Diaz: Bereitschaftspolizei in Erklärungsnot

Supporteria cognitaria 05.02.2006 11:44 Themen: Repression
Am 25. und 26. Januar schilderten Zeugen im Verfahren gegen 29 Polizisten wegen dem Überfall auf die Diaz Schule im Juli 2001 in Genua erneut den Hergang grausamer Übergriffe. Videomaterial und die Aussagen der gehörten Zeugen brachten den ehemaligen Chef der römischen Bereitschaftspolizei und seinen Vize in arge Erklärungsnot. Die Schläger bleiben im Einzelnen wegen Vermummung nicht identifizierbar, die Truppe als solche aber dürfte sich der eindeutigen Zuordnung zu den gewaltsamen Übergriffen nicht länger entziehen können.
Der Staatsanwalt Zucca, der die Anklage im Verfahren wegen der Diaz-Schule führt, scheint mit bestimmten Einschätzungen, die er vor knapp anderthalb Jahren abgab, voll und ganz Recht zu behalten. In seiner Eingabe zum Antrag auf Klagezulassung hatte er es im Spätsommer 2004 bereits vorausgesagt: "Abgesehen von den Fakten, die sich anhand von zahlreichen Filmdokumenten [...] feststellen lassen, stellen die Angaben der Geschädigten ein verfahrensrelevantes Element dar, das nach wie vor entwicklungsfähig ist, weil allein durch die volle Entfaltung der mündlichen Befragung in der Hauptverhandlung voll zur Geltung kommen wird, wie detailreich eine Rekonstruktion der Ereignisse in der Diaz Schule möglich ist, durch die sich die fehlende Richtigkeit und die absolute Unglaubwürdigkeit jedweder von den Angeklagten abgegeben Erklärung in vollem Umfang erst bewerten lassen wird".

Seit etlichen Wochen stellen sich inzwischen wirklich Menschen im Gerichtssaal ein, die sich in der Nacht vom 21. zum 22. Juli 22 - meist zum Übernachten - in der Diaz-Schule aufhielten und schildern, was ihnen widerfahren ist. Die bisher abgelegten Zeugnisse bestätigen in der Tat nicht nur ein bestimmtes Gesamtbild, sondern etliche Details zu klar umrissenen Phasen und Episoden, die für die Wahrheitsfindung leider nach wie vor von größter Bedeutung sind, weil die Beiträge zur Rekonstruktion des Ablaufs des unseligen Einsatzes von Seiten der Angeklagten und sonstigen Zuständigen ein vielmehr extrem konfuses Bild ergaben. Ganz den einstigen Erkenntnissen des Staatsanwalts entsprechend wirkt dieses angesichts der Zeugenaussagen tatsächlich absolut unglaubwürdig, wenn auch die Verteidiger der Angeklagten mit allen Mitteln versuchen, es als das Richtige zu verteidigen.

Nicht nur die wenigen Journalisten, die sich bemühten, über die Jahre die Entwicklungen im Fall Diaz zu verfolgen deuteten dereinst an, was sich hinter dem Berg widersprüchlicher Angaben der Angeklagten und anderer kraft ihrer beruflichen Position zur Sache befragten Beamten zu verbergen schien. In der Eingabe zum Antrag auf Klagezulassung schrieb der Staatsanwalt Höchstselbst: "Die abgeschlossenen Ermittlungen haben zur Feststellung des Bestehens objektiver Elemente geführt, die es zulassen, dass die Antwort auf die wichtigsten Fragestellungen als angemessen und erschöpfend angesehen werden kann, die gerade wegen der voraussehbaren Reaktion, die darauf abzielte, die Verantwortlichkeiten in der unförmigen Masse zu versenken, dazu verurteilt schienen, ungelöst zu bleiben". Die leider nicht vorhandene gesellschaftliche Kritik würde ganz geradeaus aussprechen, was der Staatsanwalt als einen einfachen Reaktionsmechanismus bezeichnet: die altbewährte Praxis des Täter- und Verantwortlichenschutzes. Wenn schon die kritischen Kräfte so schweigsam waren, kann man einem angesichts des Kontexts insgesamt recht mutigen Staatsanwalts die hochdiplomatische Klassifizierung des Phänomens nicht verübeln.

