Hamburg: Gegen Überwachung und Kontrollwahn

one sister 28.03.2006 02:13 Themen: Freiräume Repression
Aktionstag gegen Überwachung und Kontrollwahn am 25. März in Hamburg anlässlich der Einrichtung von 12 Kameras entlang der Reeperbahn. Ein verspäteter Bericht.
Nicht unerwähnt bleiben soll der Aktionstag gegen Überwachung und Kontrollwahn am letzten Wochenende (25. März) in Hamburg.

Circa 100 Leute fanden sich an der Reeperbahn auf Höhe Hamburger Berg zusammen.
Auftakt des Spektakels war die Enthüllung der goldenen Kamera: In einem Theaterstück traten hervorragend charakterisiert Innensenator Udo Nagel, ein Vertreter des Einzelhandels, eine Sprecherin der Bürgerinitiative für mehr Sicherheit, ein gehorsamer Spitzensportler sowie der Chef der stets anwesenden Sicherheitstruppe ans Redepult und gaben ihre Meinung zum Besten. Die ebenfalls im Stück intergrierte erste Zuschauerreihe jubelte ihrem Udo zu und wurde zugleich von der Sicherheitseinheit unter Kontrolle gehalten.

Immer wieder konnte mensch an diesem Nachmittag die sprechende Kamera hören. Sie wies PassantInnen auf Ihre „Untaten“ hin, ermahnte wegen des weggeworfenen Kaugummis, pöbelte Herrn Meyer an, der doch eigentlich krankgeschrieben sei und vermerkte, dass die Frau mit rotem Mantel beim Popeln in der Nase genaustens gefilmt würde.

Unweit davon konnte sich jede und jeder darin üben auf das Objektiv einer übergroßen Kamera zu zielen. Für jeden Treffer gab es eine Nagel-Medallie und als Trostpreis einen Keks mit der Aufschrift „Kameramann Arschloch“.

Eine um Sicherheit besorgte Gruppe verteilte Passierscheine, in denen darauf hingewiesen wurde, wie gefährlich der Großstadtdschungel sei und empfahl neben vielen anderen Tipps, einen Maulkorb zu tragen.

Das Hamburger Regenwetter kam an diesem Tag nicht ganz ungelegen, so konnte - wer/welche wollte - seinen/ihren Regenschirm mit den Worten „Wir haben etwas zu verbergen!“ besprühen lassen. Selbstgebastelte Brillen sowie verschiedene Flugblätter wurden an die Unterstützer_innen und Passant_innen verteilt. Auch schwarze Luftballons gab es, die bis zu den 12 Kameras, die demnächst das Geschehen auf der Reeperbahn aufzeichnen werden, hochsteigen konnten.

Leider, leider ließ die Polizei den spontanen Aufbruch zu einem Rundgang zu den bereits angebrachten Kameras nicht zu. Die Idee war, die Redebeiträge des Tages auch an den einzelnen Kamerastandorten zu halten. Aufgrund der schrumpfenden Personenzahlen und des ungemütlichen Wetters wurde für dieses Mal von energiereicheren Durchsetzungsversuchen abgesehen.

Das Flugblatt des Aktionsbündnis gegen Kontrolle und Videoüberwachung (little sister) ist diesem Bericht hinzugefügt, weil darin in kurzer Form eine(!) Argumentationskette gegen die Kameraüberwachung dargestellt wird.


! An die solidarischen Fotograph_innen, die an jenem Tag dabei waren, ergänzt diesen Bericht wegen der Anschaulichkeit bitte mit einigen Bildern !

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Die Reeperbahn wird kameraüberwacht!

In Barcelona wird der George Orwell Platz kameraüberwacht. In Hamburg soll ab März die Reeperbahn und demnächst auch der Hansaplatz überwacht werden. Während sich am erstgenannten Ort die Absurdität dieser Unternehmung förmlich aufdrängt, lässt sich doch die Kameraüberwachung der Reeperbahn auch ohne den plakativen Verweis auf George Orwells Phantasien in seinem Roman "1984" kritisieren.

Das Drehbuch
Ab März 2006 sollen Kameras, ausgestattet mit Schwenk und Zoomfunktion, an 12 Punkten auf der Reeperbahn installiert werden und somit eine flächendeckende Videoüberwachung dieses Bereichs ermöglichen. Die Übertragung erfolgt in die Einsatzzentrale der Polizei. Die Bildqualität soll die Verwendung als Beweismittel vor Gericht gewährleisten. Der "Schutz der Privatsphäre" soll durch sogenannte "private zones", d.h. durch Vorprogrammierung ausgesparte Bereiche, sichergestellt werden.

