Arbeitskämpfe in der Welt von 1870 - 1996

Wal Buchenberg 12.01.2006 09:11 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe Weltweit
Statistischer Rückblick auf den Gesamtverlauf von 125 Jahren Arbeiterbewegungen in der Welt seit 1870:
Wann waren Höhepunkte, wann Tiefpunkte der Arbeitskämpfe?
Wie unterschieden sich die Kämpfe in den kapitalistischen Metropolen von denen der Peripherie?
Welche Bedingungen förderten Arbeitermilitanz?
Welche Bedingungen dämpften sie?
Die amerikanische Soziologin Beverly J. Silver wertete die Datenbank der "World Labor Group" über einen Zeitraum von 125 Jahren aus, um "ein angemessenes Bild der langfristigen weltweiten Verlaufsmuster von Arbeiterunruhen zu erhalten".
Exzerpt des Buches von Beverly J. Silver: Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. (Forces of Labor). Assoziation A, Berlin, Hamburg 2005.

Unter den Begriff "Arbeiterunruhe" (im Singular) fallen kollektive "nichtnormative" Handlungen, die die Zwänge der Lohnabhängigkeit zum Inhalt haben und sich gegen Kapitaleigner und ihre Vertreter oder gegen den Staat "als Vermittler oder Vertreter des Kapitals" (Silver: 58) richten. Solche Handlungen können verabredet sein wie Streiks, Blockaden, Demonstrationen oder nicht verabredete, spontane Widerstandsformen wie Bummelstreik, Blaumachen, Migration etc., sofern sie "weit verbreitet sind und kollektiv angewandt werden".



Alleinige Grundlage der Datenerhebung war die Berichterstattung der Londoner "Times" und der "New York Times".
Es wurden also nur solche Arbeiteraktionen erfasst und ausgewertet, die von diesen beiden bürgerlichen Zeitungen, "den wichtigsten Zeitungen der beiden hegemonialen Weltmächte des 19. und 20. Jahrhunderts", für berichtenswert gehalten wurden.
Es wurden über den Zeitraum von 125 Jahren 91.947 Berichte über Arbeiterkämpfe erfasst. Sie sind vielleicht nicht vollständig, aber sie sind immer vom gleichen Beobachter erhoben und daher einigermaßen konsistent und miteinander vergleichbar.

Text in Normal (mit Seitenangabe): Beverly J. Silver.
Auslassungen sind durch drei Punkte ... gekennzeichnet. Wortverschiebungen innerhalb eines Satzes durch Einklammern der (verschobenen Worte).
Meine Textteile, die zusammenfassen und überleiten, sind in Kursiv. Die Überschriften stammen von mir, sind aber nicht kursiv.



1. Allgemeiner Verlauf von 125 Jahren Arbeiterbewegungen

Grafik 01


Die Grafik 01 zeigt den Gesamtverlauf der Arbeiterbewegungen in der Welt über 125 Jahre hinweg. Folgendes ist auf den ersten Blick zu entnehmen:

1) Die Arbeiterbewegungen zeigen einen zyklischen Verlauf.
2) Die Maximum- und Tiefpunkte der Arbeiterbewegung werden von den großen Kriegsereignissen des 20. Jahrhunderts bestimmt. Die Jahre des Ersten wie des Zweiten Weltkriegs markieren Tiefpunkte der Kämpfe. In den drei ersten Jahren nach den Kriegsenden erreichten die Kämpfe ihre Höhepunkte.
3) In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die Arbeiterkämpfe einen "explosiveren Charakter" (Silver: 165.) mit plötzlichen und starken Ausschlägen, während die Kämpfe in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein gleichmäßigeres, aber hohes Niveau aufweisen.
4) Insgesamt stieg im Laufe des 20. Jahrhunderts die Häufigkeit der Berichte über Lohnarbeitskämpfen und Lohnarbeitsprotesten an. Selbst der deutliche Rückgang in den 80er und 90er bleibt auf einem höheren Niveau als die Arbeitskämpfe zwischen 1870 und 1900.

Welche Unterschiede zeigen sich zwischen den kapitalistischen Metropolen und der kapitalistischen Peripherie (koloniale und halbkoloniale Gebiete und ihre Folgestaaten)?


Grafik 02


Der Verlauf der Arbeitskämpfe in den Metropolen zeigt keine wesentlichen Unterschiede zum weltweiten Verlauf. Die Lohnarbeiterkämpfe in den Metropolen domieren mengenmäßig und nach ihrer zyklischen Verteilung.

Die Bewegungen der kapitalistischen Peripherie zeigen dagegen eine etwas andere Verlaufsform:


Grafik 03


1) Die Kämpfe setzen mit 30 Jahren Verzögerung ein.
2) Die Höhepunkte der Arbeiterbewegung in der Dritten Welt liegen in den 50er und 60er Jahren. Sie wurden von der Befreiung vom Kolonialismus (Entkolonisierung) bestimmt.
3) Gemeinsam wiesen die Bewegungen der Peripherie mit den Bewegungen in den Metropolen tiefe Einbrüche während den beiden Weltkriegen auf und einen deutlichen Rückgang an Kämpfen in den 90er Jahren.

Kommen wir also zur Frage, welche Faktoren zu einen Aufschwung und welche Faktoren zu einen Rückgang der Lohnarbeiterkämpfe führen. Die Faktoren, die Beverly J. Silver dabei untersuchte, sind
- die Entwicklungsphasen des Kapitals innerhalb einer Branche;
- die Migration des Kapitals zwischen verschiedenen Regionen eines Landes oder der ganzen Welt;
- die Migration des Kapitals zwischen verschiedenen Branchen;
- schließlich die Profitabilitätsentwicklung des Kapitalismus insgesamt.

Abgesehen von solchen objektiv feststellbaren ökonomischen Faktoren spekulierte Beverly J. Silver nicht darüber, "wie Phasen intensiver Arbeitermilitanz mit Klassenbewusstsein oder seinem Fehlen (oder seiner genauen Form) zusammenhängen." (Silver: 52).



