Kampf gegen Bolkestein-Richtlinie geht weiter

Piero Bernocchi (COBAS) 06.03.2006 19:12 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe
Bereits einen Tag vor Verabschiedung der nur leicht geänderten Bolkestein-Richtlinie durch eine Große Koalition aus Sozialdemokraten (SPE) und Christdemokraten (EVP) im Europa-Parlament machte sich der Sprecher der italienischen Basisgewerkschaft Confederazione COBAS und Veteran der radikalen Linken Roms, Piero Bernocchi, in "Liberazione" vom 15.2.2006 Gedanken über den weiteren Kampf gegen diese "Anthologie des Wirtschaftsliberalismus".
Am 16.Februar 2006 verabschiedete eine Große Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten im Europa-Parlament die leicht überarbeitete Europäische Dienstleistungsrichtlinie, nach ihrem Urheber auch „Bolkestein-Richtlinie“ genannt. (Bei der Bolkestein-Direktive war von Anfang an das sog. „Herkunftslandsprinzip“ Stein des Anstoßes, da es Dumpinglöhnen und Entrechtung aller Lohnabhängigen im Dienstleistungsgewerbe Tür und Tor öffnet.) Zu den Änderungen am ursprünglichen Entwurf jener Großen Koalition aus EVP und SPE schrieb die „junge Welt“ vom 17.2.2006: „Nach dem jetzt verabschiedeten Kompromiß sollen Sozialdienste wie Altenpflege und Gesundheit, die Daseinsvorsorge und Zeitarbeit von der Dienstleistungsfreiheit ausgenommen werden. Berührt ein Dienstleister im Ausland Fragen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie des Umwelt- und des Gesundheitsschutzes, sollen auch weiterhin die nationalen Vorschriften gelten. Fragen der Arbeitszeit und des Schutzes von Mitarbeitern werden weiterhin über die EU-Entsende-Richtlinie geregelt.“
DGB-Chef Sommer betrachtete dies als „politischen Erfolg“ und lag damit ganz auf der Linie der neoliberalen Merkel-Müntefering-Regierung.
Anders der Sprecher der linken italienischen Basisgewerkschaft Confederazione Cobas, Piero Bernocchi (59), der auch eine wichtige Rolle im Europäischen Sozialforum, d.h. in der Antiglobalisierungsbewegung, spielt. In einem Gastbeitrag für die von Rifondazione Comunista herausgegebene Tageszeitung „Liberazione“ vom 15.2.2006 beschäftigte er sich bereits am Tag vor der Abstimmung mit den Perspektiven des weiteren Kampfes gegen die Bolkestein-Richtlinie.

Bolkestein: Trotz des (wahrscheinlichen) „europäischen faulen Kompromisses“ ist die Partie nicht zu Ende

Piero Bernocchi

Wie auch immer die Abstimmung des Europa-Parlaments ausgeht, die Bolkestein-Angelegenheit ist nicht zu Ende. Dass es zum „großen“ europäischen „faulen Kompromiss“ kommt, scheint in der Natur der Sache zu liegen. Und andererseits ist die gesamte Geschichte dieser verheerenden Richtlinie durch eine Interessenidentität der wirtschaftsliberalen Linken und Rechten gekennzeichnet, die (trotz der Opposition bedeutender Branchengewerkschaften) einen Großteil des EGB einbezogen hat, seit sie, während Prodis EU-Kommissions-Präsidentschaft, das Licht der Welt erblickte.

Eine mögliche Verabschiedung muss dem Europäischen Rat und der Europäischen Kommission in einem zeitlichen Rahmen, der mindestens ein Jahr umfassen könnte, zur Prüfung vorgelegt werden. In der Zwischenzeit muss der Druck der Bewegung in dem bisher realisierten einheitlichen Rahmen fortgesetzt (besser: intensiviert) werden und das nicht nur in Richtung der europäischen Institutionen, sondern auch indem die nationalen Entscheidungszentren in dieser Sache politisch „angegriffen“ werden. Eine mögliche Regierung Prodi ((in Italien nach den Wahlen am 9./10. April 2006)) (der bislang, weder nach der großen italienischen Anti-Bolkestein-Demonstration ((Mitte Oktober 2005)) noch in den letzten Tagen Anzeichen von Einsicht zeigte) sollte sich einem sehr starken und einheitlichen Druck der Massen gegenüber sehen, damit Italien, mit Hilfe einer Regelung, die die Anwendung auf alle öffentlichen Dienste und die Strukturen ausschließt, die von öffentlichem Nutzen sind, eine Art „Anti-Bolkestein-Damm“ errichtet. Auch wenn ein derartiger Kurswechsel seitens der Mehrheit der Mitte-Linken (wenn sie denn als Siegerin aus den Wahlen hervorgeht) im Augenblick wirklich unwahrscheinlich erscheint, darf die große Zunahme des Bewusstseins unter den Massen, das von der weltweiten anti-wirtschaftsliberalen Bewegung bei der Verteidigung der öffentlichen, gesellschaftlichen und Naturgüter bewirkt wurde, nicht unterschätzt werden. Der „Wind des Privaten“ ist sehr viel schwächer geworden und der „öffentliche Wind“ bläst immer stärker. Es geht darum die Schule oder das Gesundheitswesen ebenso zu verteidigen wie sich gegen die Vermarktung des Wassers und der Umwelt oder die Zerstörung des Territoriums durch die „schädlichen großen Bauvorhaben“ von der Hochgeschwindigkeitszugtrasse ((Turin – Lyon)) bis zur Brücke ((über die Meerenge von Messina)) zu wehren.

