Gerichte und Polizei gegen Demorecht

AbwehrspielerIn der Ordnung 09.04.2006 15:03 Themen: Repression
Inzwischen ist der Konflikt über drei Jahre alt: Nach Polizeiangriffen auf eine Demonstration am 11.1.2003 in Gießen mit anschließender Festnahme des Redners samt Megaphon kommt das Opfer nun ins Gefängnis. Die Polizei vor Ort und die Gerichte aller Instanzen missachteten auf groteske Weise das Versammlungsrecht und erklärten den Polizeiangriff für rechtmäßig. Dabei stellen sie Behauptungen über das Versammlungsrecht auf, die frei erfunden sind und klare Rechtsbeugung darstellen. Der Betroffene hat Verfassungsklage eingereicht, die die Rechtskraft des Urteils und damit seine Inhaftierung aber nicht hemmt.
Nach Polizeiangriff auf Demonstrationsredner kommt das Opfer ins Gefängnis
Gerichte aller Instanzen missachten Versammlungsrecht
Verfassungsklage eingereicht

Gießen, 11.1.2003 (damaliger Indy-Bericht unter  http://www.de.indymedia.org/2003/01/38556.shtml): Durch den Seltersweg, die zentrale FußgängerInnezone der Stadt, zieht ein kleiner Demonstrationszug. Die TeilnehmerInnen haben sich spontan zusammengefunden und führen ein Transparent und ein Megaphon mit sich. An einigen Kreuzungspunkten stoppt der Zug. Aus den Redebeiträgen ist zu erkennen, worum es geht: Kurz zuvor waren zwar politische Aktivisten festgenommen und das politische Zentrum „Projektwerkstatt“ von der Polizei angegriffen und technisch zerschlagen worden: Rechner, Stromkabel, Bildschirme und vieles mehr wurden von den rücksichtslos plündernden BeamtInnen aus dem Haus geschleppt – ohne Durchsuchungsbeschluss!
In der Mitte der FußgängerInnenzone führt die Demoroute an dem 3-Schwätzer-Kunstwerk vorbei, wo die CDU einen Wahlstand hat. Dort steht auch der Gießener CDU-Chef und hessische Innenminister Bouffier. Die von der Demo kritisierten Polizeieinheiten unterstehen Bouffier, er ist zudem der Law-and-Order-Scharfmacher der hessischen Regierung und hat mit etlichen Gesetzesnovellen die Grundlagen für immer mehr Polizeistaatlichkeit gelegt, die sich in dem Überfall auf die Projektwerkstatt und zunehmende Festnahmen aus politischen Gründen auswirkten. Die Demo stoppt daher auch hier und in einem Redebeitrag wird die Sicherheitspolitik der CDU am konkreten Beispiel angegriffen. Die Rede muss einmal unterbrochen werden, weil ein Stadtverordneter vom CDU-Stand aus gegen den Redner tätlich wird (wie sich später herausstellt, handelte es sich um einen damaligen FWG-Abgeordneten, der bei der CDU zu Besuch war). Dann geschieht das Unfassbare: Innenminister Bouffier, als Wahlkämpfer und damit in privater Natur anwesend, fordert von der Polizei den Angriff auf die Demonstration. Die anwesenden Wachpolizisten, mit dem Auftrag völlig überfordert, prüfen weder die Rechtslage noch den Grund des Angriffs, sie fordern nur panisch Verstärkung an, um den Befehl des großen Ministers genüge tun zu können. Als sie genügend Personal zusammen haben, gehen sie schnörkellos vor: Sie suchen keinen Kontakt zu der Demonstration, die erteilen keine Auflage und lösen die Demonstration auch nicht auf. Ihre erste Handlung ist die gewaltsame Beschlagnahme des Transparentes. Nach dem dieses geschehen war, forderte der Innenminister auch das Ende des nun den Polizeiangriff begleitenden und thematisierenden Redebeitrags. Die Polizei folgte dem und stürzte sich auf den Redner dieser Demonstration. Es gab auch hier keine Warnung, keine Erteilung von Auflagen, keine Auflösung der Demonstration. Folglich wurden auch keine Gründe für die Maßnahmen genannt, die auch schwer hätten gefunden werden können. So gab es u.a. keinerlei Anzeichen für Eskalation, Gewaltanwendung oder ähnliches. Es hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt keine Personen aus der Demonstrationsgruppe gelöst, etwa um sich dem CDU-Stand oder dem Innenminister zu nähern. Das wird auch von niemandem behauptet – weder der Einsatzführer vor Ort noch später die Staatsanwaltschaften in ihren Anklagen oder Plädoyers noch die Urteilsbegründungen benennen irgendeine Gefahr, die von der Demonstration ausgegangen sei.
Die chaotisch handelnden Polizisten schleifen schließlich den Redner mitsamt Megaphon quer über den Seltersweg zu einem Polizeiauto. Dabei wird der CDU-Stand in Mitleidenschaft gezogen durch die herumzerrenden Polizisten. Schließlich wird der Redner ins Auto gehievt und für etliche Stunden im Polizeipräsidium festgehalten. Als alles vorbei ist, verfasst der Einsatzführer vor Ort, POK Walter, einen Bericht, in dem er den Angriff auf die Demonstration schildert, auch mit keinem Wort irgendwelche Schritte wie Versammlungsauflösung, -auflagen u.ä. erwähnt, aber etwas Bemerkenswertes erfindet: Der Redner soll – schon in den Polizeiwagen verbracht – plötzlich ihn getreten haben. Im späteren Gerichtsverfahren finden sich dafür keine Zeugen, POK Walter muss die Person, mit der er den Redner angriff, sogar im laufenden Gerichtsverfahren einmal auswechseln – offenbar weil die ursprüngliche nicht bereit war, seine Lügen so frech mitzutragen.
Doch auf diese spätere Szene kommt es nicht an. Beeindruckend ist, dass alle Beteiligten und Instanzen den Angriff auf die Demonstration für rechtmäßig halten. Da kommen abenteuerlichen und immer neue Begründungen auf den Tisch. Chronologisch sortiert liest sich das so:

