15 Jahre Hoyerswerda

ra0105 22.09.2006 10:48 Themen: Antifa Antirassismus
Vor 15 Jahren begann eine Welle von Übergriffen auf "Ausländer" im gerade erst wiedervereinigten Deutschland. Auf Hoyerswerda folgten Rostock und schließlich Mölln und Solingen...

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[Vor 15 Jahren]
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[Deutschland den Deutschen]

Bis heute kursieren unterschiedliche Darstellungen was letztendlich der Auslöser für die so genannten Pogrome von Hoyerswerda waren. Fakt ist aber das die Stimmung im Spätsommer 91 sich zusehends zuspitzte. Mehrfach hatten sich bereits Bewohner der Vertragsarbeiterunterkünfte mit Jugendlichen Schlägereien geliefert.

[Gastarbeiter vs. Vertragsarbeiter]

Ähnlich wie die BRD litt auch die DDR in bestimmten Bereichen unter Arbeitskräftemangel, ähnlich wie in der BRD reagierte man mit dem "Import" von Arbeitskräften. Die Dauer des Aufenthaltes war durch Verträge mit den Heimatländern (den so genannten Bruderstaaten) geregelt und auf höchstens 5 Jahre begrenzt. Beide Seiten profitierten dadurch: Die DDR erhielt Arbeitskräfte und die Herkunftsländer bekamen ihre Staatsbürger mit einer Ausbildung zurück (Allerdings wurden auch direkt Fachkräfte angeworben).
Lebensmittelpunkt der Vertragsarbeiter waren die Fabriken, außerhalb nahmen sie am öffentlichen Leben praktisch nicht teil. Sie lebten in speziellen Unterkünften, die oftmals nur als Baracken zu bezeichnen waren. Nicht selten lagen sie fernab der Wohnsilos der DDR-Bürger. So war es nicht ungewöhnlich, dass eine Stadt zwar einen nominal hohen "Ausländeranteil" hatte (etwa Garnisonsstädte mit mehreren tausend Sowjetsoldaten und zusätzlich noch einigen hundert Vertragsarbeitern), dies aber in der Öffentlichkeit gar nicht wahrgenommen werden konnte.

[Kommt die D-Mark nicht zu uns]

Von 70.000 Einwohnern sind heute kaum mehr als 40.000 übrig, Prognosen lassen einen weiteren unaufhaltsamen Rückgang der Bevölkerung erwarten. Entgegen dem landläufigem Politik- und Geschichtsverständnis handelte es sich bei der Wende nicht um eine demokratische Revolution, die DDR ist nicht an ihrer Moral untergegangen sondern an ihrer mangelnden wirtschaftlichen Leistungskraft. Wohl kaum ein Satz bringt dies besser zum Ausdruck als: "Kommt die D-Mark nicht zu uns - kommen wir zu D-Mark". Der ostdeutsche Exodus nur ein fortgesetzter Wirschaftsflüchtlingsstrom. Blanke Ironie also, dass man den "Asylanten" ausgerechnet vorwarf aus vornehmlichen wirtschaftlichen Gründen ins wiedervereinigte Deutschland zu kommen. Nachdem Hoyerswerda dann ausländerfrei war, ging es ja mit dem Wirtschaftswunderin Ostdeutschland bekanntlich erst richtig los.

[Ursachen und Wirkungen]

Der Rauch der abgebrannten Mülltonnen hatte sich noch nicht verzogen, da wurde bereits wild über die Ursachen der "Randale" spekuliert und je nach politischer Stoßrichtung, wurden dann die teils bis heute (vermeintlichen) gültigen Erklärungsmuster geboren.

Die Ostdeutschen sind den Umgang mit Ausländern nicht gewöhnt

Bis heute ist der "Ausländerhass" ohne "Ausländer" ein typisch ostdeutsches Phänomen. Wie bereits erwähnt, gab es zu DDR-Zeiten tatsächlich praktisch keinen Kontakt zwischen der Bevölkerung und den Arbeitsmigranten oder Soldaten des Warschauer Paktes. Die These die Ostdeutschen seien der "plötzlichen" Konfrontation mit Ausländern nicht gewachsen gewesen hinkt aber dennoch gewaltig. In Hoyerswerda wurde zunächst das Vertragsarbeiterheim" angegriffen und an die hatte man sich eigentlich schon seit Jahren gewöhnen können. Erst nachdem es von der Polizei abgeriegelt wurde, kam es zu Angriffen auf das örtliche Asylbewerberheim.