Die Regieanweisungen
Den rechtlichen Rahmen für die Kameraüberwachung bildet das neue Hamburger Polizeigesetz vom Juni 2005. Damit ist in Hamburg erstmals eine Überwachung öffentlicher Plätze mit dem Ziel der strafrechtlichen Auswertung des Videomaterials möglich.
Die Argumentation der Innenbehörde lässt sich in zwei Stränge teilen. Zum einen die Konstruktion des "gefährlichen Ortes" Reeperbahn, unterfüttert durch die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS), die für den Bereich der Reeperbahn eine besonders hohe Belastung mit Delikten feststellt. Zum anderen ein Komplex, der sich als Standortpolitik zusammenfassen lässt, denn "die Reeperbahn ist eine Visitenkarte Hamburgs, die Sicherheit der Besucher prägt u.a. das Bild der Stadt" (Behörde für Inneres, Aktuelles, Stand 06.09.2005).
Testlauf
Durch die Kameraüberwachung gerät jedeR, der/die sich fortan in dem überwachten Bereich aufhält, in den Blick der Kamera und ist dadurch potentiell verdächtig. Darüber hinaus schränkt die Kameraüberwachung die Freiheitsrechte der/des Einzelnen ein, da die Produktion digitaler Bilder perspektivisch den Einsatz von Software zur Auswertung und weiteren Verwendung des Bildmaterials ermöglicht, wie es auch für die Reeperbahn geplant ist. Das könnte z. B der Abgleich mit biometrischen Daten aus den neuen Reisepässen sein.

Kameras verhindern keine Straftaten. Vor allem in der medial stark präsenten Debatte über Messerstechereien auf St. Pauli wurde die Kameraüberwachung als Gegenmittel diskutiert, während eine Diskussion über die Definition von Kriminalität ausgeblendet wird. Für Großbritannien, wo mittlerweile nicht nur Plätze, sondern gesamte Stadtteile flächendeckend mit Videotechnik überwacht werden, haben Studien festgestellt, dass das erklärte Ziel der Kriminalitätsreduzierung nicht erreicht wird, weil a) über die Kamera selbst im konkreten Fall nicht interveniert werden kann, b) “kriminelle” Handlungen in andere Bereiche verdrängt werden und c) bestimmte Handlungen, wie die aus dem Affekt begangenen, nicht nach Kosten-Nutzen-Kalkülen unternommen werden. Warum aber ist die Videoüberwachung entlang der Argumentation von Kriminalitätsreduzierung und Sicherheitsgefühl weiterhin auf dem Vormarsch, warum wird sie nicht nur von staatlicher Seite durchgesetzt, sondern von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen nachgefragt und eingefordert?

Premiere in zwei Akten
Um das hinter der Kameraüberwachung stehende Konstrukt kritisieren zu können, muss die Ebene der bloßen Argumentation des für und wider der Kameraüberwachung verlassen werden. Den Nutzen der Kameraüberwachung in Frage zu stellen, berührt noch nicht den Kern, denn der Logik der Diskussion folgend, würde die Konsequenz heißen: Mehr Polizei. Die Einführung der Kameraüberwachung bettet sich ein in den Diskurs um die "Innere Sicherheit", der vor allem nach den Anschlägen vom 11.9.2001 in den USA an Präsenz gewonnen hat, begleitet von praktischen Maßnahmen (Gesetzespakete zur Terrorabwehr, die Grundrechte einschränken), die in einem immer stärkeren Maße Sicherheit und Kontrolle zu den Imperativen eines zunehmend weniger auf sozialstaatliche Politik setzenden staatlichen Handelns machen.