2. Arbeitskämpfe und Kapitalzyklen
2.1. Arbeitskämpfe in der Textilindustrie

Die Innovation neuer Techniken startete historisch immer in den kapitalistischen Metropolen. Die Kämpfe in den Metropolen gaben daher den Takt an für den Auf- und Abschwung der Arbeiterkämpfe in der ganzen Welt.
"Der Textilkomplex mit seinem Zentrum in Großbritannien war der führende kapitalistische Sektor des 19. Jahrhunderts, den Marx als repräsentatives Beispiel für die moderne Industrie ansah." (Silver: 103).
In Großbritannien waren "am Ende des 19. Jahrhunderts die stärksten Gewerkschaften die der Textilarbeiter." (Silver: 109.) Aber diese gewerkschaftliche Stärke entwickelte sich erst "nach der vernichtenden Niederlage etablierter Bewegungen von Handwerkern." (Silver: 111.)



Grafik 04


Die Grafik 04 bildet den zeitlichen Ablauf der weltweiten Arbeitskämpfe in der Textilindustrie ab.
"Im klassischen Produktzyklusmodell von Raymond Vernon (1966) werden neu eingeführte Produkte zunächst vor allem in Hochlohnländern produziert. Aber im Verlauf ihres 'Lebenszyklus' werden die Produktionsstätten auf Standorte mit immer niedrigeren Kosten (vor allem niedrigeren Löhnen) verstreut. In der 'Innovationsphase' des Produktzyklus ist der Wettbewerbsdruck gering und die Kosten sind daher relativ unwichtig. Aber wenn die Produkte die 'Reifephase' und schließlich die 'Standardisierungsphase' erreicht haben, wächst die Zahl der tatsächlichen und möglichen Wettbewerber und damit der Zwang, die Kosten zu senken." (Silver: 103.)

Es zeigt sich ein starker Anstieg der Arbeitskämpfe in der Innovationsphase bis zur Periode, wo eine neue Technik zum allgemeinen Standard wird. In der "Altersphase" dieser Technik, wenn das Kapital in andere Regionen der Welt und in andere Branchen und Technologien abwandert, flauen die Kämpfe ab.
"Die großen Wellen von Textilarbeiterunruhen in Lancashire im zweiten und dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wurden von den Handwerkern angeführt und richteten sich hauptsächlich gegen die Einführung neuer Technologien - zum Beispiel gegen mechanische Webstühle und Spinnautomaten, die ihre auf fachlicher Qualifikation beruhende Macht untergruben." (Silver: 111).

"Aber genauso wie es ein Jahrhundert später dem Widerstand der Handwerker im Metallgewerbe nicht gelang, die Einführung der Massenproduktionstechnologien im Automobilsektor zu verhindern, so konnten in der Textilindustrie diese und spätere Streiks (wie der Generalstreik 1842) die weitere Mechanisierung und den damit verbundenen Lohnverfall nicht aufhalten." (Silver: 111.)

"Als Nebeneffekt dieser Niederlagen entstand und verbreitete sich ... eine neue Kategorie von Arbeitern, die die Maschinen beaufsichtigten. In der Textilindustrie wurden aus (Hand)Spinnern Maschinenführer." (Silver: 112).

"In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten diese neuen Textilarbeiter praktisch keinerlei gewerkschaftliche Macht, weil durch die technologisch bedingte Arbeitslosigkeit ständig eine große Reservearmee von Arbeitskräften geschaffen wurde. Erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts gelang es den Textilarbeitern, eine starke Gewerkschaft für den ganzen Industriezweig zu bilden und zwischen 1869 und 1975 eine Reihe erfolgreicher Streiks durchzuführen, mit denen sie den Textilfabrikanten beachtliche Zugeständnisse abrangen. Die Vereinigung der Baumwollspinner und -spuler - gegründet 1870, als der Boom von Fabrikneubauten zu Ende ging - blieb für ein halbes Jahrhundert eine der stärksten Arbeiterorganisationen Großbritanniens." (Silver: 112.)

Diese Kämpfe konnten "stabile Klassenkompromisse durchsetzen, die den Arbeiterinnen und Arbeitern beträchtliche materielle Vorteile garantierten und für Jahrzehnte die Grundlage relativen Arbeitsfriedens bildeten. ... Die Kämpfe in Lancashire (führten) dazu, dass Lohnlisten aufkamen, die weithin anerkannt waren und für Jahrzehnte gültig blieben." (Silver: 112.)

"Anders als die spätere Automobilindustrie war die Textilindustrie räumlich und betrieblich sehr zersplittert. Die Markteintrittsschranken waren im Textilsektor vergleichsweise niedrig. Zur Produktionsaufnahme wurde relativ wenig fixes Kapital benötigt. Kleine Firmen konnten konkurrenzfähig produzieren ..." (Silver: 113).

Die regionale Ausbreitung der Textilindustrie wurde noch dadurch erleichtert, dass "viele der Länder, die schnell die neuen mechanisierten Produktionsmethoden übernahmen, ... auf eine lange proto-industrielle Geschichte der Textilverarbeitung zurückblickten..." (Silver: 113.)

"Der Widerstand gegen die eigene Proletarisierung ... war ein entscheidender Faktor für Arbeiterunruhen in der kolonialen und halbkolonialen Welt am Ende des 19. Jahrhunderts. Zur gleichen Zeit wurden jedoch neue, strategisch positionierte Arbeiterklassen geschaffen..." (Silver: 183f.)

"Anfang der zwanziger Jahre (des 20. Jh.) hatte diese Globalisierung der mechanisierten Textilproduktion weltweit einen enormen Wettbewerbsdruck erzeugt. ... Die Textilunternehmer (versuchten) die Produktion zu rationalisieren und die Kosten zu senken. Das löste in den zwanziger und dreißiger Jahren wiederum eine weltweite Welle von Arbeiterunruhen aus. ... Die Schauplätze gewaltiger Streikbewegungen reichten von Manchester bis nach Bombay, Gastonia (North Carolina, USA) und Shanghai." (Silver: 117).

"Diese größere Verbreitung der Textilarbeiterunruhen sollte nicht als Zeichen größerer Arbeitermacht gedeutet werden, auch wenn die Militanz der Textilarbeiter und -arbeiterinnen außer Frage steht. Kerr und Siegel (1964) klassifizieren ihre Streikneigung als mittel bis hoch, ein Wert, der nur von Bergarbeitern, Seeleuten und Hafenarbeitern übertroffen wurde - aber erfolgreich waren ihre Proteste kaum. Im Gegensatz zu den überwältigenden Siegen, die in den Kämpfen der Automobilarbeiter Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre errungen wurde, mussten die kämpferischen Textilarbeiter und -arbeiterinnen in den zwanziger und dreißiger Jahren fast ausnahmslos Niederlagen einstecken. Selbst in Großbritannien, der Hochburg der Textilarbeitermacht, war diese Zeit von Niederlagen geprägt." (Silver: 117f.)

"Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Ausgang der großen Welle von Textilarbeiterunruhen im Süden der USA, zu der auch ein Generalstreik im Jahr 1934 gehörte - nur zwei Jahre vor den dammbruchartigen Erfolgen der CIO in der Automobilindustrie. Obwohl sie entschlossen geführt wurden, waren diese Streiks ausnahmslos Misserfolge. Der Generalstreik von 1934, der größte einzelne Streik in der amerikanischen Geschichte, gipfelte in einer vernichtenden Niederlage der Arbeiter." (Silver: 118.)

"Die Erfolge der Textilarbeiter während der Reifephase waren praktisch auf die Orte beschränkt, an denen sie auf die Unterstützung von erstarkenden nationalen Befreiungsbewegungen zurückgreifen konnten." - so in Indien 1919 und 1920 und in China von der 30.Mai-Bewegung von 1925, die durch die Ermordung eines Textilarbeiters ausgelöst wurde, bis hin zum Generalstreik in Shanghai, Februar 1927.
"Als die Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangten, lösten sich die klassenübergreifenden Bündnisse der nationalistischen Bewegungen tendenziell auf. Wenn die Führer der nationalistischen Bewegungen erst einmal die Staatsmacht kontrollierten, verloren die Arbeiter- und Bauernkämpfe stets viel von der früheren Unterstützung durch andere Klassen der Gesellschaft." (Silver: 198.)

"Angesichts der geringen strukturellen Macht der Textilarbeiter überrascht es nicht, dass Organisationsmacht der entscheidende Faktor für die oben beschriebenen Siege der Arbeiter war. Die Erfolge der britischen Textilarbeiter am Ende des 19. Jahrhunderts beruhten auf stabilen Gewerkschaften ..." (Silver: 123.)

"In vergleichbarer Weise war die große Organisationsmacht in Form von klassenübergreifenden Bündnissen im Rahmen von nationalen Befreiungskämpfen (solange solche Bündnisse hielten) entscheidend für die Siege der Arbeiter in China und Indien. Dies waren jedoch die Ausnahmen - in der Regel war die Organisationsmacht der Textilarbeiter nicht groß genug, um den Mangel an struktureller Macht auszugleichen." (Silver: 123.)



2.2. Arbeitskämpfe in der Automobilindustrie

"Die 'Peripherisierung' des Textilkomplexes in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts fiel mit dem Aufstieg der neuartigen Massenproduktion in der Automobilindustrie zusammen, deren Zentrum in den USA lag. Sie war nicht nur ökonomisch der neue führende Sektor, sondern setzte auch die gesellschaftlichen und kulturellen Standards ihrer Zeit." (Silver: 103).

Im 20. Jahrhundert sind "unter den Automobilarbeitern in der Massenproduktion in völlig verschiedenen kulturellen und politischen Milieus auffallend ähnliche Arbeiterbewegungen entstanden." (Silver: 53).



Grafik 05


"Am 30. Dezember 1936 besetzten Arbeiter die Fisher-Karosseriewerke Nr. 1 und 2 von General Motors in Flint (US-Bundesstaat Michigan). Am 12. März 1937 musste General Motors ... kapitulieren und einen Vertrag mit den United Auto Workers (UAW) unterzeichnen. Damit begann eine Flut von Streiks, die der industriellen Massenproduktion in den USA die gewerkschaftliche Organisierung einbrachte - und das in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit ... und angesichts eines kläglichen Organisierungsgrades unter den Arbeitern ...
Der aktive Sitzstreik in Flint, der das Fisher-Karosseriewerk von GM lahm legte, wurde von einer 'militanten Minderheit' von Automobilarbeitern geplant und durchgeführt, ... indem sie unerwartet des Fließband anhielten und sich im Werk hinsetzten. ... Da die technische Kontrolle die gesamten Arbeiter miteinander verband, schlossen sich alle automatisch dem Streik an, sobald das Band stillstand." (Silver: 69f.)
Die Lohnarbeiter in anderen Werken von GM schlossen sich diesem Streik an.
"Der Ausstoß des Konzerns fiel von 50.000 Fahrzeugen monatlich im Dezember auf bloße 125 in der ersten Februarwoche. Um den Streik zu beenden und die Produktion wieder aufzunehmen, war GM gezwungen, seine kompromisslos gewerkschaftsfeindliche Haltung aufzugeben und mit der UAW einen Vertrag auszuhandeln, der für die Arbeiter in zwanzig Werken galt." (Silver: 70).

"Nach dem Erfolg der UAW wurde es für ein halbes Jahrhundert zu einer der beständigen Strategien der Automobilkonzerne, die Produktion von den Gewerkschaftshochburgen weg zu verlagern. Schon 1937 erwarb GM ein Motorenwerk in Buffalo, um seine Abhängigkeit von Flint zu verringern, und begann kurz danach, die Produktion auf ländliche Gebiete und den Süden der USA zu verteilen." (Silver: 70).

"Die 'Südstrategie' ... wurde 1979 hinfällig, als die UAW in einer Machtprobe die Ausweitung des GM-Tarifvertrags auf alle Werke im Süden durchsetzte." (Silver: 71.)
"Die Automobilkonzerne reagierten, indem sie die schon laufende Produktionsverlagerung in Regionen mit größeren Arbeitskraftreserven außerhalb der USA intensivierten." (Silver: 71.)

Seit der politischen Stabilisierung des Weltmarkts nach dem Zweiten Weltkrieg durch die USA flossen in großem Maße Investitionen nach Europa und andere Teile der Welt.


Grafik06


Der geografische Schwerpunkt der Automobilarbeiterkämpfe verschob sich mit dem neu investierten Kapital in der Automobilindustrie "im Laufe der Zeit mehrmals räumlich ... - von Nordamerika in den dreißiger Jahren und vierziger Jahren über Nordwest- (und dann Süd-)Europa in den sechziger und siebziger Jahren hin zu einer Gruppe sich schnell industrialisierender Länder in den achtziger und neunziger Jahren." (Silver: 65.)