Die Ursachen für das Erstarken des Rechtsextremismus sind in der sozialen Frage zu suchen

1991 stieg die Zahl der Arbeitslosen von 0 auf 1,1 Millionen - keiner der realsozialistisch sozialisierten Menschen hatte überhaupt eine Vorstellung davon, was Arbeitslosigkeit bedeutet. Darüber hinaus schien dies ja nur der Anfang zu sein, beinahe täglich wurden ehemalige volkseigene Betriebe abgewickelt. Nachdem man sich 89 auf dem Leipziger Ring in die Hacken latschte, drängelte man sich nun dicht an dicht vor dem Schalter des Arbeitsamtes.
Allein in Hoyerswerda war die "Rückführung" der Vertragsarbeiter längst beschlossen, ihr dauerhafter Aufenthalt nie geplant. Sie waren also faktisch nicht in der Lage irgendeinem "Deutschen" die Arbeit wegzunehmen. Aber sie verloren ihren Prämienanspruch, da nachdem sie evakuiert wurden "erstaunlicherweise" nicht zur Arbeit erschienen.
Meint man also die soziale Frage würde eine Rolle spielen, im Sinne, dass ein "Sündenbock" gebraucht wurde. so kann man dies getrost verneinen. Die Vertragsarbeiter waren als "Sündenböcke" denkbar ungeeignet. Es war eher ein stumpfer Rassismus der sich noch nicht mal die Mühe machte, nach geeigneten Personengruppen zu suchen, denen man mal wieder alles unterschieben konnte. Anders zu sein oder auszusehen, konnte in diesen Tagen lebensgefährlich sein.

Das sind doch alles Westimporte

Sowohl Lokalpolitiker als auch viele ehemalige DDR-Staatsantifaschisten neigten dazu, die Verantwortlichkeit für entsprechende Ereignisse in ihren Städten den "Wessis" unterzuschieben. Unstrittig ist dabei, dass Nazikader sofort nach der Öffnung der Grenzen in den Osten expandierten und hier versuchten neue Strukturen aufzubauen. Unstreitig auch, dass an den Krawallen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen auch viele aus dem Westen angereiste Neonazis waren. Keine Frage ebenso, dass die viel kritisierte "akzeptierende Jugendarbeit" auch nicht einem 5 Jahresplan entsprungen ist. Aber noch bevor der erste westdeutsche Neonazi den Boden von Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen betreten konnte, hatte sich schon längst der Pöbel zusammengerottet. Westdeutsche Neonazis sind allenfalls auf den Zug aufgesprungen.
Die Weichen indes wurden schon viel früher gestellt. In den Fussballstadien der DDR hatten sich lange vor der Wende faschistische Hooligangruppen gebildet.

Die DDR war schuld

Dies wird bis heute vor allem von konservativen Kräften vertreten. Etwa Jörg Schönbohm der noch 2005 die These vertrat "Zwangsproletarisierung" in der DDR sei für Rechtsextremismus verantwortlich.
Toleranz und Akzeptanz kann in einem totalitären Staat nicht erlernt werden - im Zusammenspiel mit der Totalitarismusthese konnte so zumindest der achso aufgeklärte und demokratisch-bürgerliche Westteil der Republik eine vermeintlich weiße Weste tragen(zumindest bis Mölln und Solingen sollte man meinen).
Andererseits stellt der Zusammenbruch eines gesamten Werte- und Staatsystem die Bevölkerung natürlich vor drastischen Problemen...

Der Zusammenbruch der DDR war schuld

Die DDR war zu großen Teilen stark hierarchisch organisiert. Insbesondere für Personen innerhalb der Adoleszenz war der Verlust von Orientierungspunkten sicher nicht zu unterschätzen. So hatten Eltern in dieser Zeit mit ihrem eigenen Dasein zu kämpfen und der "nette Staatsbürgerkundelehrer" hatte mit Sicherheit einiges an Autorität eingebüßt.
Für viele DDR-Bürger waren die pseudopolitischen Pflichtveranstaltungen aber von je her von untergeordnetem Interesse.Auch die ABV's wurden wohl eher belächelt als ernst genommen. Insofern ist fraglich wie schmerzlich der Verlust der Autoritäten tatsächlich gewesen sein muss.