1. Akt: Polizeieinsatz vor Ort
Über die Motive des Polizeiführers vor Ort gibt sein Bericht am Abend des gleichen Tages Auskunft. Da davon ausgegangen werden mußte, dass der Beschuldigte keine behördliche Erlaubnis zur Benutzung eines Megaphons hatte, sollte dieses sichergestellt werden. Ferner sollte auch das Transparent mit den Holzstangen nach dem HSOG sichergestellt werden“. Die Annahmen von POK Walter sind rechtlich falsch. Das Versammlungsrecht und nicht das Polizeirecht (HSOG) kommen bei Demonstrationen zur Anwendung. Die Formulierung „Da davon ausgegangen werden mußte“ zeigt aber zusätzlich, dass POK Walter nach der Aufforderung durch den Innenminister, die Demonstration zu beenden, offenbar auch keinerlei Erkundigungen eingeholt hat. Er agierte, wie er selbst hier zeigt, freischwebend ohne Bezug auf Recht oder irgendwelche tatsächlichen Annahmen, Informationen u.ä., die eine Demonstrationsauflösung rechtfertigen könnten (die dann aber auch anders ablaufen müßte). Zudem hat er gar nicht geprüft, welche Mittel in Fragen kommen und nach dem Gebot des mildesten Mittels vielleicht zu bevorzugen sind.“ Die Darstellung zeigt seltsame Rechtsauffassungen: Das Polizeirecht gilt im Falle von Versammlungen gar nicht, für Demonstrationen bedarf es gar keiner Genehmigung und daher ist die Nutzung eines Megaphons auf solchen regelmäßig rechtmäßig.“ Weitere Gründe gibt der Polizeiführer für den Angriff auf die Demonstration nicht an, d.h. er gibt indirekt zu, dass es keinen sonstigen Anlass für den Angriff auf die Demonstration gab und dass auch keine formalen Regeln bei der Beendigung der Demonstration (Auflösung, Auflagen ...) eingehalten wurden.

2. Akt: Polizeiaussage in der ersten Instanz
Der Polizeiführer am 11.1.2003, POK Walter, ergänzte seinen Bericht in der Zeugenaussage der ersten Instanz (15.12.2003 vor dem Amtsgericht Gießen) noch dahingehend, dass er die Nutzung des Megaphons für einen Verstoß gegen die Gefahrenabwehr-Lärmverordnung halte. Dumm nur, dass es so etwas gar nicht gibt. Damit fußt der Angriff auf die Demonstration nun auch auf einem Rechtsgrund, der schlicht völlig erfunden ist. Auf die zusätzliche Frage, warum vorher das Transparent angegriffen wurde (schließlich ginge von dem wohl kein Lärm aus), äußerte sich POK Walter als Zeuge nun so, dass das gar nicht geschehen sei. Zu dumm, dass sein eigener Bericht und das Sicherstellungsprotokoll etwas anderes beweisen. POK Walter behauptete zudem vor Gericht, dass nach seiner Überzeugung Demonstrationen immer 48 Stunden vor Beginn angemeldet und genehmigt werden müssten. Ein Recht auf Spontan- oder Eilversammlungen gäbe es nach seiner Auffassung nicht.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Der bei einer Demonstration eingesetzt Polizeiführer hatte von Demonstrationsrecht nicht die leiseste Ahnung.

