Chaostage 1997

Thomas Meyer - Falk 18.01.2006 09:19 Themen: Repression
Chaostage 1997 - der Menschengerichtshof hat entschieden
Chaostage 1997 - der Menschengerichtshof hat entschieden

Für den 18. bis 20. Juli 1997 waren die sogenannten „7. Lindauer Chaostage“ angekündigt und vorsorglich von der Polizei verboten worden. Die massiv präsente Polizei nahm gegen 18 Uhr einen jungen Mann, der wegen seiner Punkerfrisur deren Argwohn erweckte, in Gewahrsam. Eine Überprüfung seiner Personalien ergab, dass er schon in zurückliegenden Jahren mehrmals an „Chaostagen“ teilgenommen habe.

Kurzerhand wurde Ulrich E., so der Name des Betroffenen, abgeführt und erst am Folgetag gegen kurz vor 14 Uhr einem Richter vorgeführt, der Ulrich E. umgehend auf freien Fuß setzte.
Er klagte daraufhin vor bayrischen Gerichten gegen seine ca. 19 Stunden dauernde Inhaftierung.
Er unterlag in allen Instanzen. Sein Haarschnitt, seine Weigerung, einen Platzverweis zu befolgen und die über ihn gespeicherten Daten bei der Polizei seien eine hinlängliche Grundlage gewesen, ihn fast einen ganzen Tag lang einzusperren.
Dass er erst am Mittag des Folgetages einem Haftrichter vorgeführt worden sein, habe daran gelegen, dass es an besagtem Wochenende keinen Bereitschaftsdienst bei Gericht gegeben habe.

Ulrich E. zog erfolglos vor das Bundesverfassungsgericht und im Jahr 2000 schließlich nach Straßbourg vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Wie einer nun veröffentlichten Entscheidung (in: Europäische Grundrechte Zeitschrift, 27.9.05, Heft 17/18, Seite 474-479) zu entnehmen, verurteilte der Gerichtshof die Bundesrepublik Deutschland zumindest in einem Punkt.

Verletzt sei Artikel 5 Absatz Buchstabe b der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte hinsichtlich der Dauer der Freiheitsentziehung. Nach dieser Bestimmung darf zwar jemand in Haft gehalten werden, wegen Nichtbefolgung eines rechtmäßigen Gerichtsbeschlusses oder zur Erzwingung der Erfüllung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung.

Der Gerichtshof erinnert jedoch daran, dass im Hinblick auf die angekündigten „Chaostage“ ein vorbereitendes Treffen zwischen Justizbehörden stattfand und deshalb das Erscheinen eines Haftrichters erst am Folgetag zur Mittagszeit der Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Person nicht gerecht geworden sei.

Weitere Folgen hat das Urteil des Gerichtshofes, welches schon am 24. März 2005 verkündet worden war, für Ulrich E. nicht. Es weist aber darauf hin, dass die Gerichte verpflichtet sind, einen Bereitschaftsdienst vorzuhalten, um tatsächlich zeitnah über Fragen des Polizeigewahrsams zu entscheiden.
Um es nochmal zu betonen: Die Festnahme an sich billigte der Menschengerichtshof ausdrücklich, lediglich die Dauer der Inhaftierung wird von ihm beanstandet.

Thomas Meyer-Falk, c/o JVA - Z. 3117, Schönbornstr. 32, D-76646 Bruchsal
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Ergänzungen

Was bedeutet das?

(muss ausgefüllt werden) 18.01.2006 - 22:14
Mal eine kurze Ausführung, warum solche Urteile wichtig sind: Es ist zwar richtig, dass die Justiz damit nur dazu verdonnert wird dich bei einer Festnahme so schnell wie möglich vor einen Richter zu bringen. Die Festnahme an sich bleibt so in Ordnung, aber wäre Ulrich E. nach 1-2 Stunden einem Haftrichter vorgeführt wurden und erst nach 19 Stunden, dann wäre er auch nach 1-2 Stunden wieder auf freiem Fuss gewesen. Natürlich wird sich wegen diesem Urteil nicht sofort das gesamte Justizwesen umstellen, aber eine kleine Verbesserung ist es aufjedemfall. Es wurde ein Präzedenzfall geschaffen, auf den bei zukünftigen Fällen sofort verwiesen werden kann.
Nebenbei ist ein solcher Prozeß auch ein gutes Mittel um daran die Vorgehensweise der Polizei und Justiz in dem speziellen Fall, in ähnlichen Fällen und die Institutionen generell zu thematisieren und zu kritisieren - so etwas schafft Öffentlichkeit.

