Schöne neue Welt der Planwirtschaft?

Wal Buchenberg 06.02.2006 12:33 Themen: Freiräume Soziale Kämpfe Weltweit
Zu dem Buch von Paul Cockshott und Allin Cottrell über die Perspektiven einer computergestützten Planwirtschaft.
W. Paul Cockshott und Allin Cottrell: Alternativen aus dem Rechner. Plädoyer für sozialistische Planwirtschaft und direkte Demokratie. PapyRossa Verlag, 2006, ISBN 3-89438-345-3; 18 Euro.


Ich zitiere im folgenden die "Planwirtschaft" von Cockshott/Cottrell anhand der Zusammenfassung von Dunkhase und Feuerstein in der "Jungen Welt" vom 10. Januar 2006. Da die "Junge Welt" Internetlinks nur noch eine begrenzte Zeit vorhält, habe ich den vollständigen Artikel als Quellenanhang einkopiert. Ich rechne dafür mit dem Einverständnis der Redaktion.

Vorneweg eine Entschuldigung dafür, dass ich über diesen wichtigen Text nicht referieren kann, ohne vorher aus dem Grammatik-Duden zu zitieren.

Im Grammatik-Duden wird darauf hingewiesen, dass in Texten der deutschen Gegenwartssprache zu rund 93% Verben im Aktiv und nur zu rund 7% das Passiv verwendet wird. Da ist es sehr bemerkenswert, dass im vorliegenden Text über unsere (hoffentlich) schönere Zukunft im Sozialismus/Kommunismus durchweg und fast ohne Ausnahme das Passiv verwendet wird, bzw. es wird nur über Sachverhalte ohne menschliches Tun gesprochen.

Im Duden heißt es dazu: Beim Aktiv handelt es sich um die "Blickrichtung, die den Träger ('Täter'), den Urheber des Geschehens zum Ausgangspunkt macht...". Wer in Texten über die künftige Gesellschaft im Aktiv spricht, muss eben die Urheber und Träger des Geschehens nennen. Anders beim Passiv. Der Duden schreibt: "Das Passiv muss deshalb ... als eine Sehweise betrachtet werden, die der des Aktivs entgegengesetzt ist. Kann man diesen als 'täterzugewandt' charakterisieren, so jenes als 'täterabgewandt'." (Grammatik-Duden, 2.3.3 Das Genus verbi: Aktiv und Passiv).

Der vorliegende Text über die Planwirtschaft nennt zwar Sachverhalte und ihre Abhängigkeiten, aber niemals Menschen, die etwas aktiv tun. Wir haben es bei dem vorliegenden Text um eine 'täterabgewandte' Beschreibung des Sozialismus zu tun. Es werden die Aktiven, die Träger des Geschehens nicht genannt - entweder weil man die Urheber des Geschehens nicht kennt und nicht nennen kann (so wird das Passiv meist in Berichten über Verbrechen benutzt) oder weil man die Urheber kennt, aber aus irgendwelchen Gründen nicht nennen will. Wir werden sehen, welches von beidem hier zutrifft.

Da ich der Überzeugung bin, dass eine künftige bessere Gesellschaft und Wirtschaft nur auf der selbstbestimmten Aktivität aller Menschen beruhen kann, habe ich nach bestem Wissen und Gewissen zu jedem Textzitat der "Planwirtschaft" die passenden Akteure genannt, die in dem Planwirtschaftstext nicht genannt werden. Falls ich mich in dem einen oder anderen aktiven Urheber geirrt habe, so möge man diesen Irrtum richtig stellen.

Zitate von Dunkhase/Feuerstein steht in Normal.
Meine Ergänzungen des jeweiligen Täterkreisesstehen in Kursiv.
Die Reihenfolge der Zitate folgt nicht der Abfolge des Artikels, sondern der inneren Logik des Wirtschaftens in dieser Planwirtschaft.

1)Es beginnt alles mit Vermessung.
Dunkhase/Feuerstein:

"Arbeitswertlehre ... bedeutet, auf der Grundlage der in den Produkten - wozu auch die Qualifikation der Produzenten gehören - die Ökonomie zu vermessen; oder: die ökonomische Verflechtung, die gesellschaftliche Planung insgesamt, Haushaltsbilanzierung und Konsumtion mit Arbeitszeitrechnung zu erfassen. ...
Das 'proportionierte Maß' wird direkt, durch Berechnung der in den Produktionen enthaltenen Arbeitszeitquanten bestimmt."
Alpha-Aktive:
Alpha-Aktive "vermessen"und "erfassen". Alpha-Aktive bestimmen und definieren das "proportionierte Maß".
Beta-Aktive:
Beta-Aktive werden "vermessen"und "erfasst".
Die Qualifikationder Beta-Aktiven geht als Faktor in die Berechnungen der Alpha-Aktiven ein.

