Eine andere Staatskritik I.

Wal Buchenberg 21.11.2005 13:11 Themen: Globalisierung
Gemeinhin beginnen kritische wie unkritische Darstellungen des Staates mit seiner Ausgabenstruktur. Es wird festgestellt, welche Bereiche der Staat "bedient" und mit welchem Umfang.Je nach Weltanschauung wird anschließend die spezielle Aufteilung des "Staatskuchens" oder seine Größe ("Staatsquote") bemängelt und kritisiert.Diese Sichtweise hat gleich mehrere Schwächen.
Gemeinhin beginnen kritische wie unkritische Darstellungen des Staates mit seiner Ausgabenstruktur. Es wird festgestellt, welche Bereiche der Staat "bedient" und mit welchem Umfang.
Je nach Weltanschauung wird anschließend die spezielle Aufteilung des "Staatskuchens" oder seine Größe ("Staatsquote") bemängelt und kritisiert.
Diese Sichtweise hat gleich mehrere Schwächen.

Erstens betrachtet sie unseren Staat nicht als Teilbereich der kapitalistischen Wirtschaft, sondern als eigene Sphäre, die scheinbar außerhalb "der Wirtschaft" angesiedelt ist.
Zweitens betrachtet diese Sicht den bürgerlichen Staat als scheinbar frei handelndes Subjekt ohne die Zwänge, die die kapitalistische Konkurrenz auf alle Wirtschaftssubjekte ausübt ("Primat der Politik" über die Wirtschaft).
Drittens betrachtet diese Herangehensweise den bürgerlichen Staat als homogenes Ganzes, das einheitlich und geschlossen wie ein einziger Unternehmer handeln könne. Auch das ist eine Illusion und traf nicht einmal auf den "Führerstaat" der Nazis zu.

Die Ausgabenstruktur des Staates zu betrachten und daraus irgendwelche wirtschaftspolitischen Ratschläge und Forderungen abzuleiten, ist ebenso affirmativ, als wenn jemand den Siemens-Konzern daraufhin analysiert, in welchen Wirtschaftsbranchen er tätig wird und in welchem Verhältnis diese Sektoren zueinander stehen. Man kann daraus vielleicht Empfehlungen an das Management ableiten. Die Lohnarbeiter und ihre Interessen kommen dabei nicht vor.

Mein folgender Essay ist ein Versuch, eine andere Staatskritik zu leisten. Ich will ausgehen von grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Wirtschaft und den Blick darauf richten, wie sich unser Staat da einfügt und welche Rolle er dabei spielt.

Ich bitte die LeserInnen um Geduld, wenn ich mich bei meiner Staatskritik auf Karl Marx berufe. Ich werde niemand mit abstrakten Marx-Zitaten abspeisen ohne konkret zu werden, sondern werde versuchen, meine Thesen mit Daten und Fakten unserer bundesrepublikanischen Wirklichkeit zu belegen und zu stützen. Marx-Zitate sind hier Vorspeise oder Dessert, nicht das Hauptgericht.

Ich entschuldige mich im Vorhinein, insofern mir im Detail Fehler und Nachlässigkeiten unterlaufen sind. Ich bin für jede sachliche Korrektur dankbar.

1. Erstes Stadium: Kapitalistischer Warenverkauf W' - G'
Ich beginne meine Analyse der Rolle des Staates in der kapitalistischen Wirtschaft mit dem Warenprodukt eines Jahres W'. Die jährliche Produktionsleistung der Lohnarbeiter in der Bundesrepublik sind hier vorgestellt als eine produzierte Gesamtmenge, die nun auf den Verkauf wartet.

1.1. Vermarktung und Infrastruktur
"Die Funktion von W′ ist nun die alles Warenprodukts: sich in Geld zu verwandeln, verkauft zu werden, die Zirkulationsphase W – G durchzumachen." MEW 24, 45.

Die Geschwindigkeit, mit der sich Ware in Geld verwandelt, spielt eine zentrale Rolle für das Kapital. Der Produktionsprozess kann nicht wiederholt werden, bevor nicht die produzierte Ware vollständig verkauft und in Geld verwandelt worden ist - es sei denn es wird zusätzliches Kapital eingesetzt.
Die Schnelligkeit, mit der diese Verwandlung von Ware in Geld gelingt, hängt ab von der Nähe des Marktes und der Größe des Absatzmarktes. Nähe und Größe des Marktes sind jedoch nicht einfach durch natürliche Bedingungen gegeben, sondern werden in hohem Maße beeinflusst durch das, was gemeinhin "Infrastruktur" genannt wird: Verkehrswege und Kommunikationsmittel.