Zwei grundlegende Fragen bleiben durch verschiedene dem Täter- und Verantwortlichenschutz förderliche Mechanismen trotz der insgesamt vernichtenden Erkenntnisse wie bekannt sehr wohl von vorne herein ungelöst, weil die einzelnen Verursacher von zahlreichen, mitunter lebensgefährlichen Verletzungen, längst nichts mehr zu befürchten haben, da das Verfahren gegen diese mangels Identifizierbarkeit eingestellt wurde und die sicherheits- und innenpolitischen Verantwortlichkeiten grundsätzlich nicht rechtlich hinterfragt wurden oder aber grundsätzlich nicht hinterfragt werden konnten. Was der über die Jahre permanent mit schwersten Unterstellungen konfrontierten und unter hohem Druck arbeitenden ermittelnden Staatsanwaltschaft vom Handlungsspielraum her übrig blieb, dürfte sich aus der im Antrag auf Klagezulassung enthaltenen Feststellung hinlänglich eindeutig ableiten lassen. Diese lautete: "Die Zulassung der Klage gegen die Beschuldigten wurde nicht beantragt, um der Anwendung eines ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn’ Prinzips Gestalt zu geben. Vielmehr wurde versucht, die Verantwortlichkeiten auf eine Weise zu unterscheiden und zu analysieren, wie sie den Opfern des Überfalls auf die Diaz-Schule gewiss nie zuteil wurde", was eine - überaus dezente - Anspielung darauf sein dürfte, dass die - später glücklicherweise frei gesprochenen - Opfer seinerzeit vielmehr völlig pauschal zahlreicher Vergehen bis hin zur Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinung bezichtigt worden waren, während bei den Ermittlungen gegen die Polizei auch nur die geringste Pauschalisierung stets vermieden wurde. Als kleine Randnote lässt sich vermerken, dass jener Antrag auf Klagezulassung am 3. März 2004, einen Tag nach Eröffnung der Hauptverhandlung im Verfahren gegen 25 Protestteilnehmer eingereicht wurde.

Die staatsanwaltliche Analyse- und Unterscheidungsarbeit führte unter anderem dazu, dass die Ermittlungsergebnisse die Schlussfolgerung zur Folge hatten, dass eine bestimmte Einheit für die rabiate Gewaltanwendung verantwortlich gewesen sein muss. So bleibt in dieser und in anderen Fragen der Gang der Geschädigten nach Genua trotz Allem von entscheidender Bedeutung, damit wenigstens strukturelle Verantwortlichkeiten gerichtlich festgestellt werden können. In der vergangenen Woche traf es in dieser Hinsicht massiv den einstigen Chef der römischen Bereitschaftspolizei Vincenzo Canterini und seinen Vize Michelangelo Fournier, weil einige von unterschiedlichen Zeugen mehr als hinlänglich überzeugend geschilderte Details bestätigen, dass die unmittelbare, materielle Gewalt im Wesentlichen von der von diesen angeführten Truppe ausgegangen sein muss, was Canterini selbst aber stets vehement verneint hatte. Die Aussagen verschiedenster Zeugen und auch Videoaufnahmen hatten diesen Verdacht schon in der Ermittlungsphase und dann in den vergangenen Monaten immer wieder bestätigt. Seit dem 21. Und 22. Verhandlungstag dürfte die Zuordnung der besagten Truppe zu bestimmten, sehr gravierenden Vorfällen vor und in der Schule kaum noch zu widerlegen sein, bei denen, wie ebenfalls in den vergangenen Tagen auf recht dramatische Weise deutlich wurde, einige der Opfer nur knapp dem Tode entkommen sind.

Am 25. Januar war die Niederschlagung des britischen freien Journalisten Mark Covell auf offener Straße vor den Schulen, die Gegenstand der polizeilichen Aktion waren, sehr genau rekonstruiert worden; am 26. kam es zur Rekonstruktion von einigen Abläufen im ersten Stock der Diaz-Schule, bei denen gleich mehrere Menschen auf die wildeste Art zusammen geschlagen wurden. Im Fall Mark Covell und im Fall einer jungen Frau, die im ersten Stock der Schule der Polizeigewalt anheim fiel, förderte die Rekonstruktion der Geschehnisse derart extreme Gewaltausmaße zu Tage, dass die von Anwälten der Nebenklage längst vertretene Ansicht, es sei die Annahme versuchten Totschlags zulässig, in den Augen von Beobachtern und Besuchern, die den Zeugenaussagen beiwohnten, gleich zwei Mal hintereinander volle Bestätigung fand. Mark Covell wurde in kurzer Zeit gleich drei Mal hintereinander Opfer brutaler Übergriffe. Dabei wurden ihm acht Rippen und eine Hand gebrochen, ihm wurden Zähne zerschlagen und Verletzungen an der Wirbelsäule zugefügt. Durch einen Schlag auf den Kopf fiel er schließlich ins Koma. 20 Minuten blieb Covell in dem Zustand auf der Straße liegen. Covell schilderte dreieinhalbe Stunden lang sehr detailliert, was ihm angetan wurde. Seine Aussagen wurden durch ein Video zusätzlich untermauert.

