Worum geht der Streik im Öffentlichen Dienst?

Wal Buchenberg 16.03.2006 14:46 Themen: Soziale Kämpfe
Heute befinden sich laut ver.di 32.000 Beschäftigte in elf Bundesländern im Streik. Neben den seit über fünf Wochen streikenden Arbeitern und Angestellten auf Kommunal- und Landesebene werden nun auch die Ärzte an den Universitätskliniken und Landeskrankenhäusern in Streik treten. Wie der Marburger Bund als Interessenvertreter der Ärzte mitteilte, hatten bei einer bundesweiten Urabstimmung 98,4 Prozent für den Arbeitskampf gestimmt. Die Ärzte-Streiks sollen heute, am 16. März, starten. Zunächst werden die Universitätskliniken in Freiburg, Heidelberg, München, Würzburg, Essen, Bonn, Mainz und Halle betroffen sein.

Für die streikungewohnte Bundesrepublik sind 30.000 Streikende viel. Berechnet auf die Gesamtzahl der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst sind das deutlich unter einem Prozent. Im Jahr 2003 arbeiteten rund 4,8 Millionen Menschen in Deutschland im öffentlichen Dienst.
1. Was ist der Öffentliche Dienst?


Zum öffentlichen Dienst gehören neben der Arbeit in der Verwaltung, an Schulen und staatlichen Krankenhäusern, vor allem auch Tätigkeiten bei Polizei, Gericht, Gefängnissen und Militär. Zum öffentlichen Dienst im weiteren Sinne gehört auch die Sozialversicherung (Bundesagentur für Arbeit, Deutsche Rentenversicherung, Krankenkassen, Berufsgenossenschaften) sowie die Tätigkeit in öffentlich-rechtlichen Sparkassen. Die Müllabfuhr und Verkehrsbetriebe sind vielfach schon privatisiert.

Bislang galten für den öffentlichen Dienst einheitliche Tarifverträge, der bekannteste ist der Bundesangestelltentarifvertrag (BAT). Seit 1. Oktober 2005 besteht diese Tarifeinheit so nicht weiter. Nunmehr ist für Beschäftigte beim Bund und den Kommunen der Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD) wirksam, für die Bundesländer gilt einstweilen das bisherige Tarifrecht weiter.

2. Trends im ÖD: Stellenabbau, weniger Lohn, längere Arbeitszeit
Wie zuvor in Hamburg wurde inzwischen auch in Niedersachsen eine Einigung zwischen kommunalen Arbeitgebern und der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di im Streit um längere Arbeitszeiten verkündet. Statt wie bisher 38,5 Stunden soll die Wochenarbeitszeit bei 39 Stunden zuzüglich zweier Arbeitstage liegen, was rechnerisch 39,24 Stunden ergibt. Berufsgruppen mit großer körperlicher Belastung sollen davon ausgenommen werden. Ein ähnlicher Abschluss ist für die Kommunen Baden-Württembergs absehbar.

Die derzeitige Auseinandersetzung im Öffentlichen Dienst gegen die unbezahlte Verlängerung der Arbeitszeit hat eine unselige Vorgeschichte. Im Juli 2004 hatte die IG Metall in einem Haustarif mit Siemens vereinbart, dass für 4.000 Lohnarbeiter des Konzerns die Regelarbeitszeit von 35 auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich erhöht wird.Tarifrechtliche Grundlage für dieses schlimme Zugeständnis an die Profitinteressen war ein neuer Manteltarifvertrag in der Metallindustrie, der längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich "zur Verbesserung der Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit" und zur Sicherung der Beschäftigung zulässt.Als die Gewerkschaftsführung sich auf diesen Deal einließ, hatte sie wohl gehofft, dass es sich dabei nur um "Krisenmanagement" handele, und dass es den Lohnarbeitern wieder besser gehe, wenn es den kapitalistischen Betrieben wieder besser gehe. Die Illusionen von den gemeinsamen Interessen von Lohnarbeitern und Kapitalisten gehen zunehmend in die Brüche. Längst machen die Unternehmen wieder gute Profite, trotzdem werden Stellen abgebaut, Lohnkosten gekürzt und Arbeitszeiten ausgedehnt. Die Staatshierarchie folgt nur dem Pfad, den die Kapitalisten vorausgingen: Per Gesetz wurden die Arbeitszeiten für Beamte verlängert. Nun sollen die Arbeiter und Angestellten im Öffentlichen Dienst folgen. Mit dieser Vorgeschichte stehen die Chancen denkbar schlecht, dass die Lohnarbeiter im Öffentlichen Dienst die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen verhindern können - es sei denn, die IG Metall wechselt ihren Kurs und unterstützt durch wirksame Aktionen die Kämpfe der Lohnarbeiter im Öffentlichen Dienst.
Vergleiche dazu bei Indymedia: Arbeitszeit: Zurück ins 19. Jahrhundert?