1. Akt: Die Mär vom gefährlichen Ort
Eine der Grundbedingungen für die Installation von Kameras auf der Reeperbahn ist die Konstruktion des "gefährlichen Ortes". Laut dem neuen Hamburger Polizeigesetz, besteht die Möglichkeit visueller Überwachung von Orten "soweit an diesen Orten wiederholt Straftaten begangen worden sind und Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dort auch künftig mit der Begehung von Straftaten zu rechnen ist". Damit kann im Prinzip alles als ein gefährlicher Ort definiert werden. Der konstruierte "gefährliche Ort" Reeperbahn erlaubt also räumliche Kontrollmaßnahmen, die die Gesamtheit der sich in diesem Bereich aufhaltenden Menschen in den Blick nehmen, deren Motive dabei völlig egal sind. Dabei entsteht spätestens durch die Kamera selbst bei allen Passanten der Eindruck, dass es sich um einen gefährlichen Ort handeln müsse, andernfalls wäre er ja nicht überwacht. Wo Rauch ist, muss auch Feuer sein. Da das Auge der Kamera zunächst erst einmal alle Menschen gleichermaßen betrifft, jeder/R sich permanent überwacht fühlen muss, ohne zu wissen, was wie aufgezeichnet und ausgewertet werden wird, wird es im Interesse jedes einzelnen Menschen sein, sein Verhalten so zu kontrollieren und zu regulieren, dass es den gesellschaftlichen Normen und Konventionen entspricht. Die Kamerakontrolle führt also letztlich zu einer Selbstkontrolle und Selbstdisziplinierung der Menschen und sie stabilisiert dadurch das, was jeweils als gesellschaftliche Norm angesehen wird. Die Norm oder besser das von ihr Abweichende wird anhand seiner statistischen Häufigkeit definiert. Somit machen die Kameras kriminalisiertes Verhalten erst sichtbar und schaffen Handlungsbedarf. Normgerechtes Verhalten setzt sich durch, gleichzeitig braucht es jedoch ein bestimmtes Maß an kriminalisiertem Verhalten, um sich selbst seiner eigenen Normalität immer wieder zu versichern.

Es geht also um die Inszenierung von Macht, die deutlich macht, dass die rechtlichen Grundlagen nicht ausreichen, um die Bürger zu schützen. In dieser Inszenierung muss Sicherheit von spektakulären Maßnahmen begleitet werden, die zeigen, dass die Regierung in der Lage ist, schnell und effektiv einzugreifen. Kameraüberwachung wird so z.B. als Antwort auf Messerstechereien auf der Reeperbahn legitimiert. Durch diese Art autoritärer technischer Lösung sozialer Probleme kann der Senat vordergründig Handlungsfähigkeit demonstrieren. Auch wenn das Auge der Kamera alle trifft, so geht es doch vornehmlich darum, ein standardisiertes Verhalten zu provozieren und bestimmte Verhaltensweisen, die als unangepasst oder kriminell qualifiziert werden, zu stigmatisieren und letztlich auszuschließen. Die Kameraüberwachung zielt also letztlich darauf ab, bestimmte Gruppen, die als störend, gefährlich oder problematisch für die herrschende Ordnung gelten, aus dem Feld der Sichtbarkeit und letztlich dem öffentlichen Raum auszuschließen. Der kameraüberwachte Raum ist also kein öffentlicher Raum mehr, zu dem alle Zugang haben, sondern er ist ein Raum, für den bestimmte Zugangsregeln gelten, die diejenigen definieren, welche die Mittel und die Macht dazu haben. In diesem Fall der Hamburger Senat und die gesellschaftlichen Klassen, die er repräsentiert. Die Verdrängung bestimmter Gruppen aus dem öffentlichen Raum ist Teil einer Strategie der sozialen Spaltung, wie sie vom Senat in dem Konzept der "wachsenden Stadt" vorangetrieben wird.

