Bericht von Veranstaltung "Kapitalistisches Gesundheitssystem macht krank"

Anne Allex 06.10.2006 02:11 Themen: Soziale Kämpfe
Im Zielona Gora im Friedrichshain diskutierten gestern am Roten Abend der Internationalen KommunistInnen beinahe 70 Interessierte mit Nadja Rakowitz darüber, was sie von der leidigen Debatte in der staatlichen Gesundheitspolitik halten. Diese Gesundheitsreform ist ungesund, da waren sich alle einig.
Profitabler Systemfehler

Wichtiger ist es, dass das Gesundheitswesen einen grundlegenden strukturellen Konstruktionsfehler hat. Es gibt nämlich einen ambulanten und einen stationären Sektor. 1955 feierte es die kassenärztliche Vereinigung die Trennung der niedergelassenen Ärzte und der Krankenhäuser als Sieg. Hierin liegt aber begründet, dass sich jeder Facharzt wie ein Unternehmer verhalten muss, um an Diagnosen und Therapien zu verdienen. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens ist als Kalkül in der Struktur eingebaut, weil Ärzte daran verdienen müssen. So kommt es zu paradoxen Erscheinungen: Einerseits gibt es eine Überversorgung, weil sich von den Niedergelassenen gekaufte medizinische Geräte amortisieren müssen und viele PatientInnen zu einer Tatsache z.B. mehrmals geröntgt werden. ver.di argumentierte vor Jahren, dass in Berlin so viele Computertomografiegeräte existierten wie in ganz Italien. Die Pharmaindustrie bringt Scheininnovationen ohne Ende hervor, die letztendlich die Leute bezahlen.

Andererseits kann sich das Gesundheitssystem auf die präventive Abwendung von Krankheiten gar nicht ausrichten. Denn Medizingeräteindustrie und Pharmaindustrie wirken auf die Heilung unserer Krankheiten hin und verdienen sich damit eine goldene Nase.

Kostenlüge

In den Medien wird seit 30 Jahren behauptet, dass es eine Kostenexplosion im Gesundheitssystem gäbe, meint Nadja Rakowitz. Tatsache aber ist, dass die Kosten seit Jahren 10 % des Bruttoinlandsproduktes ausmachen. Private Haushalte, Arbeitgeber und öffentliche Haushalte finanzieren die gesamten Gesundheitsausgaben. Private Haushalte haben 2004 im Vergleich zu 1995 36 Milliarden mehr aufgebracht, während der Anteil der Arbeitgeber bis 2004 von 40 auf 36 Prozent zurückging und der Anteil der öffentlichen Haushalte von 18 auf 16,9 Prozent sank.

Krach machen die Arbeitgeber, weil nach ihrer Lesart, die sogenannten "Lohnnebenkosten " - also auch die Beiträge zur Krankenkasse gemessen an der Lohnsumme stiegen. Jedoch macht die Krankenversicherung einen Bruchteil an den Lohnkosten aus. Im Verhältnis zu Einnahmen und Ausgaben der privaten Haushalte sind die Krankenkassenbeiträge gestiegen. Zwar sind die Ausgaben relativ gleich blieben, aber die Einnahmen der privaten Haushalte wurden weniger wegen sinkenden Reallöhnen seit Beginn der 90er Jahre.

"Solidarischer" Wettbewerb?

Die Politik versucht nun eine Lösung zu finden, die die Interessen von Industrie, Ärzten und Medizintechnik sowie den PatientInnen gleichermaßen effizient bedient. H. Seehofer hat Mitte der 1990er Jahre den Wettbewerb unter den Krankenkassen eingeführt. Seither verhalten die sich wie Unternehmen entsprechend den Liberalisierungsstrategien der Europäischen Kommission. Allerdings haben ja Krankenkassen vorrangig einen sozialen Auftrag. Dem Wettbewerb entgegenlaufend führte Rot-Grün einen Risikostrukturausgleich ein zugunsten derjenigen Kassen, die z.B. besonders viele Ältere oder sehr kranke Menschen versorgen. Trotzdem schrumpfte seit der so genannten Jahrhundertreform im Gesundheitswesen unter Rot-Grün (Stichworte: Praxisgebühr, Zuzahlungen, Einengung des Leistungskatalogs, keine Brillenzahlung usw.) die Anzahl der Krankenlassen von 1100 auf 250.

