Steinhagen: "Arme aller Länder - vereinigt Euch!"

Anne Allex 14.08.2006 01:38 Themen: Soziale Kämpfe
Unter dem Leitmotiv "Erwerbslose in Bewegung" berieten sich auf Einladung der Gruppe "Internationale KommunstInnen" am 10. August 2006 verschiedene
Erwerbsloseninitiativen mit 19 TeilnehmerInnen von Camp Insky bei Steinhagen/ Hagebök bei Wismar.
Trotz völlig verschiedener Inhalte ihres politischen Engagements suchten sie gemeinsam nach Möglichkeiten des Zusammengehens gegen
den G8-Gipfel in Mecklenburg-Vorpommern im Juni 2007. Denn das Thema des
kommenden Gipfels soll die Bekämpfung der Armut weltweit sein. "Wir wollen mit unseren Aktivitäten daraufhinweisen, dass Frau Merkel erst mal vor ihrer eigenen Haustür kehren soll" - sagte ein Teilnehmer. Einmütigkeit gab es darin, dass man sich nicht entzweien lasse, wenn reaktionäre Stimmen immer wieder tönten, dass in anderen Ländern Menschen noch viel ärmer seinen als hier.

Einen möglichen Rahmen des Zusammenwirkens bieten die Planungen der
Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung (Euromärsche) . Neben Protestdemonstrationen um den G 8-Gipfel ist auch ein noch nicht lokal festgelegter Gegengipfel im Gespräch, auf dem die Armut in der Bundesrepublik Deutschland ebenso thematisiert wird wie auch die Auflagen der wirtschaftsmächtigsten Länder der Welt bei Maßnahmen zur Armutsbekämpfung gegenüber hochverschuldeten Ländern in der sogenannten dritten Welt.

Die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung (Euromärsche) arbeiten am Runden Tisch der Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisationen mit wie ebenso der Arbeitslosenverband Deutschland e.V. Diese bundesweite Erwerbslosenkoordination hatte sich jüngst mit seinem
Aufruf "Für alle individuelle soziale Rechte zum selbstbestimmten Leben"
gegen das Fortentwicklungsgesetz zu Worte gemeldet und ein Ende der
Bescheidenheit angemahnt. Der Runde Tisch der Erwerbslosen- und
Sozialhilfeorganisationen hatte mit Teilen der Interventionistischen Linken bereits in der Aktion Agenturschluss bei Protesten 2004/ 2005 und beim Schwarzbuch Hartz IV zusammengewirkt. Doch zum ersten Mal kam es nun zu Verabredungen zwischen von vier bundesweiten Koordinationen, denn bei den nächsten Aktivitäten würden auch das Dissent Netzwerk und das Anti-G8 Bündnis für eine revolutionäre Perspektive mit von der Partie sein.
Darüberhinaus haben die Euromärsche auch erste Kontakte zu anderen
europäischen Protestbündnissen geknüpft.
In Vorbereitung auf den G8 Gipfel sind dezentrale Aktionen gegen
Verfolgungsbetreuung, Wohnungsraub, Prüfdienste angedacht. Weitere
Verabredungen sollen bei einer Aktionskonferenz vom 10.-12. November 2006
getroffen werden.

Was Erwerbslose in Mecklenburg-Vorpommern bewegen
Die Palette der Erwerbslosenaktivitäten reicht bei den anwesenden Initiativen von der Arbeit eines Erwerbslosenparlamentes mit dem Arbeitsminister der Linkspartei.PDS in Mecklenburg-Vorpommern, über aktive Beratungsmaßnahmen und die Arbeitsbeschaffungspolitik des Arbeitslosenverbandes Mecklenburg-Vorpommern bis hin zum Betrieb eines Notruftelefons und zur Protestpolitik der Kampagne gegen Zwangsumzüge in Berlin gegen die relative Tatenlosigkeit der Sozialsenatorin Knake-Werner von der Linkspartei.PDS.