2)Manche brauchen ein "technisch-wissenschaftliches Rüstzeug".

Dunkhase/Feuerstein:

"Das technisch-wissenschaftliche Rüstzeug besteht zum einen in der Input-Output-Analyse..."
Alpha-Aktive:
Alpha-Aktive verfügen über ein "technisch-wissenschaftliches Rüstzeug"
Beta-Aktive:
Beta-Aktiven fehlt dieses "technisch-wissenschaftliche Rüstzeug".

3)Die Daten werden in Computer eingegeben.
Dunkhase/Feuerstein:

"in multidimensionalen Verfahren stehen nahezu alle physikalischen Parameter (z.B. Zeit, Gewicht, Volumen, usw.) zur Verfügung. Diese werden in ein sogenanntes Zielsystem eingebunden und gewichtet."
Alpha-Aktive:
Alpha-Aktive gewichten die Produktionsparameter.
Beta-Aktive:
Die Arbeitszeit der Beta-Aktive geht als "physikalischer Parameter" in die Planungen der Alpha-Aktive ein. Die Arbeit der Beta-aktiven ist ein Rechenfaktor für die Alpha-Aktiven.

4)Glück ist Planübererfüllung.
Dunkhase/Feuerstein:

"Harmonie" (Glück) ist, "wenn die Outputgröße des Endprodukts über das Planziel hinaus anwächst". Fehlen von "Harmonie" (Glück) ist, "wenn das Planziel unterboten wird."
Alpha-Aktive:

Alpha-Aktive sind die Definierer von "Glück" Glück ist abhängig von der Produktionsmenge: Hohe Produktion ist Glück, niedrige Produktion ist Unglück.
Beta-Aktive:
Beta-Aktive sind die Glückslieferanten der Alpha-Aktive: Sie produzieren Glück für die Alpha-Aktive, indem sie möglichst viel produzieren.

5)
Informationsquellen
Dunkhase/Feuerstein:

"Auch kann von fehlenden Daten nicht mehr die Rede sein. Sie sind in den einzelnen Unternehmen vorhanden. ... die Produktkodierung ist so weit voran geschritten, dass jede Schraube eines Flugzeugs auf ihre Herkunft zurückverfolgt werden kann."
Alpha-Aktive:
Alpha-Aktive beziehen ihre Informationen aus dem Datenfluss der Produktion und der Produkte. Alpha-Aktive arbeiten als gesellschaftsweite Controller.
Beta-Aktive:
Beta-Aktive liefern nebenher durch ihre Arbeit alle Daten, die zur Steuerung der Abläufe nötig sind. Beta-Aktive werden in ihrer Arbeit überwacht und kontrolliert.

6)Datenmengen
Dunkhase/Feuerstein:

"Mit heutiger Rechengeschwindigkeiten bestehen praktisch keine Beschränkungen mehr; mit der Folge, dass komplexe Projektentscheidungen ... mit mehrdimensionalen Planungsverfahren realisiert werden."
Alpha-Aktive:
Alpha-Aktive planen und treffen computergestützte komplexe Projektentscheidungen.
Beta-Aktive:
Beta-Aktive werden verplant und führen die Entscheidungen der Alpha-Aktive aus.

7) Planänderungen finden ständig statt.

Dunkhase/Feuerstein:

"...dadurch, dass die Rechenzeit für einen Plandurchgang nur einige Minuten beträgt, kann praktisch permanent auf Änderungen reagiert ... werden".
Alpha-Aktive:
Alpha-Aktive reagieren ständig auf Änderungen und geben neue Daten in die Computer ein.
Beta-Aktive:
Beta-Aktive bekommen ständig geänderte Daten als geänderte Aufträge mitgeteilt.

8)Zwangslagen kommen vor.

Dunkhase/Feuerstein:

"Dramatischer ist der Fall, dass unter einem kurzfristigen Zwang der Planausgleich hergestellt werden muss."
Alpha-Aktive:
Alpha-Aktive stellen eine "Zwangslage" fest und stellen einen Planausgleich her.
Beta-Aktive:
Beta-Aktive stecken in einer Zwangslage und warten auf Entscheidungen der Alpha-Aktiven.