M.J. wurde hingegen im Ersten Stock der Diaz-Schule zusammen mit anderen Menschen, die sich dort aufhielten, ähnlich brutal angegriffen. Eine Zeugin, die erlebte, wie M.J. zusammen geschlagen wurde, konnte bei der Schilderung des Übergriffs vor Gericht die Tränen nicht zurückhalten, so dass eine 10-minütige Unterbrechung erforderlich wurde. Auch weitere Zeugen bestätigten die bestialische Gewalt mit der die junge Frau geschlagen wurde, bis das Blut "wie eine Fontäne aus ihrem Kopf spritzte". In einer Pressemittelung des italienischen Rechtshilfenetzwerks "Supportolegale" heißt es: "M.J. erinnert sich eigentlich an fast nichts von dem, was ihr widerfahren ist. Sie erinnert sich, dass sie bei der Ankunft der Polizei in den ersten Stock gestiegen war und wie alle anderen die Hände erhoben hatte. Gleich darauf sah sie dann, wie die Polizisten die Treppe hinaufstiegen. Dann war nichts mehr: 'Ich bin bewusstlos geworden; jetzt leide ich an einer retroaktiven Amnesie'. Sie erwachte nur noch für einen Augenblick, als sie bereits im Krankenwagen lag und dann am nächsten Tag, im Krankenhaus, wo sie die Blicke der sie bewachenden Polizisten ertragen musste, während sie von Krankenschwestern gewaschen wurde". Weiterhin heißt es in der Mitteilung: "Einige der Angeklagten müssen sich ihr gegenüber in diesem Verfahren der schweren Körperverletzung verantworten, aber die Elemente, die auf Grund der derzeitigen Zeugnisse nach und nach zusammenkommen, könnten dazu führen, dass eine weit schwerer wiegende Straftat wie versuchter Totschlag in Betracht gezogen werden könnte".

Bei Mark Covell und M.J. handelt es sich um zwei Menschen, die höchst wahrscheinlich nur dank der intensiven medizinischen Versorgung noch am Leben sind. Die Fakten belegen, dass mindestens zwei der als Zeugen bisher gehörten Opfer beinahe tot geschlagen wurden. Mehrere Dutzend Menschen, die in der Schule waren, erlitten jedoch ebenfalls sehr ernsthafte Verletzungen, durch die sie mitunter bleibende Schäden behalten. Ungeachtet der vielfachen, schweren Verletzungen, wurden zahlreiche von ihnen nach notdürftiger Versorgung in Haftanstalten verbracht. Wie auch schon in den vergangenen Wochen wurde anhand der Zeugenberichte deutlich, dass die Gewalt auch dann noch eine Fortsetzung fand.


Zum 21. und 22. Verhandlungstag im Diaz-Verfahren sind auf der website suppotolegale.org folgende Dokumente verfügbar:

[Pressemitteilung] Diaz-Verfahren: Die dramatische Niederschlagung des Mark Covell

 https://www.supportolegale.org/?q=node/626

[Diaz] Zusammenfassung des 21. Verhandlungstags im Diaz-Verfahren

 https://www.supportolegale.org/?q=node/638

[Pressemitteilung] "Ich sah, wie die Polizisten die Treppe hoch kamen. Danach, kann ich mich an nichts mehr erinnern".

 https://www.supportolegale.org/?q=node/639

[Diaz] Zusammenfassung des 22. Verhandlungstags im Diaz-Verfahren

 https://www.supportolegale.org/?q=node/640
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Ergänzungen

Anzeige wegen Mordversuch

Geht da was? 05.02.2006 - 12:44
Krass. Ich habe in der UK-Presse irgendwo gelesen, daß Covell längst ne Anzeige wegen versuchten Mordes erstattet hat. Läuft da was? Und was ist ist mit M.J.? Kann man das mit der Nicht-Identifizierbarkeit echt nicht kippen? Auf alle Fälle danke danke danke! Der Bericht ist echt ein Ansatz!

kennzeichnungspflicht sofort!

sascha 05.02.2006 - 14:39
endlich mal ein bisschen politische analyse! der g8 in genua bietet sich auf dem gebiet des täterschutzes in der repression geradezu als musterstück an. dass anzeigen wegen versuchten mordes alleine was bringen darf aber bezweifelt werden. die leute sollten die kennzeichnungspflicht einfordern! der prozess wird wie man sieht genug stoff bieten um die forderung zu stützen, weil wenigstens das lügenhaus hinter dem die ewige bullengewalt versteckt wird wenigstens einmal im leben mal voll bewiesen ist! mit der kennzeichnungspflicht ist's sowieso höchste eisenbahn, auch hier und überall!

