"Es geht ums Ganze: Freiheit oder Tod"

Birgit Gärtner 13.04.2006 13:27 Themen: Repression
Interview mit Linn Washington, Professor, Freund und ehemaliger Kollege von Mumia Abu-Jamal
Der 53jährige ist Jurist und Professor für Journalistik an der Temple University in Philadelphia. Er arbeitete als Musikredakteur, später u.a. als Polizeireporter der Philadelphia Daily News. Anfang der 70er Jahre lernte er Mumia Abu-Jamal kennen, der damals ebenfalls als Radioreporter arbeitete. Die beiden Männer freundeten sich an und seit der Verhaftung Abu-Jamals am 9. Dezember 1981 begleitet Washington den Fall publizistisch. Seinem Freund und Kollegen Abu-Jamal wird vorgeworfen, den Polizisten Daniel Faulkner erschossen zu haben. In einem dubiosen Prozess wurde er 1982 zum Tode verurteilt, seitdem sitzt er in der Todeszelle und kämpft für die Wiederaufnahme seines Verfahrens.

Wann haben Sie Mumia Abu-Jamal kennen gelernt?

LW: Anfang der 70er Jahre arbeitete ich als Musikredakteur beim Campus-Radio der Temple-University in Philadelphia. Dort arbeitete auch Mumia, der damals eine Radiosendung über die schwarzen Communities in Philadelphia machte. Er lief immer mit dem Mikro durch die Gegend. ´Ein Tag ohne O-Ton ist wie ein Tag ohne Sonne`, pflegte er zu sagen. Das hat mir sehr gefallen und wir haben uns auf Anhieb gut verstanden. Wir hatten ja auch sehr viel gemeinsam: Wir waren beide schwarz, hatten einen ähnlichen Musikgeschmack, uns verband die Leidenschaft für den Journalismus, wir redeten ständig über Politik und natürlich - schließlich waren wir junge Burschen - über Frauen.
Unser Schwerpunktthema damals war Polizeibrutalität, die in den 70er Jahren in Philadelphia ihren Höhepunkt erreichte und zu dem Zeitpunkt ein größeres Ausmaß hatte als in New York - vor allem waren Afro-Amerikaner davon betroffen. In den 70er Jahren gab es nur eine einzige Verurteilung eines Polizeibeamten und der hatte einen weißen Jugendlichen erschossen, für tote Schwarze interessierte sich niemand.
Mumia wurde es nicht müde, über diese rassistischen Übergriffe zu berichten und die Verantwortlichen Polizeibeamten und Politiker anzuprangern. Das brachte ihm den Beinamen ´Voice of the Voiceless`. Stimme der Stimmlosen, im Sinne von Stimme der Rechtlosen, ein.
Im Laufe der Zeit habe ich für viele verschiedene Medien gearbeitet, u.a. alle wichtigen Zeitungen in Philadelphia. Kürzlich habe ich über den Fall eines Schwarzen berichtet, der bei einer Protestaktion gegen Polizeibrutalität willkürlich verhaftet wurde. Am selben Tag wurde ein Baseballspieler des Philadelphia-Teams verhaftet, der betrunken randaliert und Polizeibeamte angegriffen hatte. Beide wurden einem Staatsanwalt vorgeführt: Der Schwarze wurde ins Gefängnis gesteckt, während der Baseballspieler freigelassen wurde, um an einem für Philadelphia wichtigen Spiel teilzunehmen. Das ist alltägliche Ungerechtigkeit, mit der wir zu kämpfen haben. Insofern ist auch mein Schwerpunktthema im Prinzip stets dasselbe geblieben: rassistische Polizeiwillkür und -brutalität.

Hat sich das im Laufe der Jahre nicht verändert?