Während die Gesamtzahl der Lohnarbeiter in Deutschland immer noch steigt, sinkt seit 1991 die Zahl der Lohnarbeiter im Öffentlichen Dienst.

Grafik 01:

Bei sinkender Gesamtzahl steigt jedoch der Anteil der Teilzeitbeschäftigten.

Grafik 02:

Verglichen mit anderen Ländern ist der Anteil der Staatsbediensteten an der Gesamtbevölkerung nicht höher als in den USA und deutlich geringer als in anderen europäischen Ländern.

Grafik 03:

1. Was sind die Triebfedern dieser Entwicklung im ÖD?
Diese Fakten sind alle unbestritten. Über die Ursachen und Triebfedern dieser Entwicklung wird entweder vornehm geschwiegen oder es werden wenig überzeugende Schuldzuweisungen an einzelne Parteien oder einzelne Politiker gemacht.

Ich will im folgenden darstellen, welche ökonomischen Triebfedern hinter dem Stellenabbau, den Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen im Öffentlichen Dienst stehen.

In meiner Untersuchung Politischen Ökonomie des modernen Staates ging ich von folgender Wertzusammensetzung der jährlich in der Bundesrepublik produzierten bzw. geleisteten Waren- und Dienstleistungsmenge aus:

W = 430staat + 760c + 405v + 405m = 2000 Mrd. Euro
(staat = allgemeine Produktionsbedingungen; c = konstantes Kapital/Produktionsmittel, v = variables Kapital/Lohnkosten, m = Mehrwert/Profit);

Die Staatskosten machen in meiner Rechnung nur gut 20 Prozent des BIP aus, weil ich hier bestimmte Ausgaben des Staates auf andere volkswirtschaftliche Posten aufteilte. In den offiziellen Daten des Statistischen Bundesamtes werden mit 958 Mrd. Euro (2000) deutlich höhere Staatsausgaben angegeben.
Um zu verstehen, was Lohnarbeit im Öffentlichen Dienst ökonomisch leistet, kommt es nicht auf absolute Zahlen an. Wir können die ökonomische Rolle der staatlichen Lohnarbeiter ebenso an einer Zahl 430 Mrd. wie an einer Zahl 960 Mrd. aufzeigen.

"Alle öffentlichen Haushalte zusammen wendeten 2000 einen Betrag von 180 Mrd. Euro oder fast ein Fünftel ihrer Ausgaben für das Personal (einschließlich Pensionen) auf." (Statist. Bundesamt)

In meinem Rechenansatz machen 180 Mrd. Lohnkosten 42 Prozent der Staatsausgaben. Diese 180 Mrd. Ausgaben für Lohn produzieren kein Kapital und keinen Mehrwert. Trotzdem werden die Lohnarbeiter im Öffentlichen Dienst ausgebeutet. Das gilt es zu erklären.

Wie K. Marx im "Kapital" aufzeigte, produzieren die Lohnarbeitern in der "freien Wirtschaft", während eines Teils ihres Arbeitstages (oder Arbeitsjahres) nur den Gegenwert für ihren Lohn. Diesen Teil der Arbeitszeit kann man "bezahlte Arbeitszeit" nennen. Einen anderen Teil des Arbeitstags oder Arbeitsjahres produzieren die Lohnarbeiter Mehrwert oder Profit für die Kapitalisten. Dieser Teil ist "unbezahlte Arbeitszeit". Das gesamte Wertprodukt ist Ergebnis der Gesamtarbeitszeit, also die Summe aus v + m.

Nach meinen obigen Schätzzahlen ist das Verhältnis von bezahlter zu unbezahlter Arbeitszeit in der BRD wie 405v zu 405m, also 1 : 1. Die Hälfte der Arbeitszeit arbeiten die Lohnarbeiter "für sich", d.h. für ihren Lohn, die andere Hälfte der Arbeitszeit arbeiten sie unentgeltlich für ihre "Arbeitgeber", die Kapitalisten.

Kommen wir nun zu den Lohnarbeitern im Öffentlichen Dienst: Ihr Lohn bestimmt sich nach den Gesetzen des Arbeitsmarktes. Sie erhalten wie alle Lohnarbeiter mehr oder minder das, was mensch zum Leben in Deutschland braucht. Die Lohnunterschiede erklären sich teils aus unterschiedlichen Qualifikationen (Ausbildungskosten), teils bei den Leitungspositionen ab A 15 auch aus einem "Loyalitäts-" oder "Bestechungsanteil" ähnlich wie bei leitenden Angestellten in der Industrie.

