Vor den Parlamentswahlen in Palästina

Michele Giorgio + IMEMC 29.12.2005 17:56 Themen: Weltweit
Am 25.Januar 2006 sollen in der West Bank und im Gaza-Streifen Parlamentswahlen stattfinden, sofern es sich der Präsident der Autonomiebehörde Mahmud Abbas (Al-Fatah) nicht doch nochmal anders überlegt. In jedem Fall herrscht bereits jetzt viel Bewegung in der Parteienlandschaft, bis hin zur Spaltung der Fatah in zwei Listen. Die linke italienische Tageszeitung "il manifesto" brachte am 8.12.2005 dazu einen Überblick über die Parteienlandschaft und der International Middle East Media Center fasste am 13.12.2005 die Ergebnisse einer Meinungsumfrage des PSR zusammen
Eigentlich hätten die palästinensischen Parlamentswahlen bereits vor 6 Monaten stattfinden sollen, doch da sich Mahmud Abbas alias „Abu Mazen“, der Präsident der Autonomiebehörde, um das Ergebnis seiner Fatah-Partei sorgte, verschob er die Wahl kurzerhand in bester autokratischer Manier auf unbestimmte Zeit und setzte sie später (nach zahlreichen Protesten einerseits und steigenden Werten für Al-Fatah andererseits) auf den 25.Januar 2006 fest. Dieser Wahltermin sorgt nun für erhebliche Bewegung in der politischen Landschaft und – zum Leidwesen von Abbas – auch zur Spaltung der Fatah, die mit zwei konkurrierenden Listen antreten wird. Nachdem die jüngere Garde (in einem äußerst fragwürdigen Bündnis des eher linken Marwan Barghuti mit dem pro-imperialistischen Warlord Dahlan) bei Fatah-internen Vorwahlen einen überwältigenden Sieg errungen hatte, versuchte Abbas wiederum autokratisch von oben diverse Vertreter der korrupten und verschlissenen alten Garde durchzusetzen, was misslang und teilweise zu chaotischen Zuständen und gewaltsamen Zusammenstößen führte. Noch bevor diese Entwicklung innerhalb der Fatah abgeschlossen war, brachte die linke italienische Tageszeitung „il manifesto“ am 8.12.2005 den folgenden Überblick über die politische Szenerie in den besetzten Gebieten:

Palästina: Große Manöver, um Al-Fatah zu schlagen

Auf dem Weg zur Wahl: Eine neue Liste gefährdet Mustafa Barghuti. Linksbündnis. Hamas im Vorteil.

MICHELE GIORGIO – Jerusalem

Die Registrierung der Listen, die an den palästinensischen Parlamentswahlen am 25.Januar teilnehmen, geht weiter, während Al-Fatah (die Mehrheitspartei) ihre an verschiedenen Orten von Gewalttaten überschatteten, chaotischen Vorwahlen noch nicht abgeschlossen hat. Vorgestern präsentierte Dr. Mustafa Barghuti (eine der meistgeschätzten Persönlichkeiten und Hauptgegner von Abu Mazen bei den Präsidentschaftswahlen am 9.Januar 2005) in Ramallah die 25 Vertreter der Zivilgesellschaft, die mit ihm zusammen die Liste „Unabhängiges Palästina“ bilden werden. Es handelt sich um Namen, die im Ausland nicht bekannt sind, in Cisjordanien und Gaza allerdings Wertschätzung genießen und die – Barghuti zufolge – unter jenen Palästinensern, die sich nicht mit Hamas und Al-Fatah identifizieren und an die Schaffung eines souveränen, laizistischen und demokratischen palästinensischen Staates glauben, viele Stimmen erhalten werden. Der Arzt zeigte sich zuversichtlich, einen bedeutenden (wenn auch minoritären) Anteil der Wählerschaft erreichen zu können und das auch dank der Unterstützung, die er von Haider Abdel Shafi, einem der Väter der palästinensischen Demokratie bekommen hat.