LW: Es hat sich insofern verändert, als dass die Methoden der Polizei andere geworden sind. Heute gibt es nicht so viele Gewaltexzesse oder eine Kugel ins Hirn, sondern die Taktik besteht darin, Menschen mit fingierten Beweisen hinter Gitter zu bringen - und zwar häufig für eine sehr lange Zeit. Und für die Betroffenen gibt es keine Chance, dem zu entgehen. Experten von rechts bis links sind sich darüber einig, dass etwa 10% aller Gefängnisinsassen unschuldig dort sitzen. Das hört sich erstmal harmlos an, aber bei ca. zwei Millionen Gefangenen in den USA sind das immerhin etwa 200.000 Menschen. Und auch da sind sich die Experten einig, in erster Linie betroffen davon sind Afro- und Latino-Amerikaner.
Hinzu kommt die völlig unterschiedliche Bemessung des Strafmasses bei Weißen und Schwarzen oder Latinos. Ich will ein Beispiel dafür nennen: Jeff Bush, der Bruder von George W., erhöhte zu Beginn seiner Amtszeit als Gouverneur von Florida das Strafmaß für Drogendelikte. Später wurde seine Tochter wegen Drogenbesitzes verhaftet, Jeff Bush rannte durch die Gegend, faselte was von ´Familientragödie`, holte seine Tochter aus der Haft und steckte sie in eine Rehabilitationsmaßnahme. Während dessen wurde die Tochter erneut mit Drogen aufgegriffen. Dafür kam sie immer noch nicht in den Knast, sondern wieder in die Rehabilitationsmaßnahme. Das ist sicherlich richtig so, nur ich kenne viele schwarze Jugendliche, die für dieselbe Menge Stoff zehn Jahre Haftstrafe bekommen haben. Da wird einfach mit zweierlei Maß gemessen.

Wie ist das möglich, dass so viele Menschen unschuldig hinter Gittern sitzen?

LW: Die Ungerechtigkeit im Rechtssystem der USA begründet sich in der Zugehörigkeit der Ethnie und der Klasse. Wer arm ist, kann sich keine vernünftige Verteidigung leisten. Das betrifft auch Weiße, nur sind eben proportional sehr viel mehr Schwarze und Latinos arm als weiße Amerikaner.
Zudem haben die Betroffenen immer weniger Möglichkeiten, sich juristisch gegen Fehlurteile zu wehren. Präsident Bill Clinton erließ während seiner Amtszeit den ´Anti-Terrorism-and-Effectiv-Death-Penalty -Act`, das Anti-Terrorismus-und-Effektives-Todesstrafen-Gesetz. Das hatte wenig mit dem Kampf gegen den Terrorismus zu tun, sondern erhöhte die Barrieren für eine effektive Verteidigung vor Gericht. Seitdem haben wir eine Erosion demokratischer Rechte zu verzeichnen.

Welche Rolle spielt der 11. September 2001 dabei?

LW: Das hat den Abbau demokratischer Rechte auf drastische Weise verstärkt. Deshalb ist meine Position, dass wir den 11. September nicht ohne die Folgen diskutieren können. Zwei Wochen nach den Terroranschlägen präsentierte die Bush-Administration den ´Partiot-Act`, ein Gesetzeswerk von etwa 500 Seiten. Mir kann niemand erzählen, dass dieses Machwerk in so kurzer Zeit entstanden ist, die Pläne lagen fertig in der Schublade und Bush nutzte die Gelegenheit, dieses Gesetz, das angeblich der Sicherheit der Bevölkerung dienen soll, durchzusetzen. Die Abgeordneten segneten es ab, ohne es wirklich gelesen zu haben. Auch der ´Patriot Act` hat wenig mit dem Kampf gegen Terror zu tun, sondern hat den massiven Abbau demokratischer Rechte zur Folge.

Wie ist die Situation in den Gefängnissen?

LW: Immer wieder gehen Folterbilder von US-Militärgefängnissen um die Welt, am bekanntesten sind Abu Ghraib und Guantánamo Bay. Was die wenigsten wissen: Diejenigen, die als Folterknechte weltweit berühmt berüchtigt wurden, haben ihr Handwerk in den Knästen der USA gelernt. Es gibt Studien, aus denen ganz klar hervorgeht, dass Folter, sexuelle Gewalt und Bedrohung zur ständigen Routine in den US-Gefängnissen gehört. An dieser Stelle möchte ich meinen Freund Mumia Abu-Jamal zitieren. Er schrieb in einer Kolumne: ´Ist es bloßer Zufall, dass einige der brutalsten, bösartigsten Akteure in Abu Ghraib US-Reservisten waren, die in ihrem zivilen Leben Gefängniswärter waren? Wo sonst hätten sie es so gut lernen können?` Mumia bezieht sich dabei auf Charles Graner, einem der Soldaten auf den berüchtigten Bildern aus Abu Ghraib. Mumia weiß, wovon er spricht, denn er lebt in dem Hochsicherheitstrakt, in dem Graner arbeitete.