@muss ausgefüllt werden

egal 19.01.2006 - 01:08
du schreibst:
"Mal eine kurze Ausführung, warum solche Urteile wichtig sind: Es ist zwar richtig, dass die Justiz damit nur dazu verdonnert wird dich bei einer Festnahme so schnell wie möglich vor einen Richter zu bringen. Die Festnahme an sich bleibt so in Ordnung, aber wäre Ulrich E. nach 1-2 Stunden einem Haftrichter vorgeführt wurden und erst nach 19 Stunden, dann wäre er auch nach 1-2 Stunden wieder auf freiem Fuss gewesen."

Hier irrst du gewaltig! wenn die polizei dem richter klarmachen kann, dass es bei irgendwelchen chaostagen immer noch zu ausschreitungen kommt, oder wenn diese unmittelbar befürchtet werden, wird kein richter irgend jemanden auf freien fuß setzen.
ich vermute mal, dass im vorliegenden fall nach 19 oder mehr stunden, der eigentliche grund der gewahrsamsnahme längst nicht mehr bestand (chaostage waren zu ende), möglicherweise schon seit ein paar stunden nicht mehr.
das einzige, was ich sicherlich zugestehen kann ist, dass sich gewahrsamszeiten um wenige stunden verkürzen könnten.
aus dem berliner raum weiß ich jedoch, dass sehr zeitnah richter da sind, um entsprechende anordnungen zu treffen, da ist dieses urteil hier als völlig belanglos einzustufen!

klar wichtig

Reisepunk 20.01.2006 - 06:47
Die Bedeutung dieses Urteils ist einfach, daß "möglicherweise beabsichtigte Nichtbefolgung eines Platzverweises" oder ähnliche Ordnungswidrigkeiten (!) nicht als Vorwand für Polizeigewahrsam bis zu den gesetzlich erlaubten 48 Stunden herangezogen werden kann. Theoretisch dürfen Dich die Cops in Deutschland ja "bis zum Ablauf des folgenden Tages" festhalten, wenn's ihnen Spaß macht, und das tun sie bisher relativ oft, z. B. bei Castor-Transporten oder Demos. Da wirst Du einfach grundlos (d. h. ohne, daß irgendwas vorliegt, womit sie bei einer Haftprüfung durchkämen) weggehaftet und eingesperrt, bis das Ereignis, von dem sie Dich weghalten wollen, vorbei ist – das Urteil stellt nun klar, daß sie dafür einen schwerwiegenden Grund brauchen und daß Ordnungswidrigkeiten keiner sind. Und das gilt seit dem 24. März 2005 EUROPAWEIT! Also Aktenzeichen (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, 77909/01) merken und bei Zuwiderhandlung Strafanzeige wegen Freiheitsberaubung stellen...
Außerdem waren die Chaostage zum Freilassungszeitpunkt keineswegs zu Ende, die gingen das ganze Wochenende, und dieser Gewahrsam dauerte von Freitag abend bis Samstag nachmittag. Andere wurden auch tatsächlich bis Sonntag abend festgehalten – der Richter ließ vor allem die Einheimischen laufen, während er Auswärtige mit entsprechenden Eintragungen wegsperren ließ. Und natürlich war's Strategie, in diesem peinlich genau durchgeplanten Massenverhaftungsszenario (Haftplätze in Kempten und Memmingen waren reserviert worden, Gefangenentransporte organisiert etc.) den Richter erst Samstag mittag antanzen zu lassen. Dem Urteil zufolge hätten ALLE am Freitag in Gewahrsam genommenen im Laufe der Nacht freigelassen werden müssen. Das hätte was gegeben...
Übrigens hat das Urteil durchaus direkte Folgen im konkreten Fall, denn am 15.12. wurde auch festgesetzt, daß Deutschland wegen der teilweisen Rechtswidrigkeit des Gewahrsams die Hälfte der Prozeßkosten zu tragen hat.

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na und die folgen? — nobody

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