Obwohl "diese Wellen von Arbeiterunruhen ... sich unter politisch-kulturellen Umständen und in historischen Phasen abspielten, die sehr verschieden waren, (weisen sie) erstaunliche Ähnlichkeiten auf... Sie brechen mit einer für zeitgenössische Beobachter unerwarteten Plötzlichkeit und Stärke hervor. Obwohl sie es mit gewerkschaftsfeindlichen Arbeitgebern (und manchmal feindseligen Regierungen) zu tun hatten, haben sie schnell große Erfolge erzielt. Alle nutzten unkonventionelle Protestformen - besonders den Sitzstreik (in den Werkhallen) - mit denen sie immer wieder riesige Industrieanlagen lahm legten ... In allen Fällen bestanden die Belegschaften überwiegend aus internationalen und interregionalen Migranten und Migrantinnen der ersten und zweiten Generation. Die Automobilarbeiterkämpfe fanden starke Unterstützung aus den umliegenden Wohnbezirken und erlangten über die jeweilige Industrie und die dort Beschäftigten hinaus landesweite politische Bedeutung. Insofern stellten diese Kämpfe auch jeweils einen 'Wendepunkt' in den Beziehungen zwischen Arbeiterklasse und Kapital dar." (Silver: 68).

"Die Kapitalabwanderung untergrub die Arbeitermacht an bisherigen Produktionsstandorten, gleichzeitig wurden aber an den neuen Orten industrieller Ausweitung neue Arbeiterklassen geschaffen. Im Ergebnis haben sich zwischen den dreißiger und neunziger Jahren nicht nur die Techniken der Massenproduktion von Automobilen von den USA über Westeuropa bis hin zu einer Gruppe rasch industrialisierter Schwellenländer verbreitet, sondern auch eine charakteristische Form der Arbeitermilitanz." (Silver: 69).

"Unsere These ist, dass die Massenproduktion in der Automobilindustrie dort, wo sie anwächst, fast überall und immer wieder ähnliche soziale Widersprüche erzeugt. Wo auch immer die fordistische Massenproduktion expandierte, entstanden im Gegenzug starke und einflussreiche Arbeiterbewegungen. Das führte wiederum dazu, dass die Kapitalisten die Produktion an Orte mit billigerer und vermeintlich auch gefügigerer Arbeitskraft verlagerten. Damit wurden die Arbeiterbewegungen an den Orten des Kapitalabzugs geschwächt, aber gleichzeitig Arbeiterklassen an neuen Orten gestärkt. ... In einem Satz zusammengefasst, lässt die Entwicklung der Automobilindustrie folgenden Schluss zu: Wohin das Kapital auch geht, die Konflikte gehen mit." (Silver: 63f.)

"Die strukturelle Arbeitermacht war in der neuen Leitindustrie (Automobile) weit größer als in der alten (Textilien). Die Automobilarbeiter verfügten über mehr Produktionsmacht, weil diese Industrie anfälliger gegenüber den Störungen war, die Arbeiter und Arbeiterinnen in der Produktion verursachen konnten. Und sie hatten mehr Marktmacht, weil sich diese Industrie nicht so einfach räumlich verlagern lässt wie die Textilproduktion." (Silver: 125.)

Der Erfolg dieser Kämpfe zog "eine Reihe von Management-Strategien nach sich, welche die Arbeiterbewegungen strukturell schwächten. Kurzfristig wurde eine 'verantwortungsvolle Gewerkschaftsarbeit' und die Institutionalisierung von Tarifverhandlungen gefördert, um damit die Gewerkschaftsführer dafür zu gewinnen, an der Eindämmung von Produktionsstörungen durch die Arbeiterbasis mitzuwirken. Kurz- und mittelfristig wurde die Arbeit automatisiert und jede neue Investition in Regionen abseits der Gewerkschaftshochburgen gelenkt. Diese Umstrukturierung des Kapitals untergrub sowohl die Arbeitermacht in der Produktion als auch die materiellen Grundlagen des Widerstands." (Silver: 68.)

"Wir haben schon erwähnt, dass die Nachkriegsgesellschaftsverträge in den Metropolen darauf bauten, dass die Gewerkschaften die Einführung neuer Technologien zur Produktionssteigerung unterstützten." (Silver: 199).

"Eine große Welle von Arbeiterunruhen ist in jeder neuen Phase von Produktionsverlagerungen einer der 'push'-Faktoren, die wiederum eine neue Runde der Klassenbildung auslösen. ... Die Innovationsphase des Automobil-Lebenszyklus (stieß) mit den CIO-Kämpfen in den USA an ihre Grenzen. Die Grenzen der zweiten, der Reifephase wurden mit der Welle von Arbeiterunruhen in Europa am Ende der sechziger und in den siebziger Jahren erreicht, und das Ende der dritten Phase, der Standardisierung, zeichnet sich mit den vielfältigen Schüben von Arbeitermilitanz in den Schwellenländern in den achtziger und neunziger Jahren ab." (Silver: 104.)

"Den Innovatoren fallen monopolistische Extra-Profite ... zu. Aber im Verlauf des Lebenszyklus sinkt die Profitabilität der Industrie von Phase zu Phase." (Silver: 105). Die kapitalistischen Frühstarter einer Branche konnten daher "großzügigere und stabilere Klassenkompromisse finanzieren, weil ihnen als Innovatoren des Zyklus die monopolistischen Extraprofite zufielen. Mit deren Hilfe konnten sich die US-amerikanischen Automobilhersteller nach den CIO-Kämpfen in den dreißiger Jahren auf einen stabilen Klassenkompromiss und einen Gesellschaftsvertrag des Massenkonsums einlassen, die vierzig Jahre Bestand hatten. Gegen Ende des Lebenszyklus wird es hingegen ökonomisch immer schwieriger, solche Gesellschaftsverträge aufrechtzuerhalten, weil mit dem intensiveren Wettbewerbsdruck die Profite absinken..." (Silver: 105.)

"Die in Westeuropa produzierenden Automobilhersteller reagierten auf die beeindruckenden Erfolge der Arbeiterbewegung (Ende der 60er Jahre) ähnlich wie die US-Konzerne in den dreißiger und vierziger Jahre auf die Siege der CIO. Prozessinnovationen, darunter die schnelle Roboterisierung arbeitsintensiver Aufgaben, die Förderung einer 'verantwortungsbewussten Gewerkschaftspolitik' und Produktionsverlagerungen - all dies wurde auf energische Weise vorangetrieben. ... Auch die Auswirkungen auf die Arbeitermacht waren ähnlich wie in den USA. Anfang der achtziger Jahre befanden sich die Arbeiterbewegungen in Westeuropa (einschließlich der Automobilarbeiter) alle in der Defensive. ... Die Ende der sechziger Jahre erzielten Errungenschaften waren größtenteils wieder aufgehoben worden." (Silver: 76.)