Gerd-Erich Neumann vom Erwerbslosenparlament in Mecklenburg-Vorpommern
berichtet, dass 1991 die wettbewerbsfähigen Betriebe in
Mecklenburg-Vorpommern liquidiert wurden, in der Folge dann viele andere
Unternehmen Konkurs gingen bzw. privatisiert wurden. Bis 1993 führte dies zu 152.000 Arbeitslosen bei einer Entlastung durch die BA von 173.000 Menschen.
Der Widerstand gegen die Abwicklung war damals außer bei den Werften gering. Dass konstruktive Zusammenarbeit von Westlern und Ostlern bzw. hartnäckiger Widerstand von Belegschaften und Stadt auch zum Erhalt von Unternehmen beitragen kann, beweisen der Transformationsprozesses des KKW Lubmin und die Volkswerft Stralsund. Mit dem Abbau der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen bis 1997 stieg die Arbeitslosenrate dauerhaft auf 20 Prozent. Durch eine Arbeitsplatzförderung in innovativen Branchen und zukunftsfähigen Branchen erholen sich das verarbeitende Gewerbe, die Tourismuswirtschaft und das
Dienstleistungsgewerbe langsam, so dass 2005/ 2006 die Anzahl der
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse langsam ansteigt.
Im Juli 2006 gibt es in Mecklenburg-Vorpommern nun wieder 500.000
sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bei 160.000 Arbeitslosen und
157.000 Arbeitslosengeld II-EmpfängerInnen.

Gleich nach dem BeiTritt haben sich Engagierte wegen der plötzlichen
Massenarbeitslosigkeit auf die Suche gemacht nach einer Organisationsform, dass den Anspruch verwirklichen konnte, die Arbeitslosigkeit offensiv zu bekämpfen. Da wir die vorfindbaren Modelle für unsere Situation nicht hilfreich fanden, entstand am 31.03.1990 der Arbeitslosenverband in Mecklenburg-Vorpommern (ALV MV), berichtet ihr jetziger Vorsitzender Christian Köpke. 1992 entstand in diesem Bundesland auch noch die gewerkschaftliche Arbeitsloseninitiative "Dau wat!". 1998 entstanden in vielen Orten in Mecklenburg-Vorpommern Sozialbündnisse, die seither an 10 Aktionstagen mehr als 12.000 Menschen auf die Strasse brachten. Dabei entstand der Wunsch, diese Einheit auf der Straße auch in anderer Form nutzbar zu machen.

Als der ALV MV hat mit "Dau wat" am 30. Oktober 1998 - dem Weltspartag "Tag der Erwerbslosen" - zu einem Erwerbslosenparlament einluden, kamen 250 Interessierte aus 40 Verbänden und Vereinen. Sie bekundeten gegenüber die SPD-PDS-Koalition ihren Willen zu einer anderen Arbeitsmarktpolitik unter Einbeziehung der Erwerbslosenorganisiationen. Letztere messen die rot-rote Koalition an ihren Wahlversprechen, am Umfang der Schaffung existenzsichernder, tariflich und sozial abgesicherter Arbeitsplätze. Auf dem ersten Erwerbslosenparlament setzten sich die TeilnehmerInnen zum Ziel, alle Erwerbslosen- und Beschäftigungsinitiativen zu einem Dialog mit der Politik
zusammenzubringen und die Interessen der Erwerbslosen zu bündeln. Jährlich am "Tag der Erwerbslosen" beauftragt das Erwerbslosenparlament einen gewählten Beirat von 25 Mitgliedern mit der Umsetzung seiner Zielstellungen. In konzeptioneller Arbeit wurden Gedanken zu einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor (ÖBS) verabschiedet. Im Dokument "Was die Erwerbslosen Wollen" von 2002 sind erste Positionen zur Gründung von Genossenschaften, insbesondere Sozialgenossenschaften zu finden. Zur Durchsetzung ihrer Ziele vertreten die Erwerbslosen ihre Positionen öffentlich vor der Staatskanzlei, vor Rathäusern, Arbeitsämtern und anderen Institutionen und arbeiten auch mit
den Gewerkschaften zusammen. Dies alles ist auch einem Papier der Mitglieder des Sprecherrates des Erwerbslosenparlamentes, zu erreichen unter  ALVMV@freenet.de, zu entnehmen.