Eine verbreitete Definition von "Infrastruktur" stammt von Jochimson (1962/66). Infrastruktur ist danach die "Gesamtheit der materiellen und personellen Einrichtungen und Gegebenheiten", die der kapitalistischen Wirtschaft zur Verfügung stehen, und "dazu beitragen, dass gleiche Faktorentgelte für gleiche Faktorleistungen bei zweckmäßiger Allokation der Ressourcen gezahlt werden." Auf Deutsch: "Infrastruktur" sind versorgungsnotwendige Basisfunktionen des Kapitalismus für einen "optimalen Markt".

"Die Geschwindigkeit, womit das Produkt eines Produktionsprozesses als Produktionsmittel in einen anderen Prozess übergehen kann, hängt ab von der Entwicklung der Transport- und Kommunikationsmittel. Die Billigkeit des Transports spielt eine große Rolle dabei." K. Marx, Kapital II, MEW 24, 144.
"Eine stetig wirkende Ursache in der Differenzierung der Verkaufszeit, und daher der Umschlagszeit überhaupt, ist die Entfernung des Markts, wo die Ware verkauft wird, von ihrem Produktionsplatz. Während der ganzen Zeit seiner Reise zum Markt befindet sich das Kapital gebannt in den Zustand des Warenkapitals; wenn auf Bestellung produziert wird, bis zum Moment der Ablieferung; wenn nicht auf Bestellung produziert, kommt zur Zeit der Reise zum Markt noch die Zeit hinzu, wo die Ware sich auf dem Markt zum Verkauf befindet.
Verbesserung der Kommunikations- und Transportmittel kürzt die Wanderungsperiode der Waren absolut ab, hebt aber nicht die aus der Wanderung entspringende relative Differenz in der Umlaufszeit verschiedener Warenkapital auf, ... die nach verschiedenen Märkten wandern." K. Marx, Kapital II, MEW 24, 252.

"Die relativen Differenzen können aber infolge der Entwicklung der Transport- und Kommunikationsmittel verschoben werden in einer Weise, die nicht den natürlichen Entfernungen entspricht. Z. B. eine Eisenbahn, die von dem Produktionsplatz zu einem inländischen Hauptzentrum der Bevölkerung führt, mag die Entfernung nach einem näher gelegenen Punkt des Inlands, wohin keine Eisenbahn führt, absolut oder relativ verlängern im Vergleich zu dem natürlich entfernteren; ebenso mag infolge desselben Umstands die relative Entfernung der Produktionsplätze von den größeren Absatzmärkten selbst verschoben werden, woraus sich der Verfall alter und das Aufkommen neuer Produktionszentren mit veränderten Transport- und Kommunikationsmitteln erklärt. (Hierzu kommt noch die größere relative Billigkeit des Transports für längere als für kürzere Distanzen.)" K. Marx, Kapital II, MEW 24, 252.

"Wenn einerseits mit dem Fortschritt der kapitalistischen Produktion die Entwicklung der Transport- und Kommunikationsmittel die Umlaufszeit für eine gegebene Menge Waren abkürzt, so führt derselbe Fortschritt ... umgekehrt die Notwendigkeit herbei, für immer entferntere Märkte, mit einem Wort, für den Weltmarkt zu arbeiten. ...
Damit wächst gleichzeitig auch der Teil des gesellschaftlichen Reichtums, der, statt als direktes Produktionsmittel zu dienen, in Transport- und Kommunikationsmitteln und in dem für ihren Betrieb nötigen fixen und zirkulierenden Kapital ausgelegt wird." K. Marx, Kapital II, MEW 24, 254.

Da die Errichtung der Verkehrs- und Kommunikationsmittel hohe Kapitalkosten verursacht, aber in ihrem Gebrauch wenig oder keine Einnahmen bringt, werden ihre Kosten über Steuermittel auf die ganze Gesellschaft umgelegt und vom Staat als Treuhänder des Kapitals verwaltet.
Nach Hirschmann zeichnen sich die Anlagen der Infrastruktur durch einen "hohen Kapitalkoeffizienten, technologische Unteilbarkeit und lange Lebensdauer" aus. Sie werfen kaum oder keinen Profit ab und befinden sich daher "entweder im Eigentum der öffentlichen Hand oder aber unterliegen ihrer Kontrolle."