Wie ist es möglich, dass eine Nation, die der Welt Demokratie predigt, Menschenrechte dermaßen mit Füßen tritt?

LW: Dazu möchte ich zunächst einmal sagen, George W.Bush und sein Clan sind nicht Amerika. Es gibt sehr, sehr viele Menschen in den USA, die gegen den Krieg und Folter sind und gegen Rassismus eintreten. Nur dieses andere Amerika hat nicht die Macht, über Krieg und Frieden zu entscheiden.
Aber auch die Herrschenden in den USA sind druckempfindlich. Was ebenfalls kaum jemand weiß, weil es in keiner Zeitung stand und es kein Politiker je zugeben würde: Als die USA 1953 offiziell die Rassentrennung abschafften, passierte das nicht, weil der Rassismus überwunden gewesen wäre, sondern weil das Ansehen der USA in der Welt gelitten hatte. Das heißt, dass es durchaus Sinn macht, internationalen Druck gegen die Politik der USA zu erzeugen.

Sie sprachen von ihrem Freund Mumia Abu-Jamal, der seit fast 24 Jahren in der Todeszelle sitzt. Was haben Sie am 9. Dezember 1981 gedacht, als er verhaftet wurde?

LW: Etwa zwei Stunden nach dem Vorfall hörte ich im Radio, dass Mumia verhaftet worden war und raste sofort zum Tatort. Als Polizeireporter wusste ich, was mich dort erwarten würde: Dutzende Uniformierte und Beamte der Spurensicherung. Doch zu meiner großen Überraschung war dort niemand, alles war völlig ungesichert.
Da ich in meiner Zeit als Polizeireporter häufig erlebt hatte, dass die Polizei ´Täter` mit von ihnen fingierten Beweisen überführte, war mir aufgrund dieser Nachlässigkeit sofort klar, dass Mumia nicht mit einem fairen Verfahren rechnen konnte.

Damit sollten Sie leider Recht behalten, trotzdem ist derzeit - nach 24 Jahren - etwas Bewegung in diesen Fall gekommen. Können Sie kurz den aktuellen Stand des Verfahrens erläutern?

LW: Zum ersten Mal seit 1981 hat Mumia vor einem Gericht in zumindest drei Punkten Recht bekommen. Die Berufungsinstanz des 3. Bundesbezirksgerichts entschied Ende letzten Jahres, von 29 Beschwerdegründen im Berufungsantrag der Verteidigung drei zur Prüfung vor Gericht zuzulassen. Die Verteidigung beanstandete die Zusammensetzung der Geschworenenjury, die nur aus weißen Mitgliedern bestand, die zudem mehrheitlich die Todesstrafe befürworteten. Zweitens hatte die Verteidigung moniert, dass die Geschworenen von Staatsanwalt Joseph Mc Gill auf unzulässige Weise beeinflusst wurden, indem er in seinem Plädoyer behauptete, Mumia könne nach dem Urteil ´Berufung nach Berufung` einlegen, und so seine Unschuld immer noch beweisen. Das erleichterte den Geschworenen ihre Entscheidung.
Außerdem wird die Rolle des Richters Albert Sabo untersucht werden müssen. Dessen Rassismus äußerte sich z.B. in Sprüchen wie: ´Ich werde helfen, den Nigger zu grillen`.

Was bedeutet das konkret für Mumia?

LW: Das 3. Bundesbezirksgericht wird vermutlich im Frühjahr, spätestens im Frühsommer, über die Berufung in diesen drei Punkten zu entscheiden haben. Wenn eine Revision in auch nur einem dieser Punkte zugelassen wird, bedeutet das die Wiederaufnahme des Verfahrens. Inzwischen liegen so viele Beweise vor, dass ich mir nichts anderes vorstellen kann, als dass Mumia den Gerichtssaal dann als freier Mann verlassen wird. Doch auch die beiden Optionen lebenslange Haft oder Bestätigung der Todesstrafe stehen noch im Raum.
Der Fall Mumia Abu-Jamal ist kein reines juristisches Verfahren, sondern ein Politikum. Deswegen möchte ich noch einmal betonen: Es geht ums Ganze: Freiheit oder Tod. Jetzt kommt es darauf an, eine breite Solidaritätsbewegung zu mobilisieren.