Die Vorstellungen des Erwerbslosenparlamentes zu einem ÖBS, einer
Regionalisierung der Beschäftigungspolitik entsprechend den konkreten
Bedingungen vor Ort und einer Beteiligung der Betroffenenorganisationen an der Ausarbeitung und Umsetzung der Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik im Bundesland wurden in guter Zusammenarbeit mit dem Arbeitsminister umgesetzt. Der Erwerbslosenbeirat wurde an der Erarbeitung der Arbeits- und Strukturentwicklungsprogramme vom Entwurf bis zur Abstimmung der Richtlinien in der Regierung beteiligt. In Beiräten zur Umsetzung und in Planungsregionen haben die ErwerbslosenvertreterInnen Sitz und Stimme und nehmen sogar einen aktiven Einfluss auf die Verwendung der mit der Regionalisierung übergebenen Budgetmittel und die Projekte, die gefördert werden.
Besonders wichtig ist es, dass die MitarbeiterInnen der Arbeitsmarktprojekte auch vernünftiges Entgelt erhalten. Deshalb hat der Arbeitslosenverband Mecklenburg-Vorpommern e.V. Haustarifverträge abgeschlossen. Und natürlich bietet der ALV MV ebenso und hauptsächlich den von Erwerbslosigkeit Betroffenen eine reichaltige Beratung in Fragen der Sozialgesetzbücher II (Hartz IV) und III (Arbeitsförderung) an.

Wie Erwerbslose die Politik in Berlin und anderswo in Aktion bringen

Anne Allex stellte die Kampagne gegen Zwangsumzüge als bundesweiten
Zusammenhang vor. Der hatte sich erforderlich gemacht wegen der Erscheinung, dass die SGB II-Träger bundesweit sichtbar seit Sommer 2005 begannen, Tausende Arbeitslosengeld II-EmpfängerInnen zur Senkung der Kosten der Unterkunft und Heizung aufzufordern. Deshalb gab es erste lokale Zusammenschlüsse und Protestbündnisse aus Betroffenen, Erwerbsloseninis und MieterInneninis und -verbänden seit September 2005 in Oberhausen, Bochum, Leipzig, Freiburg und Bremen. Auch in weiteren Städten hatten sich ähnliche Proteste entwickelt. Sie mündeten erst im März 2006 in einer gemeinsamen Protestform, weil in Berlin erst ab Jahresbeginn 2006 zur Wohnkostensenkung
bei Hartz IV-Betroffenen aufgefordert wurde.
Die Kampagne gegen Zwangsumzüge www.gegen-zwangsumzuge.de versteht sich als bundesweit lockere Verbindung, die die rechtswidrigen Vertreibungen von Erwerbslosen aus ihrer Wohnung thematisieren und skandalisieren will. Sie hat daher mit Sympathie und Solidarität auch die Besetzung des BARMER-Viertels in Köln-Deutz durch Betroffene und autonome Gruppen popularisiert; sie unterstützt die Proteste gegen die Prüfdienste der Jobcenter, die sich als Beziehungs-TÜV zu Lasten der Betroffenen aufspielen.

