Bruttolohn und Sozialstaat

Wal Buchenberg 14.09.2006 16:10 Themen: Soziale Kämpfe
Bruttolohn und Sozialstaat - Eine Modellrechnung

Im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war ein Lohnbezieher pro Familie normal. Der Durchschnittslohn musste also für drei, vier oder mehr Menschen reichen. In dieser Zeit wurde der Lohn mehr oder minder brutto = netto ausgezahlt. Diese Gesamtlohnsumme gelangte (fast) ohne Abzüge in die Hände der Lohnarbeiter, die eigenständig dieses Geld unter die Familienmitglieder verteilten. Inzwischen ist an die Stelle des früheren "Familienlohns" ein "Individuallohn" getreten, der durch staatlich-bürokratische Transfers ergänzt wird. Welche Wirkungen das auf die Lohnhöhe/Lohnkosten und auf das Einkommen der Menschen außerhalb des Lohnverhältnisses hatte, wird hier modellhaft skizziert.
Lohnmodell 1) - 18. Jh. u. 1. Hälfte 19.Jh.
Alleinverdiener ohne Bruttolohnaufschlag . Ein Lohn muss für die Familie reichen.
Angenommen es gibt 50 aktive Lohnarbeiter mit 150 Familienmitgliedern.
Der Lohn für die 50 aktiven Lohnarbeiter muss reichen für den Unterhalt von 200 Personen. Es gibt keine staatlichen Transfers.
Eine Gesamt-Lohnsumme von meinetwegen 200 Euro wird brutto = netto an die 50 aktiven Lohnarbeiter ausgezahlt. Der Tageslohn ist 4 Euro.
Die gesamte Lohnsumme gelangt in die Hände der Lohnarbeiterklasse und wird von ihr selber verwaltet. Jedes Mitglieder der (aktiven plus inaktiven) Lohnarbeiterklasse hat durchschnittlich 1 Euro pro Tag.
Die Tages-Lohnkosten der Kapitalisten sind 200 Euro. Sie erhalten dafür 50 Arbeitstage. Ein Arbeitstag kostet die Kapitalisten 4 Euro.

Lohnmodell 2) zweite Hälfte 19. Jh.
Frauen (und anfangs auch Kinder) werden in die Lohnarbeit gezwungen.
Es gibt nun 100 aktive Lohnarbeiter mit 100 Familienmitgliedern. Es gibt keine staatlichen Transfers.
Durch die Mitarbeit von Frauen und Kindern sinkt der Durchschnittslohn. Der Durchschnittslohn beträgt nun 3 Euro. Die Tageslohnsumme steigt von 200 auf 300.
Die Lohnsumme von 300 wird brutto = netto an die 100 aktiven Lohnarbeiter ausgezahlt. Die gesamte Lohnsumme gelangt in die Hände der Lohnarbeiterklasse und wird von ihr selber verwaltet.
Jedes der 200 Mitglieder hat nun 1,5 Euro pro Tag zu leben, 50 Prozent mehr als im Modell 1).
Die Kapitalisten erhalten für eine gestiegene Lohnsumme von 300 Euro 100 Arbeitstage statt wie bisher 50 Arbeitstage. Bei einem eventuellen Abzug für niedrigere Produktivität von Frauen/Kindern bleiben vielleicht noch 90 Arbeitstage der bisherigen Produktivität.
Jeder Arbeitstag kostet die Kapitalisten jetzt 3,33 Euro statt wie bisher 4 Euro.