9)Alles ist demokratisch.
Dunkhase/Feuerstein:

"Wer letztlich wie viel zu sagen hat, muss deutlich benannt werden, geht mathematisch in die Gesamtberechnung ein ... solche transparenten Planungsverfahren sind ihrem Wesen nach demokratisch."
Alpha-Aktive:
Alpha-Aktive benennen deutlich, wer letztlich wie viel zu sagen hat und geben das in die Gesamtberechnung ein. Alpha-Aktive nennen das "Demokratie".
Beta-Aktive:
Beta-Aktive haben letztlich nichts zu sagen. Das ist Demokratie.

10)
Belohnung
Dunkhase/Feuerstein:

Nach dem "Vorschlag von Marx in der 'Kritik des Gothaer Programms' ... , wonach der einzelne Arbeiter über das Quantum gesellschaftlicher Arbeit, das er verausgabt hat, von der Gesellschaft eine Bescheinigung, eine Arbeitsmarke erhält, die ihn berechtigt, dem gesellschaftlichen Vorrat an Konsumtionsmitteln diejenige Menge zu entnehmen, die gerade dem verausgabten Arbeitsquantum entspricht ... minus der Abzüge für Akkumulation, soziale Versorgung, usw."
Alpha-Aktive:
Alpha-Aktive bestimmen über die Aufteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts in Akkumulation, soziale Versorgung und privater Konsum
Beta-Aktive:
Beta-Aktive erhalten einen Gegenwert für ihre geleistete Arbeit (privater Konsum), nachdem von ihrer Arbeitsleistung Abzüge gemacht wurden für Akkumulation und soziale Versorgung. Sie bestimmen nicht über Höhe dieser Abzüge und nicht über die gesellschaftliche Verteilung des Gesamtprodukts.

11) Was ist neu an dieser Planwirtschaft?
Dunkhase/Feuerstein:

"Input-Output-Analyse als solche ist ... überhaupt nichts Neues, neu ist nur die Anwendung auf Arbeitszeiten und die gesamte Volkswirtschaft."
Für Alpha- und Beta-Aktive:
Die Effektivitäts-Logik der kapitalistischen Fabrik wird auf die Gesamtwirtschaft übertragen. Die Gesellschaft wird organisiert nach dem Muster der kapitalistischen Fabrik.

12) Kooperation wird erzwungen

Dunkhase/Feuerstein:

"Zum Plan gehören untrennbar abhängig voneinander produzierende Produzenten, der Zusammenhang durch Kooperation gestiftet wird."
"Der Plan setzt ... durch Kooperation miteinander verbundene, voneinander abhängige Produzenten voraus."
Für Alpha- und Beta-Aktive:
Die Kooperation der Produzenten geschieht nicht selbstbestimmt, sondern fremdbestimmt, über angeblich wissenschaftlich festgestellte "Sachzwänge".

13) Resümee
Dunkhase/Feuerstein:

"Es lohnt sich also - auch und gerade bei uns - für politische Machtverhältnisse zu kämpfen, die Konzepte wie die hier dargelegten umzusetzen erlauben."
Alpha-Aktive:
Das Resümee von Dunkhase/Feuerstein ist das Resümee für Alpha-Menschen. In dieser Planwirtschaft bestimmen und entscheiden die Alpha-Menschen alles und sind dafür von schmutziger und schwerer (Hand)Arbeit befreit..
Beta-Aktive:
Resümee für Beta-Menschen: Für sie ändert sich so gut wie nichts. Sie werden als Lohnarbeiter in der kapitalistischen Wirtschaft bevormundet und kontrolliert und werden im Planungssozialismus von Cockshott/Cottrell als "Produktionsfaktor" bevormundet und kontrolliert. Sie sind heute Produktionsinstrumente für die Kapitalisten. In dieser Planwirtschaft sind sie Produktionsinstrumente für Alpha-Menschen. Als heutige Lohnarbeiter und künftige Beta-Menschen haben sie keinen Grund, für die Beseitigung ihrer Lohnarbeitersituation zu kämpfen, um dann Beta-Menschen zu sein.

Wal Buchenberg für Indymedia, 06.02.2006.