3. Akt: Anklagetext der Staatsanwaltschaft Gießen
In der Anklage wird von „einer nichtangemeldeten Demonstration“ gesprochen. Da dieses so explizit benannt wird, entsteht der Verdacht, dass die Staatsanwaltschaft der Meinung sei, dass die Versammlung deshalb rechtswidrig gewesen und der Polizeieinsatz deshalb rechtmäßig sein könnte. Auch diese Auffassung ist irrig – zum einen gibt es nichtangemeldete Demonstrationen, die rechtmäßig sind (eben Spontanversammlungen), zum zweiten steht nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts auch eine nicht ordnungsgemäß angemeldet Demonstration weiter unter dem Schutz des Versammlungsrechts und drittens hätte für alle Fälle auf jeden Fall gegolten, dass die Polizei zunächst mit Auflagen und dann der formalen Auflösung hätte arbeiten müssen, was nicht geschehen ist. Somit zeigt auch die Staatsanwaltschaft ihr Nichtwissen über Versammlungsrecht oder ihr Nichtwollen der Beachtung von Gesetzen bei der Aburteilung einer politisch unerwünschten Person.

4. Akt: Verurteilung erster Instanz (15.12.2003)
Auszug aus dem Urteil: „Die Diensthandlung des Zeugen Walter Verbringung zum Polizeibus) war rechtmäßig. Dabei kann dahinstehen, ob die Versammlung des Angeklagten und seiner Anhänger als Spontandemonstration erlaubt war oder nicht. Denn jedenfalls störte der Angeklagte eine angemeldete Wahlveranstaltung durch lautstarke Ansagen mittels Megaphon. Dies durfte durch die Polizei mit den von ihr gewählten Mitteln unterbunden werden, unabhängig davon, wer letztlich die Anordnung zum Polizeieinsatz gegeben hatte.“ Richter Wendel, der dieses Urteil abfasste, hält es also für gleichgültig, ob die angegriffene Versammlung rechtmäßig war oder nicht. Ein Polizeiangriff ohne Vorwarnung darf also aus seiner Sicht jederzeit und auch ohne Gründe erfolgen, falls die Demonstration irgendjemanden stört. Mit dieser Rechtsauffassung bewegt sich ein Richter weit außerhalb des Rechtsrahmen, der in diesem Lande gilt. Die Möglichkeiten politischer Meinungsäußerung sind in der BRD ohnehin nicht weit entwickelt – aber Richter Wendels Urteilspruch hat mit dem geltenden Versammlungsrecht nichts mehr zu tun. Hier wird von einem Gericht die Allmacht der Polizei auch formal für richtig gehalten.

5. Akt: Verurteilung zweiter Instanz (3.5.2005)
Im Urteil bestätigt das Landgericht Gießen einfach alle Bewertungen des Polizeiführers. Auf die Ausführungen zum Versammlungsrecht des angeklagten Demonstrationsredners vom 11.1.2003 geht das trotz intensiver Vorbringung u.a. im Plädoyer gar nicht ein. "Die vom Zeugen Walter vorgenommene Diensthandlung war im Sinne von § 113 Abs. 3 StGB rechtmäßig. Der Zeuge Walter war zuständig für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung im Bereich der von der Stadt Gießen genehmigten CDU-Wahlwerbung mit einem Stand. Bei der gegebenen Sachlage entschied er sich angesichts der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen zu Recht zum Einschreiten. Ob dabei die Wünsche des Innenministers und des Polizeipräsidenten eine Rolle spielten, war daher ohne Belang. Sein Verlangen, das Megaphon herauszugeben, war nach der nicht zu beanstandenden Einschätzung der Lage durch den Zeugen Walter auch notwendig, um weitere Durchsagen zu unterbinden. Da sich der Angeklagte allem widersetzte, waren auch seine Festnahme und der Abtransport zum Transportfahrzeug rechtmäßig.
Der Angeklagte handelte rechtswidrig und schuldhaft. Ein Irrtum über die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung war nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auszuschließen." Das Gericht behauptet hier also zusätzlich noch, dass der Demonstrationsredner wusste, dass er von der Polizei angegriffen werden durfte. Damit macht das Gericht eine bemerkenswerte Logik auf: Wer auf einer Demonstration eine Rede hält und ohne jegliche Auflösung der Demonstration von der Rede weg gezerrt und verhaftet wird, weiß selbst, dass das so alles richtig und rechtens ist. Eine Rechtsgrundlage hierfür nennt das Gericht nicht, es klingt nach "Die Polizei hat immer recht ...".