Lohnmodell 3) zweite Hälfte 20. Jh. bis heute.
Sozialstaat, Trennung von Brutto und Netto.
Wie im Modell 2 gibt es 100 aktive Lohnarbeiter und 100 inaktive Mitglieder.
Im Modell 2 hatte jedes der 200 Mitglieder 1,5 Euro pro Tag zu leben. Nun wird der Lohn der aktiven Lohnarbeiter auf 2 Euro pro Tag erhöht. Diese Lohnsumme von 200 Euro wird als Nettolohn an die aktiven Lohnarbeiter ausgezahlt. Außerdem zahlen die Kapitalisten noch 50 Euro als "Bruttolohn" in den "Sozialstaats-Fonds" der Staatsbürokraten, die dieses Geld an die 100 Mitglieder ohne Lohneinkommen verteilen.
Im Lohnmodell 2) hatten alle Mitglieder 1,5 Euro pro Tag zur Verfügung. Nun ist der Lohn für aktive Lohnarbeiter um ein Drittel auf 2 Euro gestiegen. Der Tagessatz für die inaktiven Mitglieder ist aber von 1,5 Euro auf 0,5 Euro gefallen. Die Gesamtlohnkosten der Kapitalisten ist ebenfalls von 300 auf 250 Euro gefallen. Ein Arbeitstag kostet die Kapitalisten statt 4 Euro im Modell 1) und 3,33 Euro im Modell 2) nur noch 2,5 Euro.
Die staatliche Verwaltung der Einkommen für Mitglieder außerhalb des Lohnverhältnisses kommt die Kapitalisten billiger. So hartleibig und geizig wie die Sozialbürokraten gegenüber akuten Notlagen auftreten, so geizig und hartleibig könnten Lohnarbeiter in der Masse unmöglich gegenüber Mitglieder der eigenen Familie/Verwandtschaft/Bekannten sein.

Das ist die Wirkungsweise des Sozialstaats: Er senkt durch Verknappung der Sozialtransfers und durch Spreizung der Lohn- und Sozialeinkommen die Lohnkosten der Kapitalisten und zwingt immer mehr Menschen in Lohnverhältnisse.

Auf diese Sozialleistungen sollen wir stolz sein?
Für diesen Sozialleistungen sollen wir dankbar sein?

Links:

Die Sozialstaatslüge. Zur Politischen Ökonomie des Sozialstaats:  http://www.marx-forum.de/geschichte/deutschland/sozialstaat.html

Wem dient unser Staat?:  http://www.marx-forum.de/geschichte/deutschland/staatskritik.html

Fallbeispiel Arbeitsamt:  http://www.marx-forum.de/geschichte/deutschland/arbeitsamt.html

Jobmisere: Politische Ökonomie des Jobangebots

Bankrott des Sozialstaats:  http://www.marx-forum.de/geschichte/deutschland/bankrott.html

Rückkehr der Klassengesellschaft:  http://www.marx-forum.de/geschichte/deutschland/klassen.html

Wal Buchenberg für Indymedia, 14.09.2006.
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Ergänzungen

Fehlender Link

Wal 14.09.2006 - 16:41
Jobmisere: Politische Ökonomie des Jobangebots:  http://www.marx-forum.de/geschichte/deutschland/jobmisere.html

Sorry!

zeitraum?

pazi 15.09.2006 - 03:20
Ich dachte, der Sozialstaat hätte seine Anfänge unter Bismarck gehabt, der bekanntlich Ende des 19.Jahrhunderts lebte...Liege ich da falsch oder tut das nichts zur Sache?

Sozialstaat

Roland Ionas Bialke 15.09.2006 - 04:49
Die Vermutung geht leider an der Realität vorbei, dass (alle) arbeitenden Familienteile barmherziger zu Ihren nichtarbeitenden Familienangehörigen wären als der fiese Sozialstaat. Würde das volle Gehalt, also Netto gleich Brutto, an die arbeitenden Familienteile ausgezahlt so würde ganz plötzlich die (Kinder-)Armut und Kriminalität steigen. Zudem würde eine riesige Verelendung einsetzen, auch weil ein hoher Prozentteil der Bevölkerung dann keine freiwillige (Kranken-)Versicherung bezahlen würde.



völlig falsches Modell

me 15.09.2006 - 14:51
Nicht, dass ich eine Lanze für den Sozialstaat brechen wollen würde, aber das Modell ist schlichtweg Unsinn.