Quellenanhang aus der "Jungen Welt":
Planwirtschaft - auf der Höhe der Zeit

Der Einsatz moderner Computertechnologie und Steuerungsverfahren eröffnet neue Möglichkeiten für sozialistische Planung
Helmut Dunkhase / Dieter Feuerstein

Markt und Plan bilden einen Antagonismus. Zum Markt gehören untrennbar privat und unabhängig voneinander produzierende Produzenten, deren Zusammenhang durch den Tausch gestiftet wird. Der Tausch ist verbunden mit einem Besitzerwechsel, und in seiner Realisierung nehmen die Produkte die Form einer Ware an. Die gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeitquanten für die Produkte bestimmen sich im nachhinein, gewaltsam. Das besorgt das hinter dem Rücken der Agierenden wirkende Wertgesetz.

Die komplementäre Aussage dazu: Zum Plan gehören untrennbar abhängig voneinander produzierende Produzenten, deren Zusammenhang durch Kooperation gestiftet wird. Die Kooperation ist nicht mit einem Besitzerwechsel verbunden, und in Kooperation erzeugte Produkte nehmen nicht die Form einer Ware an. Die gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeitquanten stehen von vornherein fest.

Planung im Realsozialismus

Mit den ersten Fünfjahrplänen und dem Pioniergeist der Stalinzeit wurden gewaltige Erfolge erzielt. Doch mit zunehmender Differenzierung der Volkswirtschaft reichte eine vom Bruttooutput ausgehende Planung nicht mehr aus. Es musste nach Wegen gesucht werden, die eine rationellere Verteilung der Ressourcen und eine objektive Bewertung ökonomischer Vorgänge gewährleisteten. Bahnbrechend in dieser Hinsicht waren die Arbeiten des Mathematikers Leonid Witaljewitsch Kantorowitsch, die 1938 ihren Ausgang nahmen mit der praktischen Problemstellung, das beste Produktionsprogramm für die Auslastung von Schälmaschinen einer Leningrader Furnierholzfabrik zu finden und einen neuen Zweig der Mathematik begründeten: die lineare Optimierung. Damit war der Typus einer Aufgabe gegeben, die »selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind«. (MEW 13, S. 9) Die wissenschaftliche Behandlung der Frage, wie »optimaler Gebrauch von ökonomischen Ressourcen«1 gemacht wird, stellt sich in einer Produktionsweise, in der der Blick immer auf das Ganze der Volkswirtschaft gerichtet ist, eher, dringlicher und vor allem umfassender als in einer Gesellschaft, in der das Verfolgen partikularer Interessen im Mittelpunkt steht. Während die sowjetische Wissenschaft - im wahrsten Sinne des Wortes - auf der Höhe der Zeit war und Weltmaßstäbe setzte, galt dies weniger für den politisch-ideologischen Bereich. Neue Planungsideen hatten mit Widerständen zu kämpfen, und noch die Kybernetik wurde anfangs als »bürgerliche Wissenschaft« denunziert. So kam es, daß in den Elfenbeintürmen der wissenschaftlichen Institute wunderbare Modelle ausgebrütet wurden, während andererseits noch auf dem XXI. Parteitag (1959) die schädlichen ökonomischen Auswirkungen der weiterhin verbreiteten »Tonnenideologie« offenbar wurden. Lösungsversuche gingen in die falsche Richtung: Die Liberman-Reformen in den 1960er Jahren setzten auf die Autonomie der Einzelbetriebe und deren Profite als entscheidende Kennziffer.

Es gab aber auch objektive Gründe dafür, daß die wissenschaftliche Beherrschung der Planwirtschaft nur rudimentär wirksam werden konnte. Lineare Optimierung, die durchgängig ins Auge gefaßte Methode, um zu einer effektiveren Planung zu gelangen, zeitigte sicherlich bedeutende Erfolge bei der Materialausnutzung auf betrieblicher Ebene oder bei bestimmten Aspekten der volkswirtschaftlichen Planung wie der Optimierung von Transportwegen. Aber die Anforderungen an die Industrieplanung einer gesamten Volkswirtschaft kontrastierten nicht nur mit der damals vorhandenen rechentechnischen Basis (und wurden auf dieser Ebene auch nicht ins Auge gefaßt), sondern auch mit der durch die Komplexität (im präzisen algorithmischen Wortsinn) gesetzten objektiven Grenzen. Hinzu kam noch das Problem des Mangels bzw. der schlechten Qualität von Daten.2