Generell haben es die Sozialprotestgruppierungen damit zu tun, dass es die kommunalen Mietobergrenzen zu gering sind, zu wenig Wohnungen in billigen Mietsegmenten zur Verfügung stehen, die Jobcenter ihren Informations-, Auskunfts- und Beratungspflichten nicht nachkommen oder rechtswidrige Aufforderungen zur Kostensenkung an Härtefälle bzw. Kranke, Behinderte, Alleinerziehenden mit 2 und mehr Kindern bzw. über Sechzigjährige mit Mietverträgen mit langer Dauer - also Personen, denen die Kostensenkung unzumutbar ist - zusenden. Während Ende 2005 aus 32 Städten zirka 50.000 Menschen aufgefordert waren, kann bundesweit getrost mit der zehnfachen Anzahl gerechnet werden. Allein in Berlin sind zum Ende Juni 2006 bereits 5.400 Bedarfsgemeinschaften zur Kostensenkung bei den Unterkunfts- und Heizkosten aufgefordert. Umgekehrt gewähren die SGB II-Träger bundesweit überwiegend kaum Wohnungsbeschaffungs- und Umzugskosten - überwiegend sowieso nicht bei "notwendigen" Umzügen wegen Scheidung, Trennung, zu kleiner Wohnung, krankmachenden Wohnbedingungen usw. Außerdem versagen sie massenhaft bedürftigen Jugendlichen vor dem 25. Geburtstag den Erstauszug aus der Wohnung ihrer bedürftigen Eltern. Eine Transparenz über die Anzahl der Aufforderungen zur Senkung der Kosten der Unterkunft und über die Anzahl der Zwangsumzüge von Seiten der SGB II-Träger gibt es in den meisten Städten und Optionskommunen der Bundesrepublik derzeit nicht. Die Kampagne gegen Zwangsumzüge fordert deshalb die Bundespolitik auf, Gesetze zu schaffen, die Zwangsumzüge für Hilfebedürftige ausschließen, die Freizügigkeit für
Bedürftige und Jugendliche unter dem 25. Lebensjahr gewährleisten und die
komplette Kostenübernahme bei notwendigen Umzügen garantieren. Die Wohnkosten soll der Bund zur Sicherung gleicher Lebensverhältnisse übernehmen.
Die Kommunen werden im Rahmen des SGB II aufgefordert, eine Erhöhung der Mietobergrenzen vorzunehmen, notwendige Umzüge zuzulassen, voll die
Wohnungsbeschaffungs- und Umzugskosten bei notwendigen und veranlassten
Umzügen zu erstatten, ihren Pflichten zur Information, Auskunft und Beratung nach den §§ 13,14,15 SGB I nachzukommen und die Transparenz zu Aufforderungen zur Senkung der Unterkunfts- und Heizkosten sowie der verschiedenen Zwangs-Umzüge monatlich den SGB II-Trägern abzufordern.
Eva Willig berichtete im Anschluss an konkrete Auswüchse der Arbeit der Jobcenter in Berlin. Deutlich wurde, dass nicht nur oft Alleinerziehende mit zwei und mehr Kindern aufgefordert und schikaniert werden, sondern auch von den Grundsicherungsämtern von Frauen und Männern mit mehr als 72 Jahren die Kostensenkung der Unterkunfts- und Heizkosten verlangt wird. Ebenso wird es in Berlin zunehmend zum Problem, dass die Jobcenter offensichtlich keineswegs so kulant wie die ehemaligen Sozialämter Mietschuldendarlehn gewähren.
Hinzukommt die Verschärfung der Bedingungen beim Berliner Umzug, wo bislang nach nicht gezahlten 2 Monatsmieten der Vermieter fristlos kündigen konnte, die Räumung kostenpflichtig zu Lasten des Vermieters ging, aber das Hab und Gut der Leute zumindest staatlich untergebracht wurde. Nunmehr wurden in Berlin Vermietern Entlastungen bei den Kosten für Wohnungsräumungen eingeräumt und weitere, für die Betroffenen belastende Maßnahmen eingeführt.
Aus diesem Grunde hat sich die Kampagne gegen Zwangsumzüge zumindest in
Berlin vorgenommen, wenn nötig - auch Räumungen durch personelle Präsenz zu verhindern. Die Berliner Erwerbslosen haben bei ihren Aktivitäten keineswegs die Rückendeckung der Linkspartei.PDS, sondern bestenfalls reagieren ParteivertreterInnen auf ihre Äußerungen. Nicht zur Unterstützung der Erwerbslosengruppen, sondern zur Schwächung selbiger soll schon mal im Großbezirk Berlin-Neukölln im März/April diesen Jahres die Linkspartei.PDS dafür gesorgt haben, dass die seit acht Jahren bestehende unabhängige Erwerbsloseninitiative Neukölln (ERWIN) als Arbeitskreis der Linkspartei.PDS in Neukölln eingemeindet wurde.