6. Akt: Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft zur Revision
Der angeklagte, damalige Demonstrationsredner reichte Revision ein, in der er u.a. die Rechtswidrigkeit des Angriffs auf die Demonstration präzise begründete. Würde dieser als rechtswidrig betrachtet, wäre auch eine Verurteilung des Redners nicht möglich. Die Oberstaatsanwaltschaft nahm zu dem Revisionstext Stellung und behauptete ebenfalls, dass der Angriff auf die Demonstration rechtmäßig war: "Ferner war der vom Angeklagten Bergstedt bei dem Geschehen vom 11.01.2003 gegen den Polizeibeamten Walter sowie die anderen einsatzbeteiligten Polizeibeamten geleistete Widerstand nicht nach § 113 Abs. 3 StGB wegen fehlender Rechtsmäßigkeit der betreffenden DiensthandIung straflos. Denn bei der betreffenden Aktion des Angeklagten Bergstedt handelte es sich nicht etwa um eine auch ohne die nach § 14 Abs. 1 VersammIG vorgeschriebene vorherige Anmeldung zulässige und von den Polizeibehörden zu duldende ´Spontandemonstration` aus Anlass der tags zuvor erfolgten polizeilichen Durchsuchung in den Räumen der Projektwerkstatt in Saasen. Zum einen ist nicht ersichtlich, warum eine Demonstration gegen die vorangegangene polizeiliche Ermittlungsmaßnahme nur im Falle ihrer kurzfristigen Anberaumung unter freiem Himmel einen in dieser Hinsicht denkbaren Sinn hätte erfüllen können und diesen bei Einhaltung der gesetzlichen Anmeldefrist hätte verlieren sollen (vgl. BVerwGE 26, 135). Zum anderen diente die vorangegangene polizeiliche Durchsuchungsmaßnahme dem Angeklagten Bergstedt offensichtlich lediglich als Vorwand dazu, gezielt die ihrerseits angemeldete und genehmigte CDU-Wahlveranstaltung mit seiner Megaphonansprache zu stören, weswegen er diese auch bewusst in der Nähe der Wahlveranstaltung und in deren Richtung hin hielt. Mithin war der Polizeibeamte Walter zunächst nach § 11 HSOG berechtigt, zur Unterbindung der Störung der Wahlveranstaltung durch den Angeklagten Bergstedt diesen zur Herausgabe des Megaphons unter der Androhung aufzufordern, es ihm abzunehmen, wenn er es nicht freiwillig herausgebe."
Diese, im Vergleich zu den Urteilen und dem Bericht des Polizeiführers ausführlich gehaltene Begründung enthält gleich mehrere Rechtsfehler. Zum einen ist der Hinweis auf die Verschiebbarkeit der Spontanversammlung (deren Existenz immerhin indirekt damit zugegeben wird) angesichts dessen, dass 48 Stunden später ein Montag und damit ein Werktag gewesen wäre, absurd, denn selbstverständlich wäre dann die Demonstration nicht in gleicher Weise möglich gewesen – vor allem hätten die TeilnehmerInnen gefehlt! Der zweite Hinweis ist aber noch interessanter: Die Oberstaatsanwaltschaft verändert den Zweck der Demonstration. Dabei kann sie sich weder auf die Aussagen des Polizeiführers noch auf die Urteile stützen, die allesamt festgestellt hatten, dass die Polizeiattacke auf die Projektwerkstatt direkt vorher das Thema der Demonstration war. Es liegt der Verdacht nahe, dass die Oberstaatsanwaltschaft hier sehr bewusst die Fakten verändert hat, um eine Bestätigung der Verurteilung erreichen zu können. Offensichtlich war auch ihr bewusst, dass die Polizeimaßnahme vom 11.1.2003 in der vom Polizeiführer und in den Urteilen beschriebenen Form rechtswidrig war. Die Umschreibung der Abläufe wäre dann eine gezielte Rechtsbeugung – das OLG nahm den Ball gerne auf ...