Es ist

1. patriarchal, weil der vermeintlich höhere Lohn des ersten Modells nur als solcher bezeichnet werden kann, wenn die Reproduktionsarbeit (der Frauen) nicht zu dem, was die KapitalistInnen aneignen, hinzugezählt wird. Der Wert der Ware Arbeitskraft besteht in den Kosten, die für ihre Reproduktion anfällt. Wenn in einer Kleinfamilie mehr Leute arbeiten, heisst dies zunächst einmal nur, dass die zur Reproduktion erforderlichen Dinge extern gekauft werden müssen (Waschmaschinen, Fertiggerichte, ...), also selbst zum Gegenstand der Kapitalverwertung werden. Damit verändert sich am Verhältnis von Arbeit und Kapital aber mehr als nur die Lohnhöhe.

2. dem Geldfetisch erlegen, weil das "der Sozialstaat kommt die KapitalistInnen billiger"-Argument auf der Annahme basiert, es entstehe mehr Profit, wenn sie Arbeit, gemessen in absoluten Zahlen, billig kaufen. Profit entsteht aber in der Verwertung von Arbeitskraft. Wie hoch der Lohn real ist, misst sich in Relation (!) zum eigenen, den ArbeiterInnen aber fremden Produkt. Es ist nicht nur die Inflation, die es verbietet, feste Summen historisch zu vergleichen.

3. arbeitsfetischistisch. Produktivität ist keine Eigenschaft der ArbeiterInnen, die der Kapitalist kauft und die bei Frauen und Kindern "eventuell" niedriger ist. Sie ist vielmehr gegeben durch den Stand der gesellschaftlichen Produktivkraft und in dem Maße, in dem sie dingliche Eigenschaft von irgendetwas ist, die der Produktionsmittel, die der Kapitalist besitzt. Eventuelle Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der Einzelnen sind marginal.

4. zirkulär. Das die Zahlen, mit denen die Modelle hantieren, fiktiv sind, täte nichts zur Sache, ginge es wie in den Berechnungen von Marx um die Wesensbestimmung eines Gesetzes, welches in der Relation von Wertgrößen erscheint. Das ist hier aber nicht der Fall, denn am Ende des „Beweises“ durch den Vergleich der Modelle ist die Größe der fiktiven Zahlen das einzige Argument, weshalb schon begründet werden muss, wie und warum etwa der Durchschnittslohn in Modell 2 auf einmal 3 Euro beträgt und nicht 4, 20 oder 105.

Fazit: Für ein Marx-Forum wie vieles dort ausserordentlich peinlich.

Mikro vs. Makro

ra0105 15.09.2006 - 15:12
Bei dem Modell von Wal findet man den typischen "Denkfehler" makroökonomischer Sichtweisen. Seine Annahmen sind durchaus plausibel - ich möchte garnicht abstreiten, dass ein großer Teil der Zuflüsse des Sozialtransfer vom Lohnarbeiter selber durch Steuern gegenfinanziert werden.
Aber:

(I) Im Modell sind alle Lohnarbeiter gleich - in der Wirklichkeit gibt es jedoch eine erhebliche Lohndifferenzierung, d.h. selbst angenommen der Sozialtransfer würde komplett durch die Lohnarbeiter finanziert, aufgrund der Unterschiedlichkeit der Beitragshöhe kommt es zu einem sozialen Ausgleich (d.h. die "Armen" kriegen mehr sie bezahlen, während bei den reichen Lohnarbeiter eher umgekehrt ist).

(II) Betrachtet wird hier nur der monetäre Sozialtransfer, Steuern und Abgaben werden aber auch für Sozialleistungen genutzt die nicht so einfach zu erfassen sind, etwa Krankenversorgung, Infrastruktur, Bildung, Sicherheit (wir bezahlen die Bullen die uns verkloppen ja schließlich auch selber;) ) etc. pp..