"Das Kapital treibt seiner Natur nach über jede räumliche Schranke hinaus. Die Schöpfung der physischen Bedingungen des Austauschs – von Kommunikations- und Transportmitteln – wird also für es in ganz anderem Maße zur Notwendigkeit – die Vernichtung des Raums durch die Zeit.
Insofern das ... Produkt nur massenhaft verwertet werden kann auf fernen Märkten im Maße als die Transportkosten abnehmen und insofern andererseits Kommunikationsmittel und Transport selbst nur Sphären der Verwertung, der vom Kapital betriebenen Arbeit darstellen; insofern massenhafter Verkehr stattfindet – wodurch mehr als die notwendige Arbeit ersetzt wird –, ist die Produktion billiger Transport- und Kommunikationsmittel Bedingung für die auf das Kapital gegründete Produktion und wird daher von ihm hergestellt." K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 423.

Sofern diese Transport- und Kommunikationsmittel nicht nur sachlicher Natur sind als Straßen- oder Funknetz und Telefonleitungen zum Beispiel, sondern auch Arbeit bedürfen, sind solche Arbeiten für das Kapital produktiv, die Arbeiter, die hier beschäftigt sind, - egal ob unter einem privaten oder öffentlichen Kommando -, sind Teil des produktiven Gesamtarbeiters.

"Produktmassen vermehren sich nicht durch ihren Transport. ... Aber der Gebrauchswert von Dingen verwirklicht sich nur in ihrer Konsumtion, und ihre Konsumtion mag ihre Ortsveränderung nötig machen, also den zusätzlichen Produktionsprozess der Transportindustrie. Das in dieser angelegte produktive Kapital setzt also den transportierten Produkten Wert zu, teils durch Wertübertragung von den Transportmitteln, teils durch Wertzusatz vermittelst der Transportarbeit. Dieser letztere Wertzusatz zerfällt, wie bei aller kapitalistischen Produktion, in Ersatz von Arbeitslohn und in Mehrwert." K. Marx, Kapital II, MEW 24, 151.

"Die Transportindustrie bildet einerseits einen selbständigen Produktionszweig, ... Andererseits unterscheidet sie sich dadurch, dass sie als Fortdauer eines Produktionsprozesses innerhalb des Zirkulationsprozesses und für den Zirkulationsprozess erscheint." K. Marx, Kapital II, MEW 24, 153.

Die Dichte und der technische Stand der Verkehrs- und Kommunikationsmittel für den Transport von Gütern und Informationen beeinflusst also direkt sowohl die Masse der Waren, die umgeschlagen werden können, indem sie den Markt ausdehnen und vergrößern, als auch die Geschwindigkeit, mit der das geschieht. Die Zeit, in der das Kapital quasi "unproduktiv" in dieser Zirkulationssphäre verbleiben muss, wird verkürzt. Je dichter und effektiver eine Infrastruktur ist, desto höher ist die Durchschnittsprofitrate des gesellschaftlichen Kapitals.

1.2. Der Staat als Konsument
Die Lohnarbeiter in der Bundesrepublik schaffen derzeit eine jährliche Waren- und Dienstleistungsmenge W' im Wert von rund 2000 Mrd. Euro.
Diese Warenmenge gehört der Kapitalistenklasse und muss Käufer finden, damit diese Menge Warenkapital sich in eine gleichwertige Menge Geldkapital verwandeln kann.
Wie man weiß oder wissen sollte, geschieht diese Verwandlung des Warenkapitals in Geldkapital nicht in einem Stück. Es stehen deshalb der Warenmenge W' nicht eine Geldmenge im Wert von 2000 Mrd. Euro gegenüber. Tatsächlich lief im März 2005 eine Geldmenge (M1) von rund 680 Mrd. Euro um, wobei jeder Euro durch dreimaligen Umlauf eine Warenmenge von dreifachem Wert Hände wechseln lässt und die Verwandlung von Ware 2000 in Geld, W - G, vollziehen hilft.