"Sowohl im Produktzyklus des Autos wie der Textilien ließen sich keine 'monopolistischen Extraprofite' wie in der Innovationsphase mehr erzielen, sobald die Epizentren der Produktion (und der Arbeiterkämpfe) in Niedriglohngebiete verlagert wurden. Dadurch verringerten sich die Spielräume für die Etablierung stabiler Klassenkompromisse." (Silver: 213.)

"Aufgrund ihrer größeren Macht waren die Automobilarbeiter sehr viel erfolgreicher in ihren Kämpfen - sie waren jedoch nicht unbedingt militanter. Wenn wir einfach die Zahl der Hochpunkte von Arbeiterunruhen ... zusammenzählen, würden wir sogar zu dem Schluss kommen, dass die Textilarbeiter im Vergleich zu den Automobilarbeitern über ein höheres Niveau von Militanz verfügten." (Silver: 125f.)

"Die Automobilhersteller sehen sich unter dem Druck von Arbeiterunruhen gezwungen, einen Teil ihrer Arbeitskräfte vor den härtesten Auswirkungen einer unregulierten Weltwirtschaft zu schützen, um damit der Hierarchie von Arbeiterklasse und Kapital mehr Legitimität zu verschaffen. Der harte Konkurrenzdruck führt aber zu Profitabilitätskrisen und treibt die Automobilhersteller zu kostensparenden Maßnahmen, die fortlaufend Grad und Umfang dieses Schutzes bedrohen." (Silver: 98.)

"Die den Gewerkschaftsführern zugewiesene Rolle der Disziplinierung der Basis drohte ständig, einen Keil zwischen Gewerkschaftsführern und Mitglieder zu treiben. Falls es dazu kam, konnten die Gewerkschaftsführer die Militanz der Belegschaft nicht länger wirksam kontrollieren. Wenn sie aber auf die von der Basis kommenden Beschwerden eingingen, mussten sie sich aus den korporatistischen Strukturen zurückziehen. So führten beiden Wege zum gleichen Ergebnis - nämlich der Unfähigkeit, die Militanz der Basis zu kontrollieren." (Silver: 193).

"Zusammenfassend können wir festhalten, dass die Gesamtdynamik der weltweiten Arbeiterunruhe in den Auf- und Abstieg von Produktzyklen eingebettet ist, die mit Veränderungen im Ausmaß und Charakter der Arbeitermacht einhergehen." (Silver: 126.)

"Zusammenfassend können wir sagen, dass all die verschiedenen Versuche, in den Nachkriegsjahrzehnten starke Arbeiterbewegungen einzubinden und zu kontrollieren, ihre Grenzen und Widersprüche hatten. Reformen waren ... teuer. Darüber hinaus stärkten Reformen die Arbeitermacht, da sie die Arbeiter vor der vollen Wucht der Marktkräfte schützten. Damit erzeugten sie Spannungen, die durch korporatistische Strukturen gelöst werden sollten (aber nicht vollständig gelöst werden konnten.) Repression - immer noch ein wichtiges Werkzeug im Repertoire der Kontrolle über die Arbeiter - war ebenfalls eine instabile Lösung." (Silver: 202.)

"Die Zugeständnisse, mit denen die Arbeiterbewegungen unter Kontrolle gebracht werden sollen, bringen das System im Gegenzug an den Rand einer Profitabilitätskrise. Auf der anderen Seite ziehen die Anstrengungen des Kapitals (und der Regierungen) zur Wiederherstellung der Profitabilität des Kapitals ... zur Wiederherstellung der Profitabilität den Bruch der vereinbarten Sozialpakete ... nach sich ... Dadurch schaffen sie wiederum eine Legitimationskrise und eine widerständige Gegenbewegung. Diese beiden Tendenzen - Krise der Profitabilität und Krise der Legitimität - erzeugen eine fortwährende Spannung innerhalb des historischen Kapitalismus. Eine Form der Krise kann nur durch Maßnahmen gelöst werden, die letztendlich die andere Form der Krise herbeiführt." (Silver: 39).



2.3. Arbeitskämpfe im Transportwesen

Arbeitskämpfe im Transportwesen bilden einen überproportionalen Anteil aller Arbeitskämpfe: "im Durchschnitt 35 Prozent aller industriespezifischen Nennungen von 1870 bis 1996. Damit bilden die Arbeiterunruhen im Transportsektor die größte Kategorie. Sie liegt sogar vor der verarbeitenden Industrie (21 Prozent) und dem Bergbau (18 Prozent)." (Silver: 127.)



Grafik 07


Bemerkenswert sind dabei einerseits der (relative) Rückgang von Arbeitskämpfen im Bereich Schifffahrt/Häfen und die (relative) Zunahme der Arbeitskämpfe in der Luftfahrt.
"Prozessinnovationen haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Zahl der - historisch für ihre Militanz bekannten - Hafenarbeiter drastisch reduziert. Der dramatische Rückgang bei den Nennungen von Arbeiterunruhen in diesem Bereich ... geht zum großen Teil auf diese Innovationen zurück." (Silver: 130.)

"Transportarbeiter verfügten und verfügen weiterhin über relativ viel Produktionsmacht. Das wird besonders deutlich, wenn wir unter ihrem Arbeitsplatz des gesamte Vertriebsnetz verstehen, in das sie eingebunden sind. Ihre Produktionsmacht speist sich oftmals weniger daraus, wie ihre Aktionen unmittelbar auf ihre eigenen (in vielen Fällen öffentlichen) Arbeitgeber wirken, sondern aus den mittelbaren Folgen der Nichtlieferung von Gütern, Dienstleistungen und Menschen auf die gesamte Lieferkette." (Silver: 129.)

"Da reibungslos funktionierende Transportsysteme unentbehrlich für die Kapitalakkumulation sind ... hielten es die Regierungen für notwendig, umfassend und frühzeitig in die Transportarbeiterunruhen einzugreifen." (Silver: 131.)