Weshalb Kämpfe anders und Ziele nur ähnlich sind

Gleichwohl war im Workshop deutlich geworden, dass sich die Bedingungen, die Strukturen, die Arbeitsformen und sogar die Ziele der Erwerbsloseninitiativen lokal deutlich unterscheiden. Denn Erwerbsloseninitiativen sind eben nicht per sé linke Zusammenhänge, sondern bilden sich aus Engagierten mit verschiedenen Affinitäten zur Politik von Parteien bzw. parteiähnlichen Gebilden und unterschiedlichen Ideologien.
So legen der ALV MV und die Euromärsche stärker den Schwerpunkt auf
arbeitszentrierte Vorstellungen und Beschäftigungsinitiativen ebenso wie
gewerkschaftlich orientierte Arbeitsloseninitiativen. Nicht im Gegensatz dazu verfolgen die Erwerbslosen in Berlin stärker einen beratungs- und
informationsorientierten Ansatz, der durch Proteste in die Öffentlichkeit
getragen werden. Während in Mecklenburg-Vorpommern eine breite Organisation der Erwerbslosen selbstverständlich erscheint, handelt es sich bei der Berliner Kampagne gegen Zwangsumzüge um einen Zusammenschluss von Menschen, die überwiegend aus verschiedenen politischen Gruppen und Parteien in der Stadt und wenigen ErwerbslosenaktivistInnen besteht.
Handeln die Erwerbslosen als eigenständiges Parlament in ihrem Bundesland
zusammen mit der Linkspartei.PDS so unvorstellbar erscheint in Berlin eine derartige Zusammenarbeit mit der SPD und der Linkspartei.PDS im Senat und im Abgeordnetenhaus zu Berlin.
Die Differenzen der jeweiligen Arbeitsschwerpunkte spiegeln sich auch graduell in den Forderungen der Gruppierungen wider. Beide meinen, dass die jetzige Regelleistung beim Arbeitslosengeld II sofort auf mindestens 500 Euro angehoben werden muss, der BerlinerInnen setzen hinzu, dass sich die Regelleistung in schnellen Schritten verdoppeln muss. Dennoch nehmen die Gruppen zur politischen Forderung des bedingungslosen Grundeinkommens für alle einen unterschiedlichen Standpunkt ein. Während sich die zwei
KollegInnen aus Berlin ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle von 850 Euro plus volle Wohnkosten und Krankenversicherung vorstellen können wie es auch der Runde Tisch der Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen öffentlich vertritt, sieht der ALV MV darin eher eine antikapitalistische Forderung, die wegen der "Bedingungslosigkeit" erst in einer Gesellschaft auf der Grundlage anderer Eigentums- und Produktionsverhältnisse verwirklicht werden kann. Der ALV MV stellt sich deshalb ebenso wie die Euromärsche auf den Standpunkt des Frankfurter Appells vom 18. Januar 2004. Dort hatten sich mehr als 500 AktivistInnen aus gewerkschaftskritischen und sozialpolitischen Gruppen sowie
linken Parteien nach heftigem Streit unter anderem auf die Forderung nach
einem ausreichenden, garantierten Mindesteinkommen ohne Bedürftigkeitsprüfung einigen können. [Solches Mindesteinkommen ist freilich nur für
Erwerbsunfähige und Erwerbslose gedacht.] Sibyllinisch formuliert deshalb
auch Gerd-Erich Neumann vom Erwerbslosenbeirat in Mecklenburg-Vorpommern: "Von Arbeit muss man leben können - ohne Arbeit auch." Denn bei der Forderung von 10 Euro Brutto Lohn als gesetzlichen Mindestlohn und einer Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich waren sich immerhin in Frankfurt alle einig. Aber das alte Bibelzitat "Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen", geistert eben auch in vielen Köpfen sich als "Links" betrachtender AktivistInnen herum.