Die jährlich in Deutschland produzierte Warenmenge W' im Wert 2000 Mrd. Euro muss mindestens ausreichen, um die Konsumgüter zu reproduzieren, die die Einwohner der BRD jährlich verbrauchen, und sie muss mindestens ausreichen, um die Produktionsmittel zu ersetzen, soweit diese durch die Produktion eines Jahres verbraucht und verschlissen wurden. Notwendigerweise teilt sich die jährliche Warenmenge W' in Produktionsmittel und Konsumtionsmittel.

In Deutschland ist dieses Mengenverhältnis der Produktionsmittel zu den Konsumtionsmittel rund 40 zu 60. Eine Warenmenge im Wert von 1200 Mrd. Euro existiert in einer Form, die für den individuellen Verbrauch bestimmt ist, und 40 Prozent der Warenmenge - im Wert von 800 Mrd. Euro - existiert in einer Form, die für den produktiven Verbrauch bestimmt ist.

Die Käufer der Warenmenge 800 (Produktionsmittel) sind die Kapitalisten und der Staat, soweit er Investitionsgüter kauft. Die Käufer der Warenmenge 1200 (Konsumtionsmittel) sind alle gesellschaftlichen Klassen: Kapitalisten, aktive und passive Lohnarbeiter und unproduktive Arbeiter, bzw. Nichtarbeiter (Rentiers etc.).

Betrachten wir zunächst die Produktionsmittel (800 Mrd. Euro). Der Staat kauft davon Waren und Leistungen im Wert von 40 Mrd. Euro, also 5%. Das sind produktive staatliche Investitionen und Bauvorhaben. 95% der neugeschaffenen Produktionsmittel im Wert von 760 Mrd. Euro ersetzen die im Laufe des Jahres verbrauchten Produktionsmittel der Kapitalisten (vom Export wird hier abgesehen).

Von den Konsumtionsmitteln kauft der Staat laufende Sachmittel im Wert von rund 210 Mrd., die für den Unterhalt aller staatlichen Einrichtungen, von der Bundeswehr bis hin zu Schulen benötigt werden. Hinzu kommen noch die Konsumtionsmittel für den Lebensunterhalt des Staatspersonals von 180 Mrd. Euro.

Von der in einem Jahr produzierten Gesamtwarenmenge im Wert von 2000 Mrd. Euro kauft und verbraucht der bundesdeutsche Staat also rund 20 Prozent:
- 9 Prozent (180 Mrd.) für das Staatspersonal;
- 2 Prozent (40 Mrd.) für Investitionen und Baumaßnahmen;
- 10 Prozent (210 Mrd.) für laufenden Sachaufwand.
(Gerundete Werte aus dem Zeitraum 2000 bis 2004.)

Siehe die Grafik Staatsverbrauch:


Am Staatsverbrauch setzen alle linken Reformvorschläge ein, die sich auf John Maynard Keynes berufen: Unter Berufung auf Keynes wird behauptet, dass es den Lohnarbeitern umso besser ginge, je mehr der Staat verbraucht. Eine absurde Behauptung.

Jede Warenmenge, die der Staat zusätzlich verbraucht, muss von den Lohnarbeitern auch zusätzlich geschaffen werden. Zusätzlicher Staatsverbrauch kostet die Lohnarbeiter vor allem zusätzliche Arbeit. Das zusätzliche Arbeitsprodukt landet jedoch nicht in den Händen der Arbeiter, sondern in den Fängen des Staates. Die zusätzlich geschaffene Produktmenge verbessert nicht den Lebensstandard der Lohnarbeiter, sondern vermehrt nur die (Macht)Mittel des Staates.

Die Ideen des linken Keynsianismus ruhen auf folgender Argumentationskette:
Der Staat verbraucht mehr und erhöht die Nachfrage. Die Kapitalisten produzieren mehr und stellen dafür zusätzliche Arbeiter ein.
Was der Keynsianismus "für die Lohnarbeiter" wirklich erreicht, ist eine Ausdehnung der Lohnarbeit auf mehr Menschen. Mehr Menschen werden in die kapitalistische Ausbeutungsmühle gesteckt. Das mag "links" nennen, wer will, von Vorteil für die Lohnarbeiter ist es nicht. Der Keynsianismus bietet keinen Ausweg aus der Lohnarbeit, sondern verallgemeinert die Lohnarbeit und weitet sie auf mehr Personen aus.

Für die Kapitalistenklasse ist der Keynsianismus eine zusätzliche Melkmaschine, um noch mehr Profite aus der Staatskuh zu saugen. Das zusätzliche Futter für die heilige Staatskuh heißt zusätzliche Arbeit der Lohnarbeiter.