Es ist davon auszugehen, daß die beschriebenen Probleme der Planrealisierung die Diskussionen über Warenproduktion im Sozialismus/Kommunismus befördert haben. Marx hat bekanntlich große Mühen darauf verwendet, die historische Begrenztheit der Wertform zu zeigen, und es gibt wohl nur eine einzige Stelle, in der Marx von Wert - genauer: Wertbestimmung, nicht Wertform! - im Zusammenhang einer kommunistischen Gesellschaft spricht. (MEW 25, S. 859) Hatte Stalin 1952 noch auf dem Übergangscharakter der Warenproduktion beharrt und darauf verwiesen, daß ihre Aufhebung eigentlich nur an den unterschiedlichen Eigentumsformen in Industrie und Landwirtschaft hapere3, sprach Ulbricht vom Sozialismus als einer »relativ selbständigen sozialökonomischen Formation«, in der »Warenproduktion, Wertgesetz, Preis und Gewinn (...) auf ihrer eigenen Grundlage« wirken.4 Die Notwendigkeit der Warenproduktion im Sozialismus wurde nicht mehr abgeleitet aus der Existenz verschiedener Eigentumsformen, sondern aus dem Stand der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, dem Charakter der Arbeit und dem Entwicklungsstand des gesellschaftlichen Bewußtseins.5 Das Wertgesetz wurde quasi offiziell zu einem Gesetz des Sozialismus erklärt.6 Damit gerät man aber in ein Dilemma, wenn man gleichzeitig vom Plan nicht lassen will. Denn das Wirken des Wertgesetzes ist untrennbar verbunden mit der Existenz unabhängig voneinander produzierender Produzenten, deren Produkte im Tausch auf dem Markt gesellschaftlich bewertet werden, während der Plan im Gegensatz dazu durch Kooperation miteinander verbundene, voneinander abhängige Produzenten voraussetzt. Je mehr Plan, desto weniger Wertgesetz und umgekehrt. Dieses Dilemma zeigt sich am deutlichsten in der Festlegung von Preisen. Über absurde Preisrelationen gab es bekanntlich viele Geschichten zu erzählen. Versuche, wie etwa - im Zusammenhang des »Neuen Ökonomischen Systems« - einen neuartigen »sozialistischen Preistyp«7 zu definieren, führten nicht weiter. Nachdem zunächst mehrmals hin- und hergesprungen wird in der Versicherung, daß der Preis den Wert zur Grundlage habe, andererseits aber auch planmäßig zustande käme, ohne daß in irgendeiner Weise auf den Punkt gebracht wird, wie der Preis denn nun bestimmt wird, wird schließlich ein »Prozeß der Annäherung des Preises an den Wert« beschrieben, der auf den guten, alten Kostpreis hinausläuft - nur daß man ihn in der Planwirtschaft nicht bestimmen kann! Dieser gedankliche Wirrwarr ist nur als eine Folge des unbegriffenen Antagonismus von Plan und Markt zu erklären und trug dazu bei, daß sich so weder die (zerstörerische) Dynamik einer kapitalistischen Marktwirtschaft wiederherstellen noch sich die Vorzüge einer sozialistischen Planwirtschaft entfalten konnten.

Arbeitszeitrechnung

Man muß sich entscheiden: Entweder der Preis wird durch das Wertgesetz bestimmt, dann braucht man unabhängige Produzenten und einen freien Markt; oder aber - wenn man sich für den Plan entscheidet - durch direkte Messung des gesellschaftlichen Aufwands. Dazu kommt nur die Arbeitszeitrechnung in Frage. Paul Cockshott und Allin Cottrell haben in ihrem Buch »Alternativen aus dem Rechner. Plädoyer für sozialistische Planung und direkte Demokratie« gezeigt, daß dies heute möglich ist. Ihr Ansatzpunkt geht auf einen Vorschlag von Marx in der »Kritik des Gothaer Programms« zurück, wonach der einzelne Arbeiter über das Quantum gesellschaftlicher Arbeit, das er verausgabt hat, von der Gesellschaft eine Bescheinigung, eine Arbeitsmarke, erhält, die ihn berechtigt, dem gesellschaftlichen Vorrat an Konsumtionsmitteln diejenige Menge zu entnehmen, die gerade dem verausgabten Arbeitsquantum entspricht. Die Summe der ausgegebenen Arbeitsmarken muß der insgesamt verausgabten lebendigen Arbeit entsprechen - minus der Abzüge für Akkumulation, soziale Versorgung, usw. Arbeitsmarken sind kein Geld, sondern eher vergleichbar mit Theaterkarten. Wenn sie benutzt werden, verfallen sie. Sie zirkulieren nicht und können nicht so etwas wie Kapital bilden.

