 Geschäftsleute und Intellektuelle festgenommen, darunter viele Führer der armenischen Daschnaken-Partei. Armenische Soldaten, die in der osmanischen Armee dienten, sind entwaffnet, in Arbeitsbataillone abgeschoben und später exekutiert worden. Die Zivilbevölkerung wurde an mehreren Plätzen konzentriert. Die Soldateska zwang Alte Männer, Frauen und Kinder zu Gewaltmärschen in Richtung Süden. Hierbei ist es zu ungeheuerlichen Verbrechen gekommen. Augenzeugen wollen gesehen haben, wie nackte Armenierinnen gekreuzigt wurden. Andere sollen in Dampfbädern vergast worden sein. Dem Bischof von Diyabakir soll man glühende Hufeisen an die Füsse genagelt haben. Tausende wurden gefesselt in den Euphrat geworfen. Zehntausende Frauen wurden von den am Wegrand lauernden Moslems vergewaltigt oder als Nebenfrauen genommen. Hier gilt wie in anderen Fällen: Der Sachbeweis ist dem Augenzeugenbericht überlegen. Die einzelnen Greuel werden von Augenzeugen beschrieben, wobei es nur wenig Sachbeweise wie etwa die Fotos des deutschen Sanitäters Armin Wegener gibt. Durch Sachbeweise ist gesichert, die Türkei hunderttausende in den Tod hat gehen lassen. Die Türkei führt immer als Entschuldigung jene Verbrechen an, die armenische und russische Truppen an der türkischen Zivilbevölkerung begangen haben. Dies geschah jedoch nicht zu Beginn des Krieges, sondern erst mit dem russischen Vorstoss 1916. Diese Verbrechen sind als Rache für die Todesmärsche anzusehen und haben nicht das Ausmass der vorherigen Deportationen durch die Türken.

Die deutschen und auch die österreichischen Verbündeten waren informiert. Pastor Johannes Lepsius suchte Berlin mit Dokumenten und Augenzeugenberichten zum Eingreifen zu bewegen, da die deutsche Heeresleitung rund 800 Offiziere als Militärhilfe nach Konstantinopel entsandt hatte und die Hohe Pforte beeinflussen konnte. Es gibt Berichte deutscher und österreichischer Diplomaten. Johannes Lepsius hat nach dem Krieg im Auftrag des Aussenministeriums 444 Aktenstücke über den armenischen Genozid veröffentlicht. Diese Akten wurden dahingehend manipuliert, da zuvor all jene Stellen eliminiert worden waren, die auf Mitwissen und Mitschuld Deutschlands hinwiesen. Dass in den Akten gestrichen und gelöscht wurde, bedeutet nicht, dass sie, wie die Türkei behauptet, in ihrer Gänze gefälscht worden sind. Seit kurzem sind die Lepsius-Akten auch vollständig einsehbar. (Wolfgang Gust: =Der Völkermord an den Armeniern 1915/1916= Von Kampen, 2005)

Der jungtürkischer Offizier Mustafa Kemal war nach Streit mit Kriegsminister Enver als Militärattache nach Bulgarien abgeschoben wurde. Während der Deportationen tobte von Ende März bis Ende August 1915 mit ungeheuren Verlusten die Schlacht um Gallipoli. Kemal war auf Druck Berlins zum Kommandanten der Abwehrschlachten gegen britische, französische, austra-lische und neuseeländische Truppen ernannt worden. Er hat mit dem Genozid nichts zu tun, da er noch eine untergeordnete Rolle spielte und die ganzen Monate an der Front gewesen war. Er wurde nach Gallipoli als =Retter= gefeiert und zum Pascha ernannt. Kemal diente als Kommandant an verschiedenen Frontabschnitten. Nach der russischen Oktoberrevolution 1917 konnte sich im Kaukasus eine kleine Republik Armenien bilden, da die Pforte und die Boleschwiken anderweitig beschäftigt waren. Anfangs lief alles gut. Grosswesir Halil Pascha besuchte Erewan. Die armenischen Minister Ahoranian und Chattarian kamen nach Istanbul. Wer an den wachsenden Spannungen schuld war, ist nicht geklärt. 1920 stiess die türkische Armee unter Kazim Karabekim im Kaukasus vor. Der Armenierstaat wurde ausge-löscht. Weitere 150 000 Armenier wurden dabei getötet. Darunter waren Zehntausende, die aus den Deportationen hierher geflüchtet waren. Das Territorium wurde zwischen der Türkei und Russland aufgeteilt. Am 19.11.1920 wurde die armenische Sowjetrepublik proklamiert.

Mit dem Waffenstillstand im Oktober 1918 und der beginnenden Besetzung durch die Alliierten hatte Kemal die Truppen aufgerufen, sich als Guerillas in Anatolien zu sammeln. Er gründete in Sivas ein Nationalkomitee, sodass die Türkei nun zwei Regierungen hatte. Im Vertrag von Sevres am 10.8.1920 sollten die Osmanen riesige Gebiete verlieren. Kemal hat Sevres nicht anerkannt und den Kampf fortgesetzt. Er hat Vorstösse der Briten und Griechen mehrfach zurückgeschlagen. Er hat dann auch die griechische Bevölkerung von der Smyrnaküste in die Ägäis gejagt. In Izmir weist Kemal als Denkmal mit herrischer Geste ins Meer. Der von Ruhm umglänzte General und Chef des Nationalkomitees hat schliesslich den Sultan abgesetzt und die Republik gegründet. 1923 wurde im Vertrag von Lausanne die Türkei in ihren heutigen Grenzen bestätigt.

Den Verantwortlichen für den Kriegseintritt und für die Deportationen war schon 1919 nach britischem Druck vor Sondergerichten des Sultans der Prozess gemacht worden. Den obersten Tätern, Talat und Enver Pascha, gelang mit deutscher Hilfe die Flucht. Talat wurde später in Berlin auf offener Strasse von einem Armenier erschossen. Enver suchte grosstürkische Träume in Zentralasien zu verwirklichen. Andere zum Tod Verurteilte flüchteten zu den Truppen Kemals, um nach Ausrufung der Republik hohe Ämter zu übernehmen. Sükrü Kaya wurde sogar Innenminister. Bald entwickelte sich in der Türkei ein quasireligiöser Kult um den Staatsgründer. Die alewitische Sekte feierte Kemal sogar als =mehdi=, als Erlöser. Atatürk starb 1938 an Leberzirrhose, doch der archaische Personenkult prägt auch heute noch die Türkei.
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