In Wahrheit haben sind die Dinge für Barghuti vor einigen Tagen unvorhergesehenerweise komplizierter geworden als der ehemalige Finanzminister Salam Fayad, ein Unabhängiger mit einer Vergangenheit als Funktionär der Weltbank, wissen ließ, dass er mit einer eigenen Liste antreten wolle, auf der Persönlichkeiten wie die Bürgerrechtsaktivisten Hanan Ashrawi und Iyad Sarraj, der Wirtschaftswissenschaftler Khaled Abdel Shafi und Abdel Qader Hussein, Sohn des vor vier Jahren verstorbenen, unvergessenen Vertreters von Ostjerusalem stehen werden. Auch diese Formation behauptet von sich, einen alternativen „dritten Pol“ zur Hamas-Al-Fatah-Herrschaft repräsentieren zu wollen. „Der Bipolarismus tut einer sich entwickelnden Demokratie nicht gut“, erklärte Hanan Ashrawi im Radiosender Stimme Palästinas. „Unsere Partei wehrt sich gegen die Vorherrschaft von Al-Fatah und Hamas und trägt zur Entwicklung unserer Institutionen sowie zur Umsetzung der innenpolitischen Reformen bei.“ Salam Fayads und Hanan Ashrawis Partei fordert jedoch auch die Formationen der palästinensischen Linken heraus, die in der Gesellschaft bereits heute nur eine sehr begrenzte Zustimmung genießen, weil sie nicht in der Lage waren, glaubwürdige und alternative Programme zu denen der Fatah und der Islamisten vorzulegen.

Trotzdem haben drei Formationen (die Demokratische Front DFLP, die FIDA und die ehemals kommunistische Volkspartei PPP) angekündigt, dass sie mit einer gemeinsamen Liste antreten und endlich einen Schritt nach vorn machen werden (verglichen mit dem Immobilismus der letzten Jahre). Der bedeutendste Name dieser Formation ist der von Saleh Rafat (Abu Kais), einem historischen Führer der PLO, der die Sehnsucht der jüngeren Palästinenser (d.h. der Mehrheit der Bevölkerung) nach Erneuerung aufgegriffen hat. Die Volksfront ((PFLP)) wird hingegen allein antreten, mit ihrem Sekretär Ahmed Saadat an der Spitze, der seit 2002 in einem Gefängnis der Autonomiebehörde sitzt, weil er beschuldigt wird, der Auftraggeber der Ermordung des Ministers und Führers der israelischen extremen Rechten, Revaham Zeevi, zu sein. Im Hause Al-Fatah ist die Konfusion souveräne Herrscherin.

Die neue Generation hat die Vorwahlen in Cisjordanien gewonnen und nun kursieren Gerüchte, denen zufolge Abu Mazen bereit ist, das Ergebnis der parteiinternen Wahlen zu entstellen, um viele jener führenden Vertreter der alten Garde, die außen vor gehalten wurde, auf die Liste der 132 Kandidaten für die Parlamentswahlen am 25.Januar zu setzen. In Gaza haben die Männer des Ministers für zivile Angelegenheiten, Mohammed Dahlan, fast überall gewonnen (auch in Rafah). Halblaut richten Viele den Finger auf Dahlan, der, wie sie sagen, seine Unterstützer in der Fatah dazu angestachelt habe, überall dort die Wahllokale anzugreifen, wo Kandidaten seiner Rivalen zum Sieger erklärt wurden. Diese beließen es nicht dabei, dem ((tatenlos)) zuzusehen. „Unbekannte“ eröffneten vor zwei Tagen, zwecks Einschüchterung, das Feuer auf Rafat Sadallah, den wichtigsten Verbündeten Dahlans in der Stadt Khan Yunis, wo kurz darauf ein Polizist bei einer Schießerei mit Beamten der Präventiven Sicherheitsdienste getötet wurde.

Zu Gewalttaten kam es auch bei der Fehde zwischen den Familien Kafarneh und Masri, die Samstagnacht in Beit Hanun, nördlich von Gaza, 5 Tote forderte. Ein heißes Klima, das den Hamas-Wahlkampf begünstigt, die eine Liste mit neuen Gesichtern und ohne ihre bekanntesten Führer präsentieren wird. Gestern kündigte der Sprecher der islamischen Bewegung, Sami Abu Zuhri, an, dass Hamas bereit ist, sofort nach den Wahlen im Januar mit anderen Parteien parlamentarische Bündnisse zu schließen.


((Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in doppelten Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover))

Das palästinensische Meinungsforschungsinstitut Center for Policy and Survey Research (PSR) führte vom 6.-8.Dezember 2005 mit Blick auf die für den 25.Januar 2006 angesetzten Parlamentswahlen in den besetzten Gebieten eine Umfrage zu den Wahlabsichten und ihren Hintergründen durch, die der International Middle East Media Center (www.imemc.org) im folgenden Artikel vom 13.12.2005 zusammenfasste. Daraus ergibt sich ein deutlicher Stimmenzuwachs für die reichlich verschlissene Hauptregierungspartei Al-Fatah. Was im krassen Gegensatz zu den hierzulande verbreiteten Hiobsbotschaften über einen drohenden Sieg (wenn nicht gar: Erdrutschsieg) der „radikalen Hamas“ (siehe z.B. „Neues Deutschland“ vom 21.12.05) steht. Bei Durchführung der Umfrage war die tiefe Zerstrittenheit der Fatah (in der sich die, vorsichtig ausgedrückt, sehr heterogen zusammengesetzte, „junge Generation“ um Marwan Barghuti und Mohammed Dahlan und die „alte Garde“ von Autonomiebehörden-Präsident Abbas, Ministerpräsident Kurei und PLO-Chef Quaddoumi gegenüberstehen) und das innerparteiliche Chaos bereits offenkundig. Insofern dürfte auch die letztendliche, durch Abbas’ autokratische Teilannullierung der Fatah-Vorwahlen ausgelöste, Spaltung in zwei konkurrierende Fatah-Listen zu keinen großen Verschiebungen geführt haben, da die Imageverluste durch die Anziehungskraft der Wahlliste der „unverbrauchten jungen Generation“ wieder aufgewogen wird und bereits eine enge Kooperation nach der Wahl, wenn nicht sogar noch eine Zusammenlegung vor dem Urnengang vereinbart und der Riss somit weitestgehend gekittet wurde.
Die Umfrage zeigt im Übrigen auch die Ermüdungserscheinungen der palästinensischen Bevölkerung und das damit zusammenhängende Nachlassen der Unterstützung für die 2. (die bewaffnete) Intifada. Stattdessen rücken die soziale Frage (Armut und Arbeitslosigkeit) und innenpolitische Themen (wie die Korruptionsbekämpfung) in den Vordergrund.

Wahlabsichten bei den anstehenden Parlamentswahlen: Fatah mit weiteren Zugewinnen

IMEMC & Nachrichtenagenturen, 13.Dezember 2005 (8:01 Uhr)

Eine öffentliche Meinungsumfrage zu den Wahlabsichten bei den anstehenden Parlamentswahlen, die vom palästinensischen Center for Policy and Survey Research (PSR) in der West Bank und im Gaza-Streifen durchgeführt wurde, zeigt, dass die Fatah-Bewegung weitere Zugewinne macht. Insgesamt wurden vom 6.-8.Dezember 2005 1.316 Erwachsene an 118 zufällig ausgewählten Orten von Angesicht zu Angesicht befragt. Der von Dr. Khalil Shikaki (dem Direktor des PSR) beaufsichtigten Umfrage zufolge lauteten die Resultate:

• Wenn heute Wahlen stattfänden, zeigen die Befunde, dass 78% der Palästinenser daran teilnehmen würden (verglichen mit 74% im September 2005). Von denjenigen, die die Absicht haben, an den anstehenden Parlamentswahlen teilzunehmen, wollen 50% die Fatah wählen, 32% die Hamas, 9% andere Gruppen und Fraktionen (einschließlich unabhängiger Kandidaten) und 9% sind weiterhin unentschlossen. Im September erhielt die Fatah 47% der Stimmen, während Hamas auf 30% und andere Fraktionen auf 11% kamen. 11% waren unentschlossen. Im Gaza-Streifen stieg das Votum für Al-Fatah im selben Zeitraum von 47% auf 53%.

• Armut / Erwerbslosigkeit ist in den Augen von 37% der Öffentlichkeit das ernsteste Problem, mit dem die Palästinenser heute zu kämpfen haben, gefolgt von Korruption und israelischen Besatzungsmaßnahmen (jeweils 25%) und schließlich innenpolitischer Anarchie und Chaos (12%). Im September kam das Thema Armut / Erwerbslosigkeit auf 40%, Besatzung und Korruption jeweils auf 25% und innenpolitische Anarchie auf 8%.