7. Akt: Beschluss des Oberlandesgerichtes Frankfurt (29.3.2006)
Das OLG wies die gesamte Revision als "offensichtlich unbegründet" zurück. Damit unterstrich sie die Rechtsauffassung des Polizeiführers und der Vorinstanzen, ohne auf diese nochmals einzugehen. Im Beschluss werden aber auch die Abläufe nochmals vom OLG zusammengefasst dargestellt. Zum Angriff auf die Demonstration fügt das OLG: "eine Genehmigung nach dem Versammlungsgesetz lag nicht vor". Damit stellt das OLG eine implizite Behauptung auf, dass eine solche Genehmigung notwendig sei. Damit wird unterstellt, dass die Demonstration nicht rechtens und der Angriff auf die Demonstration eventuell rechtmäßig war. Allerdings ist für eine Versammlung eine Genehmigung nicht notwendig. Das Oberlandesgericht, immerhin ja schon eine recht hohe Instanz der Rechtsprechung, erfindet hier frei irgendwelche Regelungen des Versammlungsrechts – und das obwohl in der Revision präzise dargestellt wurde, dass das Versammlungsrecht anders ist.
Im weiteren Satz behauptet das OLG selbst, das "deshalb" die Polizei "eingriff", also die Demonstration angriff und (ohne Vorwarnung oder Auflösung) zerschlug durch Beschlagnahme des Transparentes, des Megaphons und Festnahme des Redner. Das "deshalb" bezieht sich nur auf den vorstehenden Satz, in dem nur das Stattfinden der Demonstration und das Nichtvorhandensein einer Genehmigung geschildert werden. Das heißt: Das OLG behauptet, das Stattfinden einer Demonstration bei fehlender Genehmigung sei ausreichender Grund für eine Zerschlagung der Polizei unter Auslassung aller formalen Zwischenschritte und ohne Ausprobieren anderer, weniger die Rechte beschneidender Zwangsmassnahmen. Da Genehmigungen vom Gesetz her gar nicht vorgesehen sind, behauptet das OLG folglich, dass jede Demonstration, nur weil sie stattfindet, jederzeit und sofort von der Polizei auf jede Art zerschlagen werden kann.

Zusammenfassung
Sowohl die Polizei im direkten Geschehen am 11.1.2003 sowie alle (!) gerichtlichen Instanzen und die Oberstaatsanwaltschaft haben bezüglich des Versammlungsrechts rechtliche Falschbehauptungen aufgestellt. Bis auf den offensichtlich unwissenden Polizeiführer muss allen anderen Instanzen unterstellt werden, dass sie absichtlich gelogen haben, um eine Verurteilung zu ermöglichen. Denn allen ist durch den Angeklagten die grundgesetz- und versammlungsgesetzkonforme Rechtslage geschildert worden und es muss wegen der Klarheit der Lage angenommen werden, dass ihr Rechtswissen ausreicht, um die Lage eindeutig einschätzen zu können. Dennoch haben sie in Urteilen, Beschlüssen und Stellungnahmen Falschbehauptungen zur Rechtslage gemacht. Das stellt zum einen einen Bruch des Grundgesetzes, Art. 8, dar und zum zweiten bewusste Rechtsbeugung im Amt.
Als Motiv dieser fortgesetzten Verfassungsbrüche und Rechtsbeugungen kommt nur der unbedingte Wille der Polizei und der Gerichte in Frage, möglicherweise angetrieben durch die politische Einmischung seitens einer von Beginn an ja beteiligten hessischen Landesregierung. Der Redner auf der Demonstration am 11.1.2003 thematisierte damals Polizeimaßnahmen – und er ist insgesamt sei Jahren als Kritiker der hessischen und in Gießen verfolgten Sicherheitspolitik bekannt. Ihn mundtot zu machen, ist als Ziel des Justizhandelns erkennbar. Um dieses Ziel zu erreichen, wird recht gebrochen und gebeugt, wird gelogen und werden Grundrechte missachtet. Insofern gibt der Prozess dem Verurteilten recht: Die Kritik an der Justiz zeigt sich auch im Umgang der Justiz mit dieser Kritik. Bestraft wird das Opfer der Justiz, die beteiligten Polizisten, RichterInnen und Minister haben nichts zu befürchten, denn die Rechtsprechung selbst ist in diesem Land unangreifbar.