Der Patriotismus/Nationalismus war schuld

Vor allem in der linken / antifaschistischen Szene waren die Vorbehalte gegenüber einem wiedervereinigten Deutschland von Anfang an sehr ausgeprägt.
Gleichzeitig wurden kritische Stimmen und Vorbehalte mit dem "Argument" der vaterlandslosen Gesellen (etwa gegenüber Grass oder Lafontaine) weggefegt. Der deutsch - deutsch Einheitstaumel wollte sich nicht von Steuererhöhungsdebatten oder prinzipiell antinationalistischen Gedankengut stören lassen.
Gleichzeitig muss aber insbesondere nach der WM 2006 konstatiert werden, dassPatriotismus / Nationalismus eher eine untergeordnete Rolle spielen konnte. Denn wenn dieser einen so großen Einfluss auf die damaligen Ereignisse gehabt hätte, so ist dann zu fragen warum in diesem Sommer sich derartige Ereignisse nicht einmal annähernd wiederholten.Zweitens hatte der staatlich verordnete Patriotismus (wo etwa die tiefe Verwurzelung der NVA-Uniformen in der Deutschen Geschichte gelobt wurde) wohl um einviel größeres Ausmaß als er jemals in der Bundesrepublik gehabt hatte.

Deutsche Polizisten...

Wie so oft musste sich auch die Polizei einiges vorwerfen lassen. Und obwohl in einigen Fällen offene Solidarisierungen mit dem rassistischen Mob belegt sind, sollte an dieser Stelle nicht vergessen werden, dass die Ostpolizei auf "Massenmilitanz" weder vorbereitet noch ausgebildet war.
Über das Wachregiment hinaus, hatte wohl kaum ein Staatsdiener Erfahrungen auf diesem Gebiet und erst Genannte wurden 91 freilich nicht mehr eingesetzt.

Ein kleiner Volksaufstand

Heftig wehrten sich Nazis von Anfang an gegen die Darstellungen der Presse es handelte sich bei den randalierenden Angreifern ausschließlich um (rechte) Skinheads, sie bestehen bis heute auf eine breite Beteiligung der Bevölkerung. Unterschlagen wird dabei aber gerne, dass (wenn auch nur geringe) Teile der Zuschauergruppen versuchten mäßigend auf die Gruppen einzuwirken. Genauso wenig wird beachtet, dass ein paar Hundert bei einer Einwohnerzahl von damals 70.000 wohl kaum der Definition Volksaufstand gerecht wird. Bezeichnend jedoch wenn etwa die Angriffe auf eingeschüchterte Kleinkinder durch ein johlenden und feiernden Mob als Volksaufstand gefeiert werden -Reichskristallnacht lässt grüßen.

Rechter Konsens

Gemeint also die offene oder verdeckte rassistische Grundarchitekur der (deutschen) Gesellschaft - Auslöser für diese vernichtende Analyse der "demokratischen" Nachkriegsgesellschaft. Der Rassismus der Straße wurde staatlicherseits konsequent umgesetzt. Die Legeslative verwarf praktisch das Recht auf Asyl, die Exekutive vollzog derweil Abschiebungen und während so genannte Linksextremisten bei Krawallen etwa am 1. Mai in Berlin, die volle Härte des Gesetz erfahren durften, kamen die Rädelsführer von Rostock und Hoyerswerda oft noch nicht mal vor Gericht.
Stattdessen wurde das Bild des übervollen Bootes entworfen. Auch Lichterketten oder der Aufstand der Antändigen vermochten an dem öffentlich vermittelt Bild des "Problems Ausländer" etwas ändern. (Zur Problematik des Begriffes hier)
Es ist abzuwarten ob die späte Einsicht etwa der CDU, dass Deutschland doch Einwanderungsland ist, etwas daran ändert. Man darf gespannt sein...

[Links]Aufruf zur Antifaschistischen Demonstration am 23. September
Über den Zusammenhang der Landtagswahlergebnisse in Mecklenburg-Vorpommern und des Wirtschaftsflüchtlingsstrom
Videoreportage - im Interview ein Augenzeuge der Ereignisse
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Ergänzungen

AntifaAg Hoyerswerda

mit neuer Seite 08.04.2007 - 18:38
Die AntifaAG Hoyerswerda ist mit einer neuen Seite online:  http://aaghoyerswerda.blogsport.de. Auf der neuen Seite sind auch die Ereignisse von 1991 ausführlich dokummentiert.

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