• Von einer Liste mit 8 entscheidenden Überlegungen für die Stimmabgabe bei den Parlamentswahlen, entfielen auf:

1. die Fähigkeit zur Korruptionsbekämpfung 30%,
2. den Namen oder die Parteibindung auf der Liste 15%,
3. und 4. die Fähigkeit zur Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen und zum Erreichen eines Friedensabkommens mit Israel jeweils 13%,
5. die Fähigkeit zur Wahrung der nationalen Einheit 9%,
6. die Fähigkeit zur Durchsetzung von Recht und Ordnung 8%,
7. die Fähigkeit zum Schutz der Flüchtlingsrechte in Verhandlungen 7% und
8. die Fähigkeit zur Gewährleistung der Fortsetzung der Intifada 4%.

Diese Rangfolge ähnelt derjenigen der September-Resultate, mit Ausnahme der ersten Überlegung, auf die vor drei Monaten 24% entfielen.

• In einem detaillierten Vergleich der Fähigkeiten der verschiedenen Gruppen in Bezug auf 7 der von den Wählern als entscheidend angesehenen Überlegungen wird die Fatah bei fünfen und die Hamas bei zweien als am fähigsten betrachtet. Diese Ergebnisse sind ähnlich den im September erzielten, wobei die Fatah den Abstand zur Hamas zu ihren Gunsten vergrößern konnte.

Al-Fatah wird als am ehesten fähig betrachtet, die Wirtschaftslage zu verbessern (hier erhält sie 50% gegenüber 30% für die Hamas), den Friedensprozess voranzubringen (66% gegenüber 21% für Hamas), die nationale Einheit zu wahren (47% gegenüber 36% für Hamas), die Flüchtlingsrechte zu wahren (48% gegenüber 36% für Hamas) und Recht und Ordnung herzustellen (56% gegenüber 31% für Hamas). Hamas wird als am ehesten fähig betrachtet die Korruption zu bekämpfen (48% gegenüber 36% für Al-Fatah) und die Fortsetzung der Intifada zu gewährleisten (64% gegenüber 24% für Al-Fatah).

• Die öffentliche Zufriedenheit mit der Amtsführung des Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, steht bei 62% (verglichen mit 64% im September). Bei dieser Befragung sagen 34%, dass sie mit Abbas’ Amtsführung nicht zufrieden sind.

• In einer geschlossenen Frage liegt (im Kampf um den Posten des Präsidenten der Autonomiebehörde zwischen Mahmud Abbas, Mahmud Zahar und Mustafa Barghuti ((ehem. KP, jetzt bevorzugter palästinensischer Politiker der Antiglobalisierungsbewegung))) Abbas mit 41% an erster Stelle, gefolgt von Zahar mit 21% und Barghuti mit 19%. Diese Ergebnisse ähneln den bei unserer letzten Umfrage im September 2005 ermittelten.

• In einer weiteren geschlossenen Frage mit einer Liste von 8 Kandidaten erreicht (im Kampf um das Amt des Vizepräsidenten) Marwan Barghuti ((Fatah West Bank und links von Abbas angesiedelt)) mit 30% die größte Zustimmung, gefolgt von ((dem pro-westlichen Fatah-Warlord aus Gaza)) Mohammed Dahlan mit 14%, Ismail Haniyyah (13%), Mahmud Zahar (11%), Mustafa Barghuti (8%), Saeb Erekat und Faruk Quaddoumi (jeweils 6%) und schließlich Ahmed Kurei (3%). Die Prozentsätze bei der September-Umfrage waren wie folgt:

24% für Marwan Barghuti, 9% für Dahlan, 13% für Haniyyah, 14% für Zahar, 9% für Mustafa Barghuti, 6% für Erekat, 8% für Quaddoumi und 6% für Kurei.

• In einer geschlossenen Frage mit einer Liste von 5 Kandidaten (im Kampf um das Amt des Ministerpräsidenten) liegt Marwan Barghuti mit 36% an der Spitze, gefolgt von Zahar mit 20%, Mustafa Barghuti mit 14%, Dahlan mit 11% und Kurei mit 6%. Im September erhielt Marwan Barghuti 30%, Zahar 22%, Mustafa Barghuti 17%, Dahlan 8% und Kurei 8%.

• In der gesamten Bevölkerung (d.h. denen, die die Absicht haben an den Wahlen teilzunehmen und denen, die zu Hause bleiben) erreicht die Unterstützung für Al-Fatah 45% und für Hamas 28%. Im September belief sich die Unterstützung für die Fatah auf 39% und für Hamas auf 27%. Die Unterstützung für die Fatah stieg im selben Zeitraum im Gaza-Streifen von 40% auf 49%.


((Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in doppelten Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover))
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