Anwendung der Marxschen Arbeitswerttheorie auf den Kommunismus bedeutet, auf der Grundlage der in den Produkten - wozu auch auch die Qualifikationen der Produzenten gehören - enthaltenen Arbeitszeitquanten die Ökonomie zu vermessen; oder: die ökonomische Verflechtung, die gesellschaftliche Planung insgesamt, Haushaltsbilanzierung und Konsumtion mit Arbeitszeitrechnung zu erfassen. Das Regime der abstrakten Arbeit bleibt in dieser Ökonomie bestehen. Die Wertform der Produkte, der eine warenproduzierende Gesellschaft bedarf, um das »proportionierte Maß« zu finden, in der sich die Produkte austauschen, verschwindet jedoch. Das »proportionierte Maß« wird direkt, durch Berechnung der in den Produkten enthaltenen Arbeitszeitquanten bestimmt.

Das technisch-wissenschaftliche Rüstzeug besteht zum einen in der Input-Output-Analyse. Die Input-Output-Analyse ist eine Methode, die Reproduktion eines ökonomischen Systems zu beschreiben, die von Wassily Leontiew in Vorbereitung des ersten Fünfjahrplans begründet wurde. Das sind Tafeln, aus denen die ökonomische Verflechtung hervorgeht. In den Zeilen lassen sich die Outputs ablesen, die eine bestimmte Industrie an andere liefert, und in den Spalten stehen dann entsprechend die Inputs, die eine Industrie von den anderen erhält. Wenn die sogenannten technischen Koeffizienten aij, die den Anteil des physischen Inputs von Sektor i in Sektor j am (physischen) Bruttooutput des Sektors j ausdrücken, bekannt sind, können die detaillierten Anforderungen an einen konsistenten Plan berechnet werden. Input-Output-Analyse als solche ist also überhaupt nichts Neues, neu ist nur die Anwendung auf Arbeitszeiten und die gesamte Volkswirtschaft.

Zum anderen besteht das technisch-wissenschaftliche Rüstzeug im Einsatz moderner Computertechnologie. Fortschritte in der Hardware der Rechnertechnologie haben Rückwirkungen auf die Entwicklung wissenschaftlicher Verfahren. Insbesondere entstand mit der Algorithmik ein eigenständiger Zweig der Computerwissenschaft. Solange die Berechnung eines Plans Wochen oder Monate dauert, es also um die Bestimmung eines Objekts geht, das für längere Zeit Gültigkeit besitzt, ist das Herangehen als Optimierungsaufgabe wahrscheinlich zwingend. Das von Cockshott und Cottrell vorgeschlagene Verfahren ist »robuster«. Die Arbeitszeitquanten und die detaillierten Anforderungen an einen (nahezu) konsistenten Plan werden durch iterative (d.h. einer sich schrittweise der exakten Lösung annähernden) Auswertung der Input-Output-Tafeln bestimmt. Dieses Verfahren ist zwar genauso statisch wie die lineare Optimierung; aber dadurch, daß die Rechenzeit für einen Plandurchgang nur einige Minuten beträgt, kann praktisch permanent auf Änderungen reagiert und auf diese Weise die Optimierung »ersetzt« werden. Ferner ist ein Algorithmus vorgesehen, der der Tatsache Rechnung trägt, daß die Beschaffung der für die Herstellung des Plangleichgewichts errechneten Größen des Gesamtoutputs den Zwängen eines begrenzten Vorrats an Produktionsmitteln und Arbeitszeit unterliegt.8 Diese werden in dem Maße relevant, wie kurzfristig sie auftreten und der Plan damit abgeändert werden muß. Bei einem hinreichend großen Zeitrahmen bleibt - um der Anforderung von z.B. mehr Elektroenergie zu genügen - letztlich nur der Zwang des begrenzten Vorrats an Arbeitszeit und nicht erneuerbarer Naturressourcen übrig. Dramatischer ist der Fall, daß unter einem kurzfristigen Zwang der Planausgleich hergestellt werden muß. Dafür wird die Technik künstlicher neuronaler Netze angewandt. Ein Nervensystem ist wesentlich zusammengesetzt aus Nervenzellen (den Neuronen), deren Dendriten Eingangsinformationen aufnehmen (Input), den Axonen, die Ausgangssignale an andere Zellen weiterreichen (Output) und den Synapsen, den Kontaktstellen zwischen den Neuronen, in denen die Informationen gespeichert werden. Damit liegt die Analogie zu einer Input-Output-Tabelle auf der Hand, wenn man noch dazu in Erinnerung bringt, daß die technischen Koeffizienten ein Verhältnis zwischen je zwei Industrien ausdrücken. »Lernziel« ist dabei das Erreichen maximaler Harmonie, ausgedrückt durch eine »Harmoniefunktion«, die mathematisch ausdrückt, daß die Harmonie nur wenig ansteigt, wenn die Outputgröße des Endprodukts über das Planziel hinaus anwächst, jedoch stark abfällt, wenn das Planziel unterboten wird.