Das eigentliche Problem des deutschen Sozialstaates ist, dass er einseitig den Faktor Arbeit besteuert. Die Einkommensquellen des Staates für etwa Kranken/Renten/Arbeitslosenversicherung liegen beinahe ausschließlich bei der Lohnarbeit. Kapital und Boden werden vergleichsweise gering besteuert, ihren Beitrag zum Sozialsystem leisten sie eigentlich nur über Umwege der Bundeszuschüsse.
(Mal ein extremes Beispiel: Eine Fabrik wurde ausschließlich aus Roboter bestehen, so würden hier keine Beiträge zur Sozialversicherung abgeführt)
Dies ist historisch bedingt, da zur Zeiten Bismarks die Nationalökonomie davon ausging, dass nur Arbeit produktiv ist (etwa Smith, Keynes, oder auch Marx vertraten diese Arbeitswertlehre).
Dies ist aber überholt und erklärt zum Teil, warum das hiesige Sozialsystem solche Finanzierungsengpässe hat.
Die Lösung des Problems kann natürlich nicht in der Abschaffung der Sozialsysteme liegen, sondern in einer Umgestaltung die die Kapitalistenklasse in größerem Maße an der Sozialstaatlichkeit beteiligt.
Das verbirgt sich auch genau hinter der Forderung der Linkspartei.PDS die sogenannten Lohnnebenkosten komplett abzuschaffen und stattdessen den Sozialstaat komplett via Steuern zu finanzieren.

@ra0105

me again 15.09.2006 - 23:47
Das wird ja immer bunter hier. Selbstverständlich gibt es keinen Weg, „den Sozialstaat“ über andere Einnahmequellen zu „finanzieren“, denn die Arbeitswertlehre ist alles andere als überholt. Eine Fabrik, in der ausschließlich Roboter stehen, lieferte, sobald sich dieser Stand der Produktivität vermittelt durch die Konkurrenz allgemein durchgesetzt hätte, keinerlei Profit, da gäbe es nix zu holen. Real kann sie allerdings nie entstehen, denn eine Fabrik nur aus Robotern müßte sich schon selbst bauen, damit in ihrem Wert kein variables Kapital (=Arbeit) enthalten ist. Gäbe es eine solche Maschine, die Maschinen baut, müsste die aber wiederum gebaut worden sein usw. Das, was dir da vorschwebt, ist entweder undenkbar oder Natur. Du kannst ja gerne mal Steuern von Apfelbäumen verlangen, aber ich fürchte, das wird ein sehr fruchtloses Unterfangen werden.

Die KapitalistInnen verfügen über kein anderes Geld als jenes, welches sie durch die Verwertung von Wert gewinnen, und das wiederum geht nur über den Umweg, Arbeit zu verwerten. Das der Sozialstaat notwendig auf der Ausbeutung von Arbeit basiert, damit hat Wal Buchenberg schon recht gehabt.

Überarbeitete Fassung meines Textes

Wal Buchenberg 18.09.2006 - 11:52
steht hier: http://www.marx-forum.de/arbeitswelt/trends/trends_l/brutto.html

Gruß Wal

P.S. Es ist hier das dumme Missverständnis aufgetreten, als würde ich eines dieser drei "Modelle" favorisieren.
Wer es nicht verstanden hat oder nicht verstehen wollte: Alle drei Lohn-Modelle sind nur verschiedene Abhängigkeitsformen der Lohnarbeiter von den Kapitalisten. Diese Abhängigkeitsformen sind nacheinander historisch entstanden. Ich gebe quasi nur das "Röntgenbild" dieser Entwicklung.

Manche meinen in dieser Entwicklung eine "Verbesserung" entdecken zu können. Ich schließe mich diesem Urteil nicht an.