Bei der ersten "Gesundheitsfonds-Lösung" der schwarz-roten Koalition sollten die Krankenkassen von ihrer Aufgabe getrennt werden, die Beiträge festzulegen. Das wollte künftig der Staat übernehmen und den Kassen jeweils einen pauschalen Beitrag für jeden Versicherten zuweisen. Kassen mit vielen Armen oder Alten würden dann entweder dem Konkurs entgegengehen oder Zusatzbeiträge erheben müssen. In den Gesundheitsfonds sollten zu 7 % die Arbeitnehmer und zu 6 % die Arbeitgeber einzahlen. Damit wäre die Parität der gesetzlichen Krankenkassen fast vollständig aufgehoben. Der Staat sollte Zuschüsse über Steuermittel leisten. Die Arbeitnehmer, die überwiegend den Staat eh aus der Einkommenssteuer finanzieren, dürften an dieser Stelle doppelt zahlen. Wenn sich aber die Arbeitgeber eh aus der paritätischen Beitragsaufbringung derartig zurückziehen wollen, liegt die Überlegung nahe, ob die Krankenkasse nicht gleich ausschließlich von ArbeitnehmerInnen finanziert werden sollte und sich dann die Arbeiter eigene Krankenhäuser und Ambulatorien leisten und die Ärzte selbst einstellen. Diesen Gedanken hatten damals eigentlich die Hilfskassen der Arbeiter bei der Arbeiterselbsthilfe verfolgt.

Tauziehn um die Belastung der Beitragszahler

Nach der Intervention zur septemberlichen Gesundheitsfondslösung durch Edmund Stoiber wackelte zunächst der Stuhl der Bundeskanzlerin Angela Merkel, denn die Reform sollte auf das nächste Jahr verschoben werden. Der Kampf von SPD und CDU/CSU ging indess eine neue Runde. Die Regierung war um Schadensbegrenzung bemüht. Nun schon am 4.10.2006 abends sollten die Eckpunkte für die Gesundheitsreform beschlossen werden. Die Belastung der privaten Haushalte für die Gesundheitsausgaben soll statt der Krankenkassen künftig der Gesetzgeber festlegen. Damit steht der Extremsanierer von 1998 -2003 namens SPD nun plötzlich als der Gute da, da der Lösungsansatz gleiche niedrige Beiträge suggeriert. Private Krankenkassen sollen alle zu einem Basistarif aufnehmen. Sie müssten dann aktiv konkurrieren. Diskutiert wurde, ob Entzündungen nach Tätowierungen aus den Gesundheitsausgaben gezahlt werden müßten. So etwas wäre gleichbedeutend mit der Einführung eines Schuldprinzips soll in die gesetzliche Krankenversicherung und es könnte zum Türöffner werden, um gesundheitliche Risiken in der Breite aus dem Leistungskatalog der gesundheitlichen Versorgung zu entfernen. Sämtliche Zuzahlungsreglungen für Chroniker sollen fallen, wenn sie ihrer Therapie nicht nachkommen. Dies alles war von vielen Seiten umstritten. Bürgerversicherungskonzepte, die verlangten, dass alle in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen, fanden in den schwarz-roten Verhandlungen keine Erwähnung. Die Kopfpauschale, bei der jeder die gleiche Pauschale zahlt, findet sich im Gesundheitsfonds an anderer Stelle.