Damit entfallen heute die Einwände, die Kantorowitsch seinerzeit gegen die Input-Output-Analyse erhob.9 Auch kann von fehlenden Daten nicht mehr die Rede sein. Sie sind in den einzelnen Unternehmen vorhanden. Schon die Organisation der Inputeinkäufe liefern ein Spiegelbild der benutzten Technologien. Software des Herstellers SAP für alle Bereiche von Produktion bis Kundenbetreuung ist heute in Groß- und Mittelbetrieben weit verbreitet, und die Produktkodierung ist so weit voran geschritten, daß jede Schraube eines Flugzeugs auf ihre Herkunft zurückverfolgt werden kann.

Nutzwertanalyse

Eine wichtige Rolle im Vorfeld der detaillierten Reproduktionsberechnung könnte auch die viel zu wenig beachtete, von Christof Zangemeister begründete »Nutzwertanalyse« spielen.10 Dieser sah die Schwächen bisheriger Steuerungs- und Planungsverfahren im wesentlichen in ihrer eindimensionalen Betrachtungsweise und der Reduktion auf »objektive« Parameter. Die Entwicklung und Anwendung von Verfahren mit großen, ja sogar beliebig umfangreichen Dimensionen geht einher mit der Entwicklung der digitalen Revolution. Mit heutiger Rechengeschwindigkeit bestehen praktisch keine Beschränkungen mehr; mit der Folge, daß komplexe Projektentscheidungen - vornehmlich im technisch-wissenschaftlichen Umfeld mit mehrdimensionalen Planungsverfahren realisiert werden.

Konnten früher bei Projektalternativen nur über den Parameter »Kosten« mit der Einheit Geld Aussagen getroffen werden, stehen in multidimensionalen Verfahren nahezu alle physikalischen Parameter (z.B. Zeit, Gewicht, Volumen, usw.) zur Verfügung. Diese werden in ein sogenanntes Zielsystem eingebunden und gewichtet. Bei einer Entscheidung, welche Wohnung wir mieten wollen, gehen wir ähnlich vor: Neben dem Mietpreis haben Parameter wie Wohnfläche oder die Zeit, die wir brauchen, um zur Bushaltestelle zu kommen, ebenso Entscheidungscharakter wie Lärmemission und Sonneneinstrahlwinkel. Machen wir uns einmal grundsätzlich klar, daß wir zwar alle gerne viel Platz hätten, andererseits mit zunehmender Wohnfläche auch die Zeit zum Putzen und die Menge des Heizöls zunimmt, stellen wir schnell fest, daß unser Zielerreichungsgrad im Hinblick auf den Parameter Wohnfläche zunächst steigt, irgendwo sein Maximum erreicht und dann wieder sinkt. Bei der Entfernung zum Arbeitsplatz verhält es sich nicht anders. Wer möchte schon aus der Wohnungstür fallend gleich an der Drehbank stehen? Bei diesem Beispiel wird schnell deutlich, daß wir es hier zwar mit objektiven Größen zu tun haben, die aber individuell sehr unterschiedlich gewichtet sind. Reden bei der Wohnungswahl noch Partner/in, Schwiegervater und Kinder mit, wird unser kleines Beispiel schon komplexer, denn jeder Mitentscheider hat sein eigenes, subjektives Zielsystem.

Wer letztlich wieviel zu sagen hat, muß deutlich benannt werden, geht mathematisch über Gewichtungskoeffizienten in die Gesamtberechnung ein und bietet somit die Voraussetzung für eine demokratische Gestaltung dieser Alternativentscheidung. Immer dann, wenn nicht gerade der Schwiegervater mit giftigem Blick und einer Anspielung auf sein Testament die Sache bestimmt, sind solche transparenten Planungsverfahren ihrem Wesen nach demokratisch.