Es gibt für das Kapital keinen profitableren Kunden als die "öffentliche Hand". Man vermutet, dass die Profite bei Staatsaufträgen das Drei- oder Vierfache von dem betragen, was bei privaten Auftraggebern zu holen ist.
Zur Illustration kann man die jährlichen Berichte über staatliche "Verschwendung" des Bundesrechnungshofes lesen. Was in öffentlichen Rechnungsbüchern als Verschwendung erscheint, das sind satte Extraprofite in den Einnahmenbüchern von Kapitalisten.

Der "Bund der Steuerzahler" schätzte die staatliche Verschwendung auf bis zu 60 Milliarden Schwarzbuch 2001.

60 Milliarden "Verschwendung" bei 400 Milliarden Staatskonsum heißt nichts anderes, als dass die Kapitalistenklasse dem Staat Waren im Wert von 340 Mrd. geliefert hat, aber der öffentlichen Hand dafür 400 Mrd. Euro abknöpft.
Dieses "verschwendete" Geld ist keineswegs verschwunden, sondern wurde aus öffentlichen Mitteln privatisiert. Es wanderte aus dem Staatssäckel in die Taschen der Kapitalisten.

Wal Buchenberg für Indymedia, 21.11.05

(zweiter Teil folgt)















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Ergänzungen

einschränkung

tagmata 21.11.2005 - 15:27
keynes empfahl seinen ansatz zur behebung einer absatzkrise, also wenn die potentiell produzierbare warenmenge nicht mehr verkauft werden kann, und nicht als panaceum, um mehr leute in lohnarbeitsverhältnisse zu kriegen. prinzipiell haben wir da die dichotomie des nachfrageorientierten (keynes) und des angebotsorientierten (neoklassik) wirtschaftens - bei letzterem wird davon ausgegangen, daß entlassungen/reallohnsenkungen eine verbilligung der produktion bewirken, die sich dann, obzwar konsumentInnen weniger geld zur verfügung haben (im durchschnitt) qua angebot-nachfrage-dynamik auf die preise niederschlägt. prinzipiell ist nachfrageorientiertes wirtshcaften also, konsumentInnen geld zugeben mit dem auftrag: verballert es, und angebotsorientiertes, kapitalistInnen geld zu geben mit dem gleichen auftrag. rein rechnerisch sollte sich bei beiden ansätzen eine meßbare erhöhung der wirtschaftlichen leistung ergeben, was aber wiederum bei beiden strikt im rahmen der kapitalistischen logik liegt und nix über die lebensumstände der menschen aussagt.

es ist nun so, daß die momentane situation in der brd die direkte konsequenz einer neoliberalen/neoklassischen politik, begonnen unter kohl ist; realweltlich gesehen fährt der angebotsorientierte ansatz also gegen die wand (weil im realen kapitalismus kartellbildung, globalstrategische überlegungen etc die theoretisch postulierte angebots-nachfrage-dynamik ad absurdum führen). ob keynes ansatz, selbst in seinem eigenen konzeptuellen rahmen, besser ist, ist noch zu beweisen; er wurde nie umfassend angewandt. bofinger ist der einzige nennenswerte schlips in der brd, der einen eher nachfrageorientierten ansatz vertritt.