Gibt es Beispiele dafür, dass Gefangene nach so vielen Jahren Todeszelle frei gelassen werden?

LW: Ich will drei Fälle nennen, die ähnlich gelagert sind wie bei Mumia, trotzdem ist jeder einzelne davon wieder ganz anders. Die drei Gefangenen wurden alle kürzlich aus der Haft entlassen.
Da ist zunächst Neil Furber, ein Weißer, der etwa sechs Monate vor Mumia verhaftet wurde, weil er jemanden umgebracht haben sollte. Es gab Zeugen, die den Mörder gesehen hatten - wenige Sekunden, wie sie dem Gericht gegenüber angaben. Ihnen wurde ein Phantombild gezeigt, das aussah wie Furber, also sagten sie aus, Furber sei der Mörder gewesen. Später fand ein Polizist heraus, dass er unschuldig war. Doch statt ihn frei zu lassen, prozessierte die Stadt Philadelphia noch vier Jahre lang. Furber hatte aufgrund der langen Haftzeit erhebliche gesundheitliche Schäden davon getragen und klagte seinerseits. Schließlich musste er doch entlassen werden und ihm wurden 1,9 Mio. $ Wiedergutmachung zugesprochen.
Dann gibt es den Fall William Nyeves, einen Indigeno, der einen Drogenhändler umgebracht haben soll. Nyeves ist groß und kräftig, laut Zeugenaussagen soll der Täter klein und dünn gewesen sein. Obwohl die Täterbeschreibung nicht auf ihn passte und der Bruder des Opfers explizit aussagte, dass Nyeves nicht der Täter sei, wurde er innerhalb eines Prozesstages verurteilt und in den Todestrakt gebracht. Nyeves konnte die Wiederaufnahme durchsetzen, weil er im ersten Verfahren von seinem Pflichtverteidiger schlecht beraten wurde, und wurde frei gesprochen.
Der dritte Fall ist der von Harold Wilson. Im November wurde aufgrund einer DNA-Analyse festgestellt, dass er unschuldig ist. Dann wurde er jedoch nicht sofort im Rahmen der Verhandlung frei gelassen, sondern zurück in den Knast gebracht. Von dort aus wurde er mitten in der Nacht auf die Straße gesetzt, mit 65 Cent in der Tasche - nach 18 Jahren Todeszelle.

Wie akzeptiert ist die Todesstrafe in der Bevölkerung?

LW: In der Gesellschaft setzt langsam ein Umdenken ein, immer mehr Menschen sind gegen die Todesstrafe. Nur leider wird es in den USA noch viele Exekutionen geben, bis sie endgültig abgeschafft wird. Ich hoffe allerdings sehr, dass mein Freund Mumia nicht dazu gehören wird.

Wann haben Sie Mumia das letzte Mal gesehen?

LW: Ich habe ihn vor drei Wochen besucht und ich muss sagen, ich bin immer wieder total beeindruckt: Er ist politisch voll auf dem Laufenden und bringt sich trotz mehr als 24 Jahre Knast fundiert ein. Seine Beiträge sind inzwischen analytischer als zu seiner Zeit als Reporter in Philadelphia, er hat seine Haftzeit für Forschung- und Recherchearbeit genutzt.
Er ist sehr froh, dass endlich Bewegung in seinen Fall kommt, aber natürlich ist er auch sehr aufgeregt. Wie gesagt, sein Leben steht immer noch auf dem Spiel.
Wie auch bei meinen letzten Besuchen war ich wieder einmal erschüttert über die Schikanen durch die Gefängnisleitung. Obwohl wir in einem Hochsicherheitstrakt waren und Besuche unter strenger Bewachung durch Beamte stattfinden, wird Mumia in Hand- und Fußfesseln vorgeführt. Selbst wenn ihm unter diesen Bedingungen die Flucht gelänge, wären immer noch vier Stacheldrahtzäune zu überwinden. Ich kann nur noch einmal sagen: Das ist nichts anderes als eine Schikane. Wir müssen alles dafür tun, damit Mumia sein Recht bekommt, er frei gesprochen wird und ihm solche Misshandlungen künftig erspart bleiben.

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Ergänzungen

Termin

n.n. 13.04.2006 - 17:29
Gibt es schon einen konkreten Termin, an dem die Entscheidung fallen soll? Was ist mit Gruppen/Bündnissen/..., die mobilisieren (wollen)?