2.4. Arbeitskämpfe und Migration des Kapitals in andere Branchen

"Bisher haben wir uns darauf konzentriert, die Dynamik der Arbeiterunruhe innerhalb der Produktzyklen ... phasenweise miteinander zu vergleichen. Aber die Zunahme der Arbeiterunruhe in dem einen Produktzyklus und ihr Abflauen in dem anderen sind keine zwei voneinander unabhängige Fallbeispiele. Vielmehr sind beide Entwicklungen durch eine Dynamik zwischen den Industrien miteinander verbunden ... Als die Textilindustrie das Ende ihrer Reifephase erreichte (und Arbeiterunruhe wie Konkurrenzdruck eskalierten) wich das Kapital auf neue und innovative Produktlinien aus, die weniger von Arbeiterunruhe und Konkurrenzdruck betroffen waren - dazu gehörte auch die Automobilindustrie." (Silver: 125.)

"Kapitalistische Strategien zur Maximierung von Profitabilität und Kontrolle beschränken sich ... nicht auf die geografische Verlagerung industriellen Kapitals oder die Neuorganisierung vorhandener Produktionslinien. Auf der Suche nach höheren Profiten und größerer Kontrolle 'geht' das Kapital auch in neue Industrien und Produktlinien." (Silver: 99.)



Grafik 08


"Die Arbeiterunruhen verlagern sich ... nicht nur innerhalb eines bestimmten Sektors von einem Ort zum anderen, sondern mit dem Aufstieg und Niedergang führender Sektoren der kapitalistischen Entwicklung wechseln auch die Hauptschauplätze von Klassenbildung und Protest von einem Sektor zum anderen."

3. Zur aktuellen Entwicklung
3.1. Profitkrise des Kapitalismus und Krise der Arbeiterbewegungen

"Die Arbeiterbewegungen - vor allem die in den Metropolen - wurden mittels verschiedener, miteinander verbundener Sozialpakte auf betrieblicher, nationaler und internationaler Ebene (und durch strukturelle Transformationen, die diese Pakte stützten) eingebunden." (Silver: 166.)

"Die von den USA betriebene Restrukturierung des kapitalistischen Weltsystems schuf die Grundlagen für zwei Jahrzehnte anhaltenden und profitablen Wachstums in den fünfziger und sechziger Jahren - ein 'Goldenes Zeitalter des Kapitalismus'. Wachstum und Profitabilität in diesem beispiellosen Ausmaß stellten wiederum die materiellen Ressourcen bereit, mit denen die Sozialpakte der Nachkriegsjahrzehnte bezahlt werden konnten.
Doch wie schon das Goldene Zeitalter des Kapitalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts ... löste auch das schnelle Wachstum von Welthandel und Weltproduktion in den fünfziger und sechziger Jahren schließlich eine Überakkumulationskrise aus, die durch heftige kapitalistische Konkurrenz und eine allgemeine Profitklemme gekennzeichnet war. Im Rahmen dieser Krise flogen die Nachkriegs-Sozialpakte zur Einbindung der Arbeiterklasse auseinander." (Silver: 202f.)
Die Kapitalisten legen ihr Kapital zunehmend "in Geldverleih, Finanzintermediation und Spekulation" an (Silver: 169.)
"Diese Finanzialisierung des Kapitals schwächte die Marktmacht der Arbeiter und Arbeiterinnen in jenen 'überlaufenen' Industriesektoren, aus denen sich das Kapital zurückzog." (Silver: 169.)

"Von den Gewerkschaften wurde erwartet, im Austausch für die Beteiligung an betrieblichen Entscheidungen ihre Basis zu disziplinieren. Trotzdem waren auch diese Fabrikregimes von Spannungen und Instabilitäten gekennzeichnet, da sie der Flexibilität des Kapitals im Weg standen." (Silver: 204).

"Anfang der achtziger Jahre waren die betrieblichen Errungenschaften der Arbeiterbewegung in den Metropolen weitgehend rückgängig gemacht worden. ... Die Arbeiter kämpften für die Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsverträge. ... Zu diesen Ereignissen gehören unter anderem der britische Bergarbeiterstreik, der Streik der US-Fluglotsen und die Machtprobe bei Fiat in Italien. Diese Streiks waren weitgehend defensive Kämpfe (das heißt sie widersetzten sich der Zerstörung von bestehenden Lebensweisen und existierenden Gesellschaftsverträge.) ... Sie alle erlitten Niederlagen." (Silver: 205.)

"In den neunziger Jahren war aus der Krise des Weltkapitalismus und der Weltmacht USA ein weltweite Krise der Arbeiterbewegung geworden." (Silver: 208)

"Vom Jahre 2002 aus betrachtet scheint die Krise der Arbeiterbewegung am Ende des 20. Jahrhunderts länger und tiefer zu sein, als diejenige, die die Arbeiterbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts durchmachten." (Silver: 209.)



3.2. Aufspaltung in privilegierte und prekäre Belegschaften

In jüngerer Zeit, in den 80er und 90er Jahren, erfolgte die Auslagerung der Produktion nicht nur geografisch, sondern auch juristisch über ein Puffersystem von Subunternehmen und prekär beschäftigten Lohnarbeitern. Dieses System wurde vor allem in Japan zur Reife entwickelt. Der Erfolg dieses Systems beruht auf der "Einrichtung eines großen 'Puffers' prekär beschäftigter Arbeiter und Arbeiterinnen in den unteren Ebenen des Subunternehmersystems sowie von 'Teilzeit-' und 'Aushilfskräften' in den Betrieben der oberen Ebene.

"Die Arbeiter der oberen Ebenen werden wahrscheinlich über eine große Produktionsmacht verfügen, aber auf weniger Missstände treffen. Und gleichzeitig dürften sie physisch und psychisch von den Arbeitern der unteren Ebenen getrennt sein, die sich mehr Missständen gegenüber sehen und weniger strukturelle Macht haben." (Silver: 98f.)

Teilweise wird diese Aufspaltung der Belegschaften durch regionale Entfernungen vertieft. Während die Planung und Steuerung der Produktion in den Metropolen bei privilegierten Lohnarbeitern bleibt, können prekäre Produktionsbereiche bis nach Asien ausgelagert werden.

"Die in den achtziger und neunziger Jahren eingeführten Prozessinnovationen trugen dazu bei, die Hochlohnstandorte gegenüber den Niedriglohnländern wieder konkurrenzfähig zu machen." (Silver: 106.)

"Metropolenregionen können es sich ... leisten, hohe Löhne und 'lebenslange Beschäftigung' anzubieten, weil die Firmen umfassend automatisierten und organisatorische Neuerungen einführen ..." (Silver: 107.)