Zwei-Klassen-Medizin gibt's jetzt schon

Das die Gesundheitsversorgung ein Phänomen einer Klassengesellschaft ist, dass kann man heute getrost sagen. Das wurde spätestens mit dem Arbeitslosengeld II deutlich.. Bereits davor hatten SozialhilfebezieherInnen einen erheblich erschwerten Zugang zur Gesundheitsversorgung, obwohl sie 2004 gleichberechtigt Mitglied der Krankenkassen werden konnten. Alle waren dann allerdings auch nicht von Zuzahlungen und Praxisgebühren ausgenommen. Mit Arbeitslosengeld II und Sozialgeld sind zwar nunmehr alle LeistungsbezieherInnen krankenversichert. Aber von den schmalen Regelleistungen können sie sich Medikamente und nötige Hilfen, die nicht im Leistungskatalog der Kassen stehen, nicht kaufen. Alle Kosten oberhalb von 2 Prozent des Haushaltseinkommens bei Armen und von mehr als einem Prozent bei Chronikern übernehmen zwar die Kassen. Wie in der Diskussion deutlich wurde, müssen aber die Betroffenen aus eigenen Mittel die Vorschüsse vor einer jährlichen Abrechnung bei der Krankenkasse selbst aufbringen. Die Belastungsgrenzen des Einkommens sind schon vor der Bezuschussung aufgrund niedriger Einkommen total überschritten und die Alg II-BezieherInnen und NiedrigverdienerInnen zaudern bereits bei der Aufbringung der Praxisgebühr von 10 Euro je Quartal - erzählte eine Teilnehmerin der Veranstaltung. Denn die Aufwendungen übersteigen ihre Leistungsfähigkeit. Und auch der Zahnarzt will jedes Quartal 10 Euro Praxisgebühren sehen. Wie MitstreiterInnen aus der Anti-Hartz-Bewegung berichten, lassen viele Einkommensarme ihre Krankheiten nicht mehr diagnostizieren oder behandeln, sondern warten ab, trinken Tee und werden immer kränker. Offensichtlich braucht die BRD nicht soviele Gesunde. Außerdem sollen bereits 2004 zirka 300.000 Menschen in der BRD keine Krankenversicherung haben; in den USA sind es 45 Millionen BürgerInnen, die nur zur Notfallambulanz gehen können. Die Autorin des Berichtes erinnert dies an den Bürgerversicherungsansatz der FDP, die sich eine eingeschränkte gesundheitliche Grundversorgung mit Notfallhilfe plus Kinderimpfung vorstellte. Unter solchen Umständen müssten die Armen früher sterben.

Verwirrung bei Protesten

Nun ist es gar nicht so, dass gegen die Politik nicht protestiert würde. Dennoch ist schwer zu erkennen, wo sich eigentlich linke Gesundheitssystemkritiker überhaupt bei den Protesten einordnen sollen. Wahrscheinlich gar nicht. Der Marburger Bund spaltet die Belegschaften in ihren gleichen Interessen. Ärzte versuchen sich als Berufsstand zu retten mit Mitteln der Lohnarbeiter, die sie schon fast sind. Ihr Protesteinstieg - lange Arbeitszeiten und schlechte Arbeit wegen Übermüdung ließen sie sich mit der Bezahlung der Überstunden abkaufen. An den Arbeitsbedingungen hat sich nichts verändert. Ver.di betont, dass im Tarifvertrag das Höchste erreicht wurde, was möglich und vernünftig ist. Dieser Spruch passt zu jedem Tarifabschluss und drückt das Sachzwangsbewußtsein der Gewerkschafter aus. Gleichsam ging's letztlich bei ver.di nur um Prozente, während die Arbeitsbedingungen (Arbeitszeit, Schichtsystem usw.) nicht Thema waren. Viele Selbsthilfegruppen sind längst Objekte der Pharmaindustrie.

Gesünder leben statt schneller sterben

Sichtbare Proteste verkürzen die Kritik am bundesdeutschen Gesundheitssystem aufs Geld und spielen so der systemeigenen Ideologie in die Hand, das Gesundsein nur dazu diene, die Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Aber es geht um mehr. Nämlich ein lebenswertes Leben und menschliche Arbeitsbedingungen.

Die Teilnehmer meinten in der Diskussion, das zu überlegen sein, ob Erwerbslose nicht diejenigen in Haftung nehmen sollten, die sie entlassen haben. Sämtliche biologische Erscheinungen werden verwertbar gemacht. Die Zappligkeit der Kinder als soziales Problem wird mit ADS in ein gesundheitliches Problem verkehrt - weiß ein anderer. Alle Abweichungen von einer imaginären Norm der Verwertbarkeit der Arbeitskraft werden zu Funktionsstörungen oder Vermittlungshemmnissen. Jede/r wird sein eigenes Risiko, denn der Lohnertrag sinkt, während der Kapitalertrag steigt.