Zu einer klaren Aussage darüber, in welchem Maß sich die Lebensqualität unserer Beispielfamilie je nach Alternativwohnung verbessert, kommen wir erst dann, wenn wir unser Zielsystem auf den Ist-Zustand in gleicher Weise anwenden, die Zielerreichungsgrade berechnen und vergleichen.

Cockshott - er gehört am 14. Januar 2006 zu den Referenten der Rosa-Luxemburg-Konferenz - und Cottrell sehen es als Tragik an, daß in der Sowjetunion in der Zeit nach dem Krieg, als es neben Skepsis und Widerständen auch eine Offenheit gegenüber Bemühungen gab, mit den fortgeschrittensten wissenschaftlichen Methoden den Planungsprozeß zu vertiefen, die technischen Möglichkeiten tatsächlich sehr begrenzt waren, und als diese technischen Möglichkeiten heranreiften, die Reise immer mehr in Richtung Markt ging und schließlich kein Interesse mehr an einer gesamtgesellschaftlichen, detaillierten Planung da war.

Heute dürfte klar sein, daß nicht nur der Weg in Richtung Markt falsch war, sondern auch, daß es nicht die theoretische Unmöglichkeit einer effektiven Planwirtschaft, sondern »nur« eine Handvoll Shareholder ist, die uns daran hindert, ein gesichertes und befreites Leben für alle zu führen, die Verwirklichung des historisch Möglichen also eine praktische Frage ist. Die Chávez-Regierung in Venezuela hat das erkannt: Das Ministerium für Schwerindustrie ist dabei, das Buch von Cockshott und Cottrell ins Spanische zu übersetzen, und für die dafür erforderlichen Softwareimplementationen wird ein weltweites Open-Source-Projekt ins Leben gerufen. Es lohnt sich also - auch und gerade bei uns - für politische Machtverhältnisse zu kämpfen, die Konzepte wie die hier dargelegten umzusetzen erlauben.

Helmut Dunkhase ist Herausgeber des Buches von W. Paul Cockshott und Allin Cottrell: »Alternativen aus dem Rechner. Plädoyer für sozialistische Planwirtschaft und direkte Demokratie«, PapyRossa Verlag Köln, 2006, 18 Euro, ISBN 3-89438-345-3 (erscheint zur Rosa-Luxemburg-Konferenz am 14.1.2006). Weiteres Material: www.helmutdunkhase.de
Dieter Feuerstein arbeitet als Ingenieur für Luft- und Raumfahrttechnik in München


1 Leonid W. Kantorowitsch, The Best Use of Economic Resources, Oxford (Pergamon Press), 1965, ist die Zusammenfassung der Arbeiten des Autors auf diesem Gebiet seit ihrem Beginn 1938 an der Leningrader Universität

2 ebd. S.139

3 Stalin, Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Berlin/DDR (Dietz Verlag), 1952, S.17

4 Walter Ulbricht, Zum ökonomischen System des Sozialismus in der DDR, Bd.2, Berlin 1968, S.530

5 Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR, Berlin 1969, S.264

6 ebd. S. 390

7 Ebd. S. 391

8 Paul Cockshott, Application of Artificial Intelligence Techniques to Economic Planning, in: Future Computing Systems, Bd. 2, 1990, S.429-443

9 Kantorowitsch bemängelte, daß die Bewertung der Produkte nicht befriedigend gelöst wird (die Berechnung der Arbeitsinhalte der Produkte stand nicht zur Debatte), die Aggregation der Tafeln zu grob sei, um befriedigende Lösungen zu finden und Planbeschränkungen nicht in Betracht gezogen werden könnten (vgl. The Best Use of Economic Resources, a.a.O., S.281)

10 Christof Zangemeister, Nutzwertanalyse in der Systemtechnik, München (Wittmannsche Buchhandlung) 1970.

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Ergänzungen

kein unterschied?

kommischer 08.03.2006 - 18:48
die schlussfolgerung mit dem vergleich der beta-menschen und dem heutigen proletariat ist absoluter müll. sein reduzieren einer situation auf ein paar wenige abstrakte kriterien, welche ziemlich wenig mit der erlebten realität zu tun haben, lässt vor allem die frage aufkommen, woher seine motivation stammt etwas am werk auszusetzen.

mich persönlich interessiert diese frage jedoch genaus so wenig, wie sein urteil aussagekräftig ist.

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