Wie weiter?
Der verurteilte Redner auf der Demonstration ist nach der Abweisung der Revision inzwischen rechtskräftig verurteilt und wird 8 Monate Haft abzusitzen haben. Weitere Verfahren, deren Gegenstand justizkritische Äußerungen und Handlungen sind, stehen ihm und anderen in Gießen bevor. Versuche, Polizeihandlungen vor den Verwaltungsgerichten auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen, wurden vom Gericht geblockt: Der Angeklagte habe wegen seiner polizei- und justizkritischen Äußerungen und Handlungen kein Rechtsschutzinteresse mehr.
Die Haftstrafe wird in den nächsten Wochen oder Monaten vollzogen werden. Der Verurteilte hat gegen die Verletzung seines Grundrechts auf Versammlungsfreiheit und die darauf aufbauenden Urteile Verfassungsbeschwerde eingelegt. Ob jedoch dieses höchste Gericht unabhängig urteilt oder genauso mit Tricks das politische Wollen stützt, ist offen.


Mehr Informationen:
- Informationen über die Prozesse, Anträge, Plädoyers usw. unter  http://www.projektwerkstatt.de/prozess
- Informationsseiten zu Demonstrationsrecht:  http://www.projektwerkstatt.de/demorecht
- Dokumentation der politischen Strategien von Polizei und Sicherheitspolitik im Raum Gießen:  http://www.polizeidoku-giessen.de.vu
- Dokumentation von Justizurteilen gegen politisch unerwünschte Personen im Raum Gießen:  http://www.justiz-giessen.de.vu
- Informationsseiten zur Bevorzugung von Polizeizeugen vor Gericht:  http://www.polizeizeugen.de.vu
- Die vor dem 11.1.2003 angegriffene Projektwerkstatt:  http://www.projektwerkstatt.de/saasen

Kontakt, u.a. zu dem Verurteilten: c/o Projektwerkstatt, Ludwigstr. 11, 35447 Reiskirchen-Saasen, Tel. 06401/903283,  saasen@projektwerkstatt.de
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Ergänzungen

happig

. 09.04.2006 - 20:45
mal von der verwaltungsrechtlichen seite, also dem versammlungsrecht, abgesehen. selbst wenn die bullen legal gehandelt hätten, sind 8 monate für einfachen widerstand ja ganz schön happig. haben die da noch andere verurteilungen mit einbezogen, oder wenigstens irgendwelche verletzungen nachgewiesen? sonst frag ich mich doch, wieso man nicht gelich mit steinen schmeissen soll, wenn das vor gericht eh keinen unterschied mehr macht. da weiss man wenigstens, wofür man sitzt.

Menschenrechtsgerichtshof

Klärung 09.04.2006 - 21:53
In Straßburg gibt es den Europäischen Menschenrechtsgerichthof. Der ist für Menschenrechtsverstöße zur Klärung da.
Schreibt den doch mal an.

Aufgewacht

Tom 09.04.2006 - 23:13
Mich wundert, dass es Euch wundert. Sogar Gewerkschaften merken mittlerweile, dass im Hessenland ein eisiger, konservativer Wind weht.

Dein Name sei "Rechtsstaat"!

Polizeistaat 09.04.2006 - 23:32
Wenn man bedenkt, daß die Polizisten, die 2003 den gefesselten Kölner Musiker Neisus gemeinsam auf dem Polizeirevier viehisch totgetrampelt und totgetreten haben, dafür von den deutschen Richtern gerade mal 12 Monate auf Bewährung und vom Innenminister Berendt (SPD) zusätzlich bezahlte Beurlaubung vom Dienst auf Lebenszeit (Urlaub bis zur Rente) bekommen haben, dreht es einem "rechtsstaatlich" den Magen um bei 8 Monaten staatlicher Freiheitsberaubung für die Projektwerkstattler für was - öffentliche Ruhestörung?
Die Unterdrückung und das staatliche Verbrechen in der BRD haben einen Namen und der heißt "Rechtsstaat"!