"Dadurch ist es möglich, Legitimität und Profitabilität gleichzeitig aufrechtzuerhalten, wenn auch für eine schrumpfende Zahl von Beschäftigten." (Silver: 108).



3.3. Schluss

Die Arbeiterbewegung ist schon oft für tot erklärt worden. Den Rückgang an gemeldeten Aktionen der Lohnarbeiter in der Welt vor der Jahrtausendwende können nur diejenigen für das endgültige Aus halten, die sich einbilden, der heutige Kapitalismus sei "grundsätzlich neu und beispiellos".

Wer dagegen "das Wesen des historischen Kapitalismus in einer wiederkehrenden Dynamik" sieht, "zu der die beständige Neuschaffung von Widersprüchen und Konflikten zwischen Arbeiterklasse und Kapital gehört", der tendiert dazu "ein erneutes Auftauchen großer Arbeiterbewegungen zu erwarten." (Silver: 44).

Auch zu "Anfang des 20. Jahrhunderts (waren) die zeitgenössischen Beobachter sicher ..., die mit dem Fordismus verbundenen Umwälzungen würden das Ende der Arbeiterbewegungen bedeuten." (Silver: 23)
Mit der halbautomatisierten Massenproduktion des Fordismus wurden damals die handwerklichen Qualifikationen der ausgebildeten Arbeiter aus weiten Bereichen der Produktion verdrängt. Diese handwerklich gebildeten Facharbeiter hatten aber bisher die Kader der in Parteien und Gewerkschaften fest organisierten Lohnarbeiter gestellt.
Mit dem Rückgang des Fordismus zumindest in den Metropolen kehren wieder kleinere und mobilere Belegschaften - ähnlich der Textilindustrie im 19. Jahrhundert - zurück. Mit den Produktionsanlagen werden auch die Lohnarbeiter fragmentiert. Die Bedingungen für die Arbeitskämpfe ändern sich dadurch. Notwendigkeit und Möglichkeit der Arbeitermilitanz verschwinden keineswegs, sondern ähneln wieder den Bedingungen des 19. Jahrhunderts.

Obwohl die Lohnarbeiter in den unternehmensorientierten Dienstleistungen in kleineren Unternehmen arbeiten und fern von den "Schalthebeln" der Produktion und deshalb nur über geringe Produktionsmacht verfügen, "errangen Arbeiterinnen auf der untersten Stufe der unternehmensorientierten Dienstleistungen ... beachtliche Erfolge. Zu dieser Erfolgsgeschichte gehören die Kampagne für einen 'Living Wage', die sich zuerst in Baltimore entwickelte und auf mehr als dreißig Städte in den USA übersprang, sowie die siegreiche 'Justice-for-Janitors'-Kampagne. ... Insbesondere wurde in diesen Kampagnen das klassische Modell der Organisierung am Arbeitsplatz kritisch überprüft und ein neues Modell, das sich stärker auf die Wohnbezirke bezieht, entwickelt. ... Daher versuchte die "Living-Wage"-Kampagne in Baltimore, eine stadtweite Bewegung zu schaffen, um die Löhne und Arbeitsbedingungen der "working poor" zu verbessern. ... Wie im Fall der britischen Textilarbeiter, die einer Vielzahl von Arbeitgebern gegenüberstanden, kam es vor allem auf die flächendeckende Organisationsmacht an." (Silver: 141f.)

"Auch die 'Justice-for-Janitors'-Kampagne verzichtete darauf, die Beschäftigten in klassischer Weise am Arbeitsplatz zu organisieren ... Stattdessen setzte die Kampagne auf offene Straßenproteste, die sich gegen die Gebäudeeigentümer und deren gewerbliche Mieter richteten." (Silver: 142.)

"Alle diese Kampagnen waren .... in hohem Maße auf 'Verbündete in den nicht unmittelbar interessierten Gesellschaftsschichten' angewiesen." (Silver: 142.)

"Wir hatten gesagt, dass Arbeiterinnen und Arbeiter mit geringer strategischer Macht nur dann siegreich sein können, wenn sie über eine große Organisationsmacht verfügen (entweder durch unabhängige Gewerkschaften wie im Fall der britischen Textilarbeiter oder durch klassenübergreifende politische Bündnisse wie im Fall der indischen und chinesischen Textilarbeiter)." (Silver: 153.)

"Wir haben darauf hingewiesen, dass die vertikale Desintegration der Produktion und die damit verbundene ausufernde Anzahl von Produktionsstandorten und (tatsächlichen oder vorgetäuschten) Arbeitgebern, denen sich die Arbeiter gegenüber sehen, die strukturelle Arbeitermacht geschwächt haben. Aufgrund dieser strukturellen Schwäche kommt der Organisationsmacht wieder eine besondere Bedeutung zu. In der Tat ähneln die Rahmenbedingungen der Organisierung, mit denen die Arbeiterinnen und Arbeiter am Beginn des 21. Jahrhunderts konfrontiert sind, in gewisser Hinsicht mehr denen der Textilarbeiter im 19. Jahrhundert als denen der Automobilarbeiter im 20. Jahrhundert." (Silver: 157.)

"Falls die Bedeutung von Organisationsmacht zunimmt, wird die zukünftige Entwicklung der Arbeiterbewegungen stark durch den umfassenderen politischen Kontext beeinflusst werden, von dem sie ein Teil sind." (Silver: 217).



Aus: Beverly J. Silver, Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Forces of Labor. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2005. 284 Seiten, 18.- Euro. ISBN 3-935936-32-X

Zusammengestellt von Wal Buchenberg für Indymedia, 12.01.06

Reaktionen und Rezensionen
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Ergänzungen

Vielen Dank!

ich 12.01.2006 - 11:44
Danke für diese Zusammenfassung, Wal!

überblick über das silver buch

zuppi 15.01.2006 - 21:38
die gruppe eiszeit hat einen der übersetzer der dt. ausgabe des beverly silver buches zur disko in die schweiz eingeladen, die veranstaltung ist als mp3 im netz abrufbar. Buchvorstellung und Diskussion.

Buchvorstellung in Halle/S.