in den usa und uk hat eine ebenso neoligberal/neoklassische politik (die neoliberale unheiligkeit war ja reagan-thatcher-kohl) zu anderen konsequenzen geführt; in den usa ist am bedeutendsten zb eine horrende privatüberschuldung, in uk gings mehr auf den sozial- und gesundheitssektor (der in den usa nie in dieser form - als staatliche aufgabe - existiert hat; daß in london auf einmal alte leute im winter zu dutzenden erfroren, weil sie keine kohle mehr zum heizen hatten, war unter thatcher dann ein ziemliches novum). diese unterschiede sind natürlich in der unterschiedlichen geschichte des verhältnis von staatlicher und privater wirtschaft in den 3 staaten begründet, und in der unterschiedlichen rolle, die staatliche sozialsicherung historisch hatte, und darin, womit die 'geldgeschenke' des staats an die privatwirtschaft gegenfinanziert wurden (in den usa zb mit einer immensen erhöhung der auslandsverschuldung). es fällt auf, daß die usa, wo du als armer mensch nie sonderlich hilfe vom staat erwarten durftest (social security ist ein ziemliches novum innerhalb des historisch gewachsenen sozialkonzepts des landes), eine verzögerte und weniger offene sichtbarwerdung öffentlicher perkarisierung als konsequenz von reaganomics hatten als das uk, wo 'gewohnte' sozialprogramme zusammengestrichen wurden - der in der brd ablaufende prozeß ähnelt insofern als daß sozialsicherung nahezu seit gründung des modernen deutschland (1871) als staatliche aufgabe verstanden wurde (auch wenn bismarck und willi der erste damit den sozialisten den wind aus den segeln nehmen wollten), natürlich eher dem im uk ablaufenden als dem in den usa insofern als daß prekarisierungstendenzen eher abrupt sichtbar werden als als kontinuierlicher, schleichender prozeß: im gegensatz zu den usa, wo dinge wie suppenküchen etc schon vor langer zeit zwangsläufig evolvieren mußten (da sonst die soziale kohärenz in gefahr gewesen wäre), gibt es in der brd, wie auch im uk damals, keinen nativen bereich nicht-staatlicher sozialfürsorgen für prekarisierte und ultraprekarisierte, der nennenswerten umfang hat; wie schwer es fällt, obdachlosenspeisungen, volxküchen etc einzurichten, spricht eine deutliche sprache.

letzten endes aber ist das endresultat das gleiche: das entstehen von oft (im)migrantisch geprägten ghettos oder slums in den randbereichen der metropolen, und white-trash-qurtieren der prekarisierten alteingesessenen im ruralen raum. in den usa und großbritannien ist dieser prozeß weit fortgeschritten; in der brd hat er seit einigen jahren massiv an fahrt gewonnen. (frankreich spielt eine sonderrolle wegen der speziellen art, wie dort mit den konsequenzen der entkolonialisierung umgesprungen wurde, und ist vielleicht mit spanien vergleichbar; immigration war in den usa aufgrund der entstehungsgeschichte immer schon nativer bestandteil der gesellschaftlichen identität, und im uk via commonwealth ebenso. frankreich war noch ein 'empire', als das britische schon längst zum lachschlager verkommen war, und das moderne deutschland war leider nie mehr als ein steriles, blutjunges nationalkonstrukt. insofern ist die shoa durchaus eine logische konsequenz der deutschen gesellschaftsgeschichte, da in wenigen westlichen staaten so viel wert auf ein ethnisch exklusives, de novo generiertes, nationalkonzept gelegt wurde; das katholische kernösterreich oder spanien wäre von seinen religiösen etc historischen voraussetzungen vielleicht eine bessere basis für einen eliminatorischen antisemitismus gewesen, aber diese staaten waren schon weitaus früher gezwungen, sich als multikulturell und im fall von kakanien auch als multireligiös zu begreifen. am ehesten sind noch parallelen zwischen deutschland und polen zu sehen; letzteres zeichnete sich in den späten 20ern in den katholisch-fundamentalistisch motivierten pogromen und dem staatlich geförderten antisemitismus der ozon-diktatur aus; herschel grynszpans familie zb war ein opfer eines soliden zusammenspiels deutsch-nazistischer und polnisch-katholischer antisemiten.

insofern sei vielleicht von ursprünglichen thema wieder einmal weit abschweifend unterstrichen, daß kein beispiel zu existieren scheint, wo eine von einer elite verordnete stärkung der national-ethnischen identität in westlichen staaten *nicht* ultimativ zu einem triumph des terrors und des 'fremden'hasses geführt hätte. dies gilt es im auge zu behalten, gerade da unter (nicht nur, aber insbesondere) konservativen regierungen eine förderung des nationalen pathos und der verachtung des 'fremden' immer schon einen populäre maßnahme war, um von den eigentlichen problemen abzulenken. es sei noch daran erinnert, daß eine dezidierte antideutsche analyse der aktuellen policy der neuen regierung (auch und insbesondere, was die 'herzensangelegenheit' merkels, das 'zentrum gegen vertreibung' angeht), noch aussteht (hint hint ;-) )

Eine richtige Staatskritik

Schlauer Fuchs 21.11.2005 - 18:04
Eine andere, vor allem eine richtige Staatskritik findet man hier:

 http://www.junge-linke.de/staat_und_nation/der_brgerliche_staat_eine_einf.html

mehr zum ganzen Komplex:

 http://www.junge-linke.de/staat_und_nation/index.html