Es darf nicht vergessen werden, dass gerade das konstante Anwachsen dieses neuen Sinns für das „Öffentliche“ und die gemeinsamen gesellschaftlichen und Naturgüter, der seit Seattle ((1999)) durch das Agieren der Bewegung gegen die wirtschaftsliberale Globalisierung entstanden ist, die wirtschaftsliberale europäische Politikerschicht dazu veranlasst hat, den Versuch zu unternehmen die Verteidigungsanlagen gegen den Freihandel durch eine Art pragmatisches Manifest (eine wahre Anthologie) des Freihandels / Wirtschaftsliberalismus, wie die Bolkestein-Richtlinie, zu durchbrechen. Sie ist Teil des breiten, internationalen Rahmens eines gesetzlichen Abbaus von Rechten und Garantien der Arbeit und der öffentlichen Dienste, die sich über die Pfeiler der totalen Vermarktung (der Markt braucht neue Waren und deshalb werden Schule, Gesundheitswesen, Kultur und Information in das Business des 21.Jahrhunderts und das Wasser in das „Erdöl der Zukunft“ verwandelt) und des globalen Dumpings der Arbeit vollzieht. Die Arbeit der „3.Welt“ bricht in die 1.Welt ein, um jede Verteidigung zunichte zu machen, die Kosten zu halbieren und jedwede „Rigidität“ zu beseitigen.

Dieser Abbau hatte sich in Europa bisher allerdings so vollzogen, dass er die Bastionen der Arbeit und der öffentlichen Dienste separat, eine nach der anderen angriff. So gelangte man z.B. zur Verzerrung der Arbeitszeiten, aber auch zur brutalsten und totalsten Deregulierung der Arbeit, die in der Schifffahrt stattfand, wo eine Super-Bolkestein-Richtlinie bereits jede Verteidigung beseitigt hat, indem alle Firmensitze der bedeutenden Schifffahrtsgesellschaften in Länder wie die Caiman Islands verlegt wurden, weil dort das Fehlen jeglicher Arbeitsgesetzgebung heute die Neueinstellung von See-Arbeitern durch „Entnahme“ aus einem der schauerlichen Kataloge erlaubt, in denen man zwischen dem französischen Seemann mit europäischem Arbeitsvertrag (um die 1.300 Euro Monatslohn, Rente, Krankenkasse und Urlaub), dem koreanischen Seemann mit OIL-Vertrag (minimale Renten- und Krankenversicherung, 700-800 Euro Monatslohn und wenigen Urlaubstagen) oder dem kambodschanischen Seemann (keinerlei Versicherungsschutz, 300-400 Euro und sofort kündbar) auswählen kann. Und wie die Wahl (in 70% bis 80% der Fälle) ausfällt, ist vorhersehbar. Das ist der wahre Sinn des Herkunftslandsprinzips: Nicht der sagenumwobene polnische Klempner, der dem Franzosen zum halben Preis den Arbeitsplatz „raubt“, sondern die französische Compagnie, die ihren Firmensitz auf die Caiman Islands verlegt und dann von der französischen Gesetzgebung befreit ist.

Wenn sich die Strategie geändert hat und man zum Versuch eines globalen Blitzkrieges ((im Original deutsch !)) übergegangen ist, dann liegt das mit Sicherheit auch an der Integration der osteuropäischen Länder, die eine goldene Gelegenheit für die Einebnungstätigkeit in Richtung der geringsten öffentlichen und arbeitsrechtlichen Regelungen und Garantien boten. Grundsätzlich liegt es aber an der Notwendigkeit in einer internationalen Situation, in der weder die WTO noch die Tätigkeit des Internationalen Währungsfonds noch die der Weltbank mit der geplanten Geschwindigkeit vorangekommen sind und die erwarteten Erfolge erzielt haben, sondern im Gegenteil, ausgehend von Lateinamerika den wirtschaftsliberalen Rezepten, nicht nur von großen, organisierten gesellschaftlichen Massen, sondern auch von einer Reihe gewiss nicht irrelevanter Staaten, immer stärker entgegengetreten wird, das Tempo zu erhöhen. Von den auf dem Weltforum ((sic!)) von Caracas für 2006 auf internationaler Ebene gestarteten 36 Kampagnen betreffen mehr als die Hälfte die Verteidigung der öffentlichen, gesellschaftlichen und Umweltgüter sowie die Verteidigung der Arbeitsrechte durch die weltweite Ausdehnung von immer umfangreicheren und stärkeren Netzwerken und Aktionen.

Ich glaube, dass – wenn wir den Anti-Bolkestein-Kampf in diesem Rahmen eines weltweiten Konfliktes sehen – es absurd wäre, die Partie als beendet zu betrachten, wenn der „europäische faule Kompromiss“ am Donnerstag ((den 16.2.2006)) einen Punkt zu seinen Gunsten verbuchen sollte.


((Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in doppelten Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover))
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