Soziales, geistiges und körperliches Wohlbefinden schreibt die Weltgesundheitsorganisation auf ihre Fahne. Aber dazu ist mehr Lohn allein eben nicht ausreichend und der Kampf der Betroffenen ausschließlich in den Gewerkschaften offensichtlich auch nicht. Um Gesundheit für alle zu realisieren und die Balance zu einer individuell ausgewogenen Gesundheitsprävention und -versorgung zu finden, sind wir alle bei den Protesten gefragt mit Vorstellungen zu einem guten Leben. Und dazu gehören, so meinte ein Teilnehmer, neben einem bedingungslosen Grundeinkommen, einem Mindestlohn und einer grundsätzlichen Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich eben auch eine kostenlose soziale Infrastruktur und erschwingliche öffentliche Dienstleistungen für alle, die hier leben. Dazu muss dann freilich eine ganz andere Gruppe steuerlich belastet werden. Eben nicht die Konsumenten mit der Mehrwertsteuer wie das Götz Werner propagiert, sondern die Kapitaleigner und Konzerne mit höheren Unternehmens- und Gewinnsteuern.

Im Zielona Gora im Friedrichshain diskutierten am 4.10.2006 am Roten Abend der Internationalen KommunistInnen beinahe 70 Interessierte mit Nadja Rakowitz darüber, was sie von der leidigen Debatte in der staatlichen Gesundheitspolitik halten. Diese Gesundheitsreform ist ungesund, da waren sich alle einig. Wir haben den Beitrag schnell nach der Veranstaltung in das Internet unter Indymedia eingesetzt, ohne ihn mit der Referentin abzusprechen. Hier nun steht die abgestimmte Variante, aus der Sätze und falsche Zahlen rausgestrichen sind und die Stellen markiert sind, an denen die TeilnehmerInnen der Diskussion etwas gesagt haben. (www.pariser-kommune.de)
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Ergänzungen

Ich muß dich Leider ergänzen!

Uschi 06.10.2006 - 11:08

Verschweigen durch "Weglassen" ist auch Lüge!

Du schreibst Fast Richtig "Zwei Klassen Medizin" aber das ist nicht ganz Korreckt, in Wirklichkeit gibt es in der Deutschen Bundesrepublik eine Drei Klassen Medizin!

Die Erste Klasse sind die Üblichen, die ihre Kohle für sich arbeiten lassen, die bekommen sogar schon bei Haarspitzen Katharr, von den Gesundheits Assekuranzen und vom Doc Zucker ins Heck geblasen.


Die Zweite Klasse sind die vom Deutschen Kapitalismus "Vermarktungs Fähigen" die bekommen solange Aussicht auf die Aufrechterhaltung ihrer Vermarktungs oder Arbeits Fähigkeit besteht, die bekommen, sofern sie es wagen zum Doc zu gehen, von den Gesundheits Assekuranzen, eine Gerade Noch Ausreichende Versorgung, eine Etwas Umfangreichere sehr Oft nur nach einem Zermürbenden Papier Krieg mit den Gesundheits Assekuranzen.

Und dann gibts da noch die "Dritte Klasse" das sind die Menschen in der Deutschen Bundesrepublik, bei denen das Ende ihrer Vermarktungs oder Arbeits Fähigkeit Absehbar oder Erloschen ist, die haben von den Gesundheits Assekuranzen nicht mehr sehr viel, oder besser gesagt, außer Freundlichen Worten nichts mehr zu erwarten, wenn es in der Deutschen Bundesrepublik wieder eine Euthanasie gäbe, dann würde denen, natürlich wie seit Jahrhunderten Üblich "Unauffällig Deutsch Unterschwellig" mit der Diagnose "Nicht mehr Vermarktungs / Arbeits Fähig" der Euthanasie mit ausgehändigt.

Und viele derer, die der Dritten Klasse zufallen, würden diesen "Finalen Deutschen Service" Angesichts der "Assekuranz Gerechten Deutschen Sozial Gerichtsbarkeit" sowie des "Hartz IV Elends" bestimmt auch ohne zu zögern aus füllen, anstatt mit einem meist "Diletantischen Schmerzhaften Suicid" wie Jährlich über Zehntausend Bürger der Deutschen Bundesrepublik durch Selbsthilfe aus dem Deutschen Leben zu treten.





Vortrag zum Thema:

Derrick 06.10.2006 - 17:37
etwas älter und prinzipieller, aber gut:

Gesundheitswesen & Gesundheitsreform
Wie der Staat den massenhaften Verschleiß
von Arbeitskraft therapiert

 http://doku.argudiss.de/?Kategorie=KuA#22