Beispielweise können die Euromärsche nur verwässerte, freilich nicht ganz
unrichtige Forderungen wie "Schluss mit der Unsicherheit von Arbeit und
Leben!", "Gleiche Rechte für alle überall!", "Alle gemeinsam – für einen
europäischen Mindestlohn deutlich oberhalb der Armutsgrenze, für eine
europäische Höchstarbeitszeit von 40 Stunden in der Woche, für eine
Mindestsicherung gegen Erwerbslosigkeit, Berufsunfähigkeit und Alter, die die EU-Armutsgrenze nicht unterschreitet!", "Arbeit ist genug da – ihre
Finanzierung eine öffentliche Aufgabe. Reichtum umverteilen" und "Schluss mit der Privatisierung von Bildung, Gesundheit, öffentlichem Verkehr und
Alterssicherung! Kostenloser Zugang zu öffentlichen Gütern für alle!" als
Konglomerat von attac-, Gewerkschafts-, PDS-, DKP- und
Antiprivatisierungsforderungen artikulieren.
Im Interesse der Erwerbslosen bleibt nur zu hoffen, dass sie bundesweit bald auf gemeinsame Positionen einigen und gemeinsam voranschreiten. Denn die Mitstreiter vom ALV machen darauf aufmerksam, dass mit den Demonstrationen am 2.10. und 3.10.2004 gegen Sozialkahlschlag die Spaltung der Erwerbslosenbewegung -maßgeblich durch die MLPD vollzogen wurde. Allerdings darf nicht unerwähnt bleibten, dass sich inzwischen mit dem Aktionsbündnis Sozialproteste  http://www.die-soziale-bewegung.de neben den alteingesessenen, überwiegend beratungsorientierten Organisationen und Initiativen am Runden Tisch der Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisationen www.pariser-kommune.de ein sich dem Selbstverständnis nach
aktionsorientiertes bundesweites Bündnis begründet hat.

Was wichtig wird

In der nächsten Zeit stehen für Erwerbslose und die sie unterstützenden
Protestgruppierungen und -Netzwerk neue Überlegungen an, wie und mit welchen Formen sie die neuen Verschlechterungen der sozialen Lage von Erwerbslosen, aber auch anderen Gruppen der Bevölkerung aufgrund der Leistungsabstriche in Sozialgesetzen begegnen wollen. Hierbei gilt es, Profilneurosen und Vereinnahmungsdrang in der Erwerbslosenbewegung zu überwinden und den häufig zerlegenden Einfluss von Parteien innerhalb der Erwerbsloseninitiativen wirkungsvoll zu begegnen. Interessant ist, dass sich zunehmend aus ganz verschiedenen Gründen Protestgruppierungen wie z.B. die Bürgerbündnisse gegen die Privatisierung von öffentlichen Wohnungen und zum Bleiben der Wagenburgen wie in Freiburg, Notgemeinschaften aus Sozialberatung und Mieterbund in Bochum, Erwerbslosenräte wie in Köln, Nottelefone gegen Zwangsumzüge wie in Bonn, Berlin u.a. Städten bilden oder sich auch die Telefonseelsorge neue Interessengemeinschaften zur Abhilfe neuer sozialpolitischer Notlagen unterstützt: Alle diese Gruppierungen und viele bestehende politische Gruppen haben inzwischen durchaus Aufmerksamkeit für
die Situation der erwerbslosen MitbürgerInnen entwickelt, weil sie auf sich selbst und ihre Freunde und Angehörigen kontinuierlich solche Situationen wie Hartz IV oder Wohnungslosigkeit zukommen sehen. Ebenso wie neue Gruppierungen entwickeln sich auch bundesweite und lokale Vernetzungen quer zu den länger bestehenden Koordinationen. Es bleibt zu hoffen, dass bald genügend Kraft entwickelt werden kann, um gemeinsam der Bundespolitik erfolgreichen politischen Widerstand entgegenzusetzen sowohl gegen die Ausspielung der Interessen von Erwerbstätigen und Erwerbslosen als auch gegen Leistungsabbau im Gesundheitssystem oder die Vertreibungen von Hilfebedürftigen aus ihren Wohnungen.

Über Heiligendamm hinaus

Wie sich in der anschließenden Diskussion in dem Workshop gezeigt hat, planen verschiedene Initiativen auch zum G8-Gipfel Aktionen gegen prekäre Arbeitsverhältnisse, Zwangsdienste etc. Dazu wird es in den
nächsten Wochen konkretere Informationen geben. Der Workshop auf dem Camp hat vielleicht einen kleinen Anteil dazu geleistet,
dass in einer Region, in der Erwerbslosigkeit für ganz viele Menschen das zentrale Thema ist, regionale Initiativen und bundesweite Gruppen
ins Gespräch gekommen sind. Es ist zu hoffen, dass sich daraus die Grundlage für eine Zusammenarbeit gibt, in der Mobilisierung zum G8 und darüber hinaus.
Anne Allex (Kampagne gegen Zwangsumzüge)
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Ergänzungen