2. Akt: Standortpolitik - "Hamburg heisst Investoren willkommen"
Nicht nur für die WM versucht der Senat, das Image der Stadt aufzupolieren, schon länger wird mit dem Konzept der wachsenden Stadt geworben. Hamburg empfiehlt sich darin als Metropole in allen Bereichen und buhlt vorrangig um das Interesse privater Investoren. Betrieben wird eine neoliberale Wirtschaftspolitik, die einhergeht mit einem "mehr" an Freiheit im Bereich der Wirtschaft, gleichzeitig jedoch Freiheiten einschränkt, um "Gefahren" zu minimieren. In diesem Zusammenhang ist auch der jüngste Vorstoß der Handelskammer zu sehen, der ähnlich wie Innensenator Nagel einige Wochen zuvor, erneut ein Bettlerverbot für die Innenstadt fordert. Die Stadt wirbt mit dem Kiez als einem Anziehungspunkt für Touristen. Und schon bald soll der Kiez noch attraktiver werden: Denn der beliebte Spielbudenplatz wird neu gestaltet. Um weiterhin kulturell anziehend zu sein, setzen sich die Politiker für hochkarätige Kulturveranstaltungen ein, die auch international wahrgenommen werden. Durch neue Bauprojekte wie z.B. das Brauquartier soll die Attraktivität noch gesteigert werden.
Gleichzeitig sollen Unsicherheitsfaktoren minimiert werden. Im Konzept zur wachsenden Stadt rühmt sich Hamburg als "sichere Metropole", die vor allem diejenigen anziehen will, welche die Sicherstellung ihres Lebensstandards gewährleistet sehen wollen: potente Investoren und wohlhabende Haushalte. Hinter der Attraktivitätssteigerung des Standorts Hamburg steht also eine Politik der sozialen Spaltung, die als gemeinsamen Kitt, der die auseinanderfallende Gesellschaft zusammenhalten soll, auf das Ticket Sicherheit (= Schutz vor Kriminalität) setzt.

Unhappy End: Sicherheitsgesellschaft
Mitte der achtziger Jahre riefen zahlreiche soziale Bewegungen und politische Gruppierungen zu einem Boykott der anberaumten Volkszählung auf. Damals wurde insbesondere kritisiert, dass die Ausführlichkeit der Fragen in den entsprechenden Volkszählungsbögen bei ihrer Beantwortung Rückschlüsse auf die Identität der Befragten zulasse und somit den Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung unterlaufe. Dahinter stand die Angst vor einem so genannten Gläsernen Bürger, teilweise wurde die Volkszählung aber bereits als Schritt in Richtung Überwachungsstaat gesehen.
Eine solche Kampagne unter Beteiligung relevanter Anteile der Bevölkerung scheint heute - also knapp 20 Jahre später - völlig unvorstellbar. In den achtziger Jahren waren die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen noch geprägt von den Errungenschaften des Sozialstaats in der Bundesrepublik, das Bedürfnis nach Sicherheit manifestierte sich in der Verteidigung des Rechts und der Freiheit nach informationeller Selbstbestbestimmung. Heute manifestiert sich das Gefühl von Sicherheit im genauen Gegenteil, nämlich dem Bedürfnis nach verstärkter Kontrolle.
Die permanente Anwesenheit von "Unsicherheitsfaktoren", z.B. die Angst vor sozialem Abstieg, ist ein integraler Bestandteil der neoliberalen Vergesellschaftungsform und schürt das Bedürfnis nach Sicherheit in einer scheinbar zunehmend unsicherer werdenden Umwelt.
Dabei vermittelt sich Sicherheit zum einen zunehmend technologisch durch die permanente Ortbarkeit von Handys, durch Überwachungskameras in U-Bahnen, auf Bahnhöfen, an "gefährlichen Orten", und vieles mehr. Zum anderen wird ein Gefühl der Unsicherheit von den Medien populistisch geschürt.

Gegen zunehmende Überwachung und Kontrollwahn!
Massenhafte Heimlichkeit! Wir haben was zu verbergen!

little sister Aktionsbündnis gegen
Kontrolle und Videoüberwachung
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Ergänzungen

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leipziger kamera 30.03.2006 - 18:05
Wir in Leipzig feiern gerade 10 Jahre polizeiliche Videoüberwachung in Leipzig und wir sagen "10 Jahre sind genug!"

Aktuell veranstalten wir eine VFilm- & Vortragsreihe:

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[DEL]+[CTRL] - Filme und Vorträge zum Thema Videoüberwachung,
Stadtraum und Protest, 29.-31. März
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Im Rahmen der Kampagne "10 Jahre sind genug! Schluss mit der
polizeilichen Videoüberwachung öffentlicher Plätze" präsentieren wir vom
29. bis zum 31. März in der Cinémathèque in der naTo
(Karl-Liebknecht-Straße 48) Filme und Vorträge zum Thema
Videoüberwachung, Stadtraum und Protest.

genaues unter www.leipzigerkamera.twoday.net

Der letzte Abend ist genau diesem Thema gewidmet: Wie kann man dagegen protestieren?

(Videokamerastadtplan von Leipzig unter www.leipziger-kamera.cjb.net)

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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fotos? — über-wacher (guten morgen)

an egal — (muss ausgefüllt werden)

@egal — o-o

Unterschätzt — wachsam