Der Einfachheit halber gehen wir von einem einheitlichen Lohnniveau aus, das sich zwischen Öffentlichem Dienst und Kapitalwirtschaft nicht unterscheidet.
Die Lohnarbeiter im Öffentlichen Dienst erhalten also einen Lohn, dessen Gegenwert in einem halben Arbeitstag geschaffen werden kann. Die andere Hälfte der Arbeitszeit arbeiten Lohnarbeiter im Öffentlichen Dienst kostenlos für ihren Dienstherrn.

Das kann im Kapitalismus auch gar nicht anders sein. Wäre wirklich die gesamte Arbeitszeit bezahlt, dann bliebe kein Mehrwert oder Profit für die Kapitalistenklasse. Ihre Existenzgrundlage wäre verschwunden.

Da sich der Lohn der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst nicht wesentlich vom Lohn der produktiven Lohnarbeiter unterscheidet, teilt sich auch ihr Arbeitstag notwendig in bezahlte und unbezahlte Arbeitszeit.

Dennoch gibt es einen wesentlichen Unterschied. Wie Karl Marx ausführlich klargelegt hat, schaffen Lohnarbeiter im Staatsdienst - in aller Regel - keinen Mehrwert, keinen Profit. Ihre Arbeit nennt Marx "unproduktiv". Sie schaffen weder Wert noch Mehrwert. Oben behauptete ich jedoch, die Lohnarbeiter im Staatsdienst würden "ausgebeutet". Sie werden ausgebeutet, insofern sie unbezahlte Arbeit leisten.

Nehmen wir einmal an, die Lohnarbeiter im Öffentlichen Dienst würden keine unbezahlte Arbeit leisten. Nicht nur ihre halbe Arbeitszeit, sondern ihre gesamte Arbeitszeit sollte bezahlt sein. Das würde die Lohnkosten im Öffentlichen Dienst mit einem Schlag verdoppeln. Ihre Lohnsumme wäre nicht 180, sondern 360 Mrd. Euro.

Diese gestiegenen Kosten, müssten aber aus Steuern, also letztlich aus dem Mehrwert der Kapitalisten bezahlt werden, sofern die produktiven Lohnarbeiter zu verhindern wissen, dass ihre Löhne zur Zahlung der zusätzlichen Steuern entsprechend gesenkt würden.

Die veränderte Jahresrechnung des BIP sähe folgendermaßen aus:

W = 610staat + 760c + 405v + 225m = 2000 Mrd. Euro

Die Gesamtsumme des BIP bliebe unverändert, aber seine Verteilung hätte sich zu ungunsten der Kapitalisten verschoben. Die 180 Mrd. Euro, die die Lohnarbeiter im Öffentlichen Dienst zusätzlich an Lohn in der Tasche hätten, fehlten in den Taschen der Kapitalisten.

Gehen wir vom umgekehrten Fall aus: Angenommen durch Personal- und Lohnabbau im Öffentlichen Dienst sowie durch Verlängerung der Arbeitszeiten sinken die Lohnkosten im Staatsdienst um 17 Prozent oder 30 Mrd. Euro.

Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ändert sich dadurch wie folgt:

W = 400staat + 760c + 405v + 435m = 2000 Mrd. Euro

Die Steuerlast der Kapitalisten würde um 30 Mrd. vermindert, um die gleiche Summe würde ihr Kapital vermehrt.

Die Lohnarbeiter im Öffentlichen Dienst schaffen (mit gewissen Ausnahmen) keinen Wert und Mehrwert, aber durch ihre unbezahlte Arbeit reduzieren sie die Staatskosten für das Kapital. Was die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst weniger verdienen, und was sie an Arbeitszeit länger arbeiten, das vergrößert indirekt die Profitabilität der kapitalistischen Wirtschaft.

Das ist das ganze Geheimnis, warum Regierungen und Unternehmer am gleichen Strang ziehen, wenn es um Senkung der Löhne, Verlängerung der Arbeitszeit und Reduzierung der Stellen im Öffentlichen Dienst geht.

Wal Buchenberg für Indymedia, 16.03.06.
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Ergänzungen

Kapitallektürekurs im ABZ/MLPD

K. Liebknecht 19.03.2006 - 18:51
von Wal Buchenberg.

Für diejenigen, die an den ökonomischen Hintergründen interessiert sind.

 http://www.f27.parsimony.net/forum66069/messages/9758.htm