@tut nix zur sache

jb 11.04.2006 - 14:07
Na gut, Dein Kommentar hat immerhin ein Gutes: Das es kompletter Unsinn ist, was Du schreibst, lässt sich mal einiges an dem Beispiel klären. Warum Du hier Leute abhalten willst, sich zu wehren, sei mal dahingestellt, aber Dein Text ist so eine gute Liste allgemeinverbreiter Irrtümer. Genauer:

"zum einen kann/soll auch eine Spontandemo, zur not eine halbe Stunde vorher angemeldet werden."
Aha - "kann/soll", also muss nicht. Ist auch an keiner Stelle in irgendeinem Gesetz so beschrieben.

"wenn ihr das nicht gemacht habt, kann die Demo jederzeit von den Bütteln aufgelöst werden."
Völlig falsch. Das Bundesverfassungsgericht hat klar geurteilt, dass selbst eine illegale Demo nciht einfach aufgelöst werden kann. Das Versammlungsrecht schützt auch die Demos, die rechtsfehlerhaft zustandekommen.

"auch ohne Angabe von Gründen oder vorherige Diskussion."
Komplett falsch. Erst muss offiziell aufgelöst werden. Und vorher müssen ncoh niedrigschwelligere Mittel ausgeschöpft werden (z.B. Auflagen erteilen). Außerdem darf das alles nur die Versammlungsbehörde. Nur wenn die gerade nicht kann, kann es auch die Polizei. Im vorliegenden Fall aber hat die Polizei das auch alles nie geprüft.

"ein Megaphon oder Lauti wird erst ab 50 Personen genehmigt."
Falsch. Ist in Gießen in einem Verwaltungsgerichtsverfahren von uns längst anders durchgesetzt worden. Die Versammlungsbehörden sehen das natürlich am liebsten so.

"wenn ihr weniger wart, können euch die Büttel das Teil abnehmen, dies ebenfalls ohne Diskussion."
Aus oben genanntem ist das zweifach falsch.

"beim mitführen von Holzstangen (Transpi) sieht das ähnlich aus."
Stimmt. "sieht ähnlich aus" - sprich: Du erzählst Blödsinn.

"wenn die Büttel der meinung sind ihr könntet ihnen damit wehtun, dürfen sie die euch abnehmen."
Nach Bundesverfassungsgericht bricht Versammlungsrecht das Polizeirecht.

"als Fazit nochmal der Tip: wenn ihr euch nicht an das Versammlungsrecht halten wollt, dann laßt euch entweder nicht erwischen oder aber hört auf hier ständig rumzujammern,"
gähn

Wir haben umfangreiche Seiten zu Demorecht ins Netz gestellt mit vielen Kommentaren, Urteilszitaten usw. Siehe den Link.

meine eigene erfahrung in giessen...

thomas ziegler 13.04.2006 - 01:39
...da brauchst du nur mit der prowe zusammen flyer an kinobesucher verteilen die sich kritisch mit dem film auseinandersetzen, der kino-betreiberin gefällt das nicht, sie ruft die förster und schon hörts du einen der grünen flöten: ich erteile ihnen platzverweis (-auf öffentlichem grund!!-)
ich frag ihn was er denn für ne begründung hätt: na zur verhinderung weiterer straftaten...

-so siehts dort aus in giessen!!

ja und da erfrecht sich doch einer mit nem megafon die "audienz des herzogs" zu stören -unerhört- da muss mann mit aller härte des gesetzes gegen vorgehen!! -na wozu hat mann denn seine büttel und speichellecker...
-politiker sind eben gleicher als andere -zumindestens fühlen sie sich so, -von wegen macht nur auf zeit...

die bodenhaftung hatten die selten und so wunderts nicht dass die (nur meine meinung:) "schweinebacke" koch (ich find mit den hängenden wangen sieht er -für mich zumindestens- so aus...) auch kein problem darin sieht wenn ER mit 200 über die autobahn rasen darf -dass aber 95% aller bürger das "nicht sooo gut" finden dass er das darf ficht ihn nicht an...

bin gespannt ob aus karlsruhe was objektiveres kommt als aus dem eigenen sumpf denn es hat sich wohl (-überall??) inzwischen eingebürgert dass die weiteren instanzen den vorherigen NICHT in die suppe spucken

hmm -und für die details was ne demo darf und was nicht musst du inzwischen ausgebuffter verwaltungsfachjurist sein, junge junge, *kratz - kratz*

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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wie oft? — Nachbar Paschulke

Bundesverfassungsgericht — Letzter Demokrat

eine kleine Anmerkung — tut nix zur Sache