KurtMelnik 18.01.2006 - 21:55
Das VL in Halle macht am 02.03. eine Buchvorstellung mit Christian Frings

sozialabbau- eine lange tradion...

richard 23.01.2006 - 14:28
über den gleichsamen abbau und welche intersse dahinter sethen. lohnt sich auf jeden fall auch zu lesen...

hier zu finden:  http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/53659697470e1e001.php

Mein persönliches Resümee aus diesem Buch

Wal Buchenberg 25.01.2006 - 14:43
Ich denke, höchstwahrscheinlich (aber sag niemals:nie!) werden wir den Kapitalismus nicht los ohne Revolution.

Ohne das Mittel Revolution erreichen wir wohl nicht als Ziel eine Gesellschaft, wo alle Individuen selbstbestimmt leben können.
Eine Gesellschaft, in der alle Arbeitsmittel von den Arbeitenden selbst verwaltet werden.
Eine Gesellschaft ohne Kapital und ohne Lohnarbeit.
Eine Gesellschaft ohne Herren und ohne Knechte und ohne Mägde.

Aus der Untersuchung von Beverly J. Silver kann mensch Vieles zur Beantwortung der Frage lernen: Wie kommen wir zur Revolution?

Revolution ist die erfolgreiche Zuspitzung sozialer Kämpfe.
Wir kommen zur Revolution durch soziale Kämpfe.
Durch die millionenfache Erfahrung: Wir brauchen Kampf! und die millionenfache Erfahrung: Wir können Kampf!

Das führt zu den nächsten Fragen:
Wann nehmen soziale Kämpfe einen Aufschwung? Wann gehen soziale Kämpfe zurück?

Soziale Kämpfe nehmen einen Aufschwung, wenn die Lohnsklaverei ganz frisch ist, wenn sich quasi auf der Haut der Lohnsklaven noch keine Schwielen gebildet haben. Das ist immer dort, wo das Kapital neu hinkommt. Mit der Gewöhnung an die Lohnsklaverei flauen solche Kämpfe wieder ab.

Soziale Kämpfe nehmen einen Aufschwung, wenn zum alltäglichen Elend, an das sich die Lohnarbeiter gewöhnt haben, neues und zusätzliches Elend kommt. Diese Situation haben wir heute in den Metropolen.

Kämpfe gehen zurück, wenn sie erfolgreich sind. Das zeigt der Branchenvergleich von Beverly Silver: Sobald die Textilarbeiter und die Automobilarbeiter legale Vertreter durchsetzten und Lohn- und Arbeitsbedingungen, die man zu derzeit als "menschenwürdig" ansah, gaben sie sich mit diesem Erfolg mehrere Jahrzehnte zufrieden. Tarifverträge sind Beruhigungspillen. Betriebsräte sind Beruhigungspillen. Gewerkschaften sind Beruhigungspillen. Sozialversicherungen sind Beruhigungspillen. Mindestlohn ist eine Beruhigungspille.

Das besondere Nachkriegs-Problem in Deutschland war allerdings, dass die Lohnarbeiter in Deutschland es nach dem zweiten Weltkrieg mit einer geschwächten und deshalb nachgiebigen herrschenden Klasse zu tun hatten.
Die sozialen Beruhigungspillen wurden in der Bundesrepublik relativ üppig und fast ohne Kämpfe verteilt.

Das isolierte die radikale Linke in Deutschland. Nirgends sonst in Europa wurde die radikale Linke so marginalisiert wie in Deutschland.
Woanders in (West)Europa gab es auch soziale Beruhigungspillen, aber die wurden erkämpft, und in diesen Kämpfen wuchs und überlebte eine Linke, die ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung nicht verlor.

Gruß Wal Buchenberg

forces of laber

110 25.01.2006 - 23:54
1
nein wal, diesen schluss aus den daten von silvers buch zu ziehen ist nicht einzusehen, jedenfalls nicht ohne weitere erläuterung.

immerhin weisst bild 1 oben aus, dass um die zeiten der revolutionen 1905 oder 1918 hundert mal weniger getreikt und demonstriert wurde als z.b. während der rezession der späten zwanziger oder der zeit der 60iger jahre.

waren wir in den siebziger jahren einer weltweiten sozialitisch-revolutionären bewegung wirklich näher als heute ? oder näher als 1880 ? nur weil damals mehr gestreikt worden ist als 1880 und heute ?

oder wurde in den sechzigern nicht deswegen am meisten gestreikt, weil man wusste, dass aufgrund der wirtschaftlichen entwicklung (gewinne und wachstum in der westlichen welt) klar war, das was zu holen ist ?

vielleicht streikt es sich einfach nur leichter wenn man weiss, dass der streik einen unterschied von 3% lohnerhöhung oder 11% lohnerhöhung ausmachen kann. diese vorraussetzung war 1969 gegeben - was man von 1880 oder 2005 ja nicht gerade behaupten kann.
der revolutionäre geist der 68iger hat sicherlich nichts damit zu tun, denn er war - ganz im gegensatz zu der gründung und aktivität der arbeitervereine des vorletzten jahrhunderts - nur eine randeinscheinung
in der gesellschaft.


2
interessant bei der betrachtung der graphiken scheint mir das merkmal zu sein, dass sich alle daten nur auf lohnarbeiter-typische soziale bewegungen von lohnarbeitern beziehen.
fehlen tun in diesem bild die zahlen über arbeitslosigkeit, oder auch über die tatsache, dass die wirtschaft der USA und europas sich noch bis in die 30iger jahre zu einem gewissen teil auf sklavenarbeiter in afrika stützte.
(will sagen, einem noch sehr viel grösseren als heute)

nicht dass man von einem buch mit dem titel forces of labour etwas anderes erwartet hätte, trotzdem kommt man nicht umhin festzustellen das selbst marx niemals den zweck und die mittel sozialer bewegungungen so drastisch nur auf die revolutionäre klasse beschränkt hat.

es wird zeit für die soziologie sich mit den millionen arbeitslosen und selbstständigen unternehmern zu beschäftigen, denn die haben auch ängste, wünsche, hoffnungen und ideen, und ohne sie wird es die grosse revolution genausowenig geben wie erfolgreiche kleine kämpfchen, insbesondere für die spezifischen interessen dieser gruppen, aber auch für die gesamte gesellschaft, da sie einen nicht unerheblichen teil derselben ausmachen.

...





Korrektur

Wal Buchenberg 26.01.2006 - 07:46
Ich hatte geschrieben:
"Gewerkschaften sind Beruhigungspillen." Das ist falsch.
Es muss richtig heißen: "Gewerkschaften, die nicht kämpfen, sind Beruhigungspillen."

Sorry!

Wal

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