Mordanzeigen und Kennzeichnungspflicht

SC 05.02.2006 - 19:24
Die Nicht-Identifizierbarkeit lässt sich wohl nicht mehr kippen, so dürfte aus Anzeigen wegen versuchten Mordes (genauer gesagt Totschlags) tatsächlich - leider - kaum was werden. Eine solche Anzeige hat wohl auch nur Covell erstattet. Die Staatsanwaltschaft hat in dieser Hinsicht gar keine Anklage erhoben. Die letzte kleine Chance auf eine Klärung von Verantwortlichkeiten im Einzelnen wurde jedenfalls mit der Einstellung der Verfahren gegen die 62 Mitglieder der 7. Einsatzeinheit der 1. Abteilung der römischen Bereitschaftspolizei definitiv vertan. Die Hürde der besagten Nicht-Identifizierbarkeit, die ja zur Verfahrenseinstellung führte, war kaum zu überwinden, bei einer gerichtlichen Auseinandersetziung im Rahmen eines Klagezulassungverfahrens - das eben nicht mehr zustande kam - hätte es allerdings sein können, dass sich der eine oder andere Beschuldigte doch noch motiviert gefühlt hätte, mit irgenwelchen Dingen auszupacken. Das hätte vielleicht noch einiges in Bewegung gesetzt.

Es darf vermutet werden, dass die nun quasi "stellvertretend" angeklagten Polizisten - Abteilungsleiter, Gruppenleiter und die Zugführer - auch nur im Bewusstsein dessen die dicke Kröte schluckten, selbst erstmal dran zu sein. Besonders in den ersten zwei Jahren nach Genua verriet offenbar mancher Polizist Journalisten Dinge, die im Rahmen der Ermittlungen der Justiz allerdings nie ausgesprochen wurden, so dass die ermittelnde Staatsanwalt in wichtigen Punkte einer Handlungsgrundlage völlig ledig bleiben musste. Dabei gab es im Besonderen wohl Hinweise darauf, was die Männer veranlasste, so extrem gewaltsam auf die Leute los zu gehen. Wenn das den ermittelnden Staatsanwälten vorgetragen worden wäre, hätte es in den höheren Etagen noch weit mehr Ärger gegeben, als es der Fall ist. Manche Beschuldigte konnten sich schon so in bestimmten Phasen potenziell fatale Retourkutschen nur mit großer Mühe verkneifen. Vielleicht wäre es dann zu Reaktionen gekommen, die den einen oder anderen Täter im Einzelnen hätten entblößen können, es kam aber nicht so.

Das "Wenn, wenn, wenn..." bringt also nichts. Fakt ist: die Täterschutzmechanismen haben sich alles in allem prima bewährt. Deswegen liegt irgendwie schon wirklich nahe, dass die Geschichte tatsächlich Anlass für ne ganz laute Forderung nach Kennzeichnugspflicht gäbe. Versucht haben es der zivillgesellschaftliche Flügel des "anderen" Italiens, die Initiative "Veritá e giustizia per Genova" und einige Kräfte innerhalb von Rifondazione Comunista. Am 24. November vergangenen Jahres erklärte RC-Frau Graziella Mascia, die Einrichtung einer Untersuchungskommission zu Genua und die Verabschiedung von Gesetzesgrundlagen für die Identifizierung von Polizisten seien am Verhandlungstisch des Wahlbündnisses "Unione" beschlossene Sache. Wie hier kürzlich zu lesen war, wurde Punkt eins allerdings nur mit Ach und Krach wieder ins Programm gehievt, nachdem der Punkt aus dem ersten Entwurf des selben verschwunden war. Von Punkt zwei weiß man nichts mehr. Wir werden also sehen, was wird. Ob die Opfer da was unternehmen, das muss man wiederum schon denen überlassen. Die Alptraum-Attacke hat unterschiedlichste Menschen getroffen, die sich bei Weitem nicht alle kennen. Sie sind in zig Ländern verstreut, sie haben Krasses hinter sich, mit dem sie vielleicht auch abschließen möchten und so weiter.

62

SC 05.02.2006 - 20:26
Nur um Missverständnisse zu vermeiden:

Bei den 62 Angehörigen der 7. Einsatzgruppe der 1. Abteilung der römischen Bereitschaftspolizei gegen die das Verfahren eingestellt wurde handelt es sich um die "einfache" Truppe. Dann wären da noch 13 Zugführer, der Gruppenleiter und der Abteilungsleiter. Letztere 15 stehen vor Gericht.