Aktion gegen Martin Luther-Hype in Giessen

der martin ludda natürlich 06.11.2005 18:24 Themen: Antifa
Am Reformationstag – Montag, 31.10.2005 – veranstalte die Evangelische Kirche in Giessen eine Art öffentlichen „Aktionstag“ - mit historischem Straßentheater auf dem Selterweg, Thesentür für Meinungen zur Kirche, „Aktionszelt“ (dort wurden u.a. Ausschnitte aus dem Luther-Film gezeigt) und Luther-Suppenküche in der Löwengasse. Allerdings war spürbar, dass sich das Interesse für die religiöse Werbeshow in Grenzen hielt. Allerdings waren die Kirchen-Leute nicht allein – eine unabhängige Aktionsgruppe sorgte für das Gegenprogramm zum unkritischen Hype um Luther. Denn was die Evangelische Kirche und andere Luther-Fans öffentlich ungern benennen: Die nationale Symbolfigur steht für eliminatorischen Antisemitismus, Hass auf „das Andere“ und war historisch auch ein Bezugspunkt für die Nazis.
Die Gegenaktion zum offiziellen Programm der Evangelischen Kirche war relativ einfach gestrickt: Mit dabei waren zum einen Schilder, auf denen Luther-Zitate ( http://www.projektwerkstatt.de/religion/luther/luther_zitate.html) das Weltbild des Reformator illustrierten (von der Befürwortung der blutigen Niederschlagung der Bauernaufstände über Sexismus bis hin zu einem eliminatorischen Antisemitismus und einer generellen Obrigkeitshörigkeit hatte Luther einiges zu bieten ...). Zudem wurde thematisch vertiefende Flugblätter und lutherkritische Postkarten verteilt, auf denen die „unbekannten“ Seiten des „Nationalhelden“ näher beleuchtet wurden. Obwohl es sicher keine spektakuläre oder besonders kreative Aktion war, entstanden viele intensive Gespräche und Debatten mit irritierten bis neugierigen Passantinnen. Darunter befand sich auch eine Gruppe junger Aktiver auf Seiten der evangelischen Kirche, die plötzlich realisierten, dass ihnen diese Seite des Reformators bisher – und vielleicht nicht ganz zufällig – vorenthalten wurde und spontan etwas zickig gegenüber Kirchen-Funktionärinnen reagierten ... ein lustiger Vorgang :-)

Viele Kirchen-Leute nahmen die Aktion gelassen hin, nur wenige zeigten subtile oder offene Verärgerung. Allerdings waren es ausnahmslos Aktive aus dem Kirchen-Umfeld, welche sich darin wiederholten, dass die Aktion ein einseitiges Bild von Luther präsentiere – entgegen gehalten wurde ihnen, dass es somit eine prima Ergänzung zum Programm der Kirche darstellt, welches im völlig einseitigen Abfeiern des Reformator besteht. Ziel der Aktion war es ja gerade, den unkritischen Heldenkult um Luther anzugreifen, bei dem die menschenverachtenden Ideologien und die Obrigkeitshörigkeit von Luther ausgeblendet werden. In den Gesprächen wurde auch deutlich, dass den Kirchen-FunktionärInnen die Kritiken an Luther durchaus bekannt waren – am öffentlichen Abfeiern des antisemitischen und sozialrassistischen „Helden“ scheint es sie jedoch nicht zu hindern. In einem Anzeiger-Bericht zum Reformationstag werden die Gegenaktivitäten sogar erwähnt – wenn auch tendenziös ( http://www.giessener-anzeiger.de/sixcms/detail.php?template_id=2917&id=1837752&_zeitungstitel=1133842&_resort=1103635).


Nationale Mobilmachung für Luther?

Während der laufenden Schild-Aktion sprach der sichtlich verärgerte Pfarrer Michael Paul einen der Aktivisten an, dem er unterstellte, in seinem Gemeindegebiet ein Flugblatt in seinem Namen verteilt zu haben. Darin sei der Gottesdienst am Reformationstag abgesagt worden. Ein konkretes Schreiben vorlegen konnte er jedoch nicht – nach Recherchen gelang es jedoch, zumindest ein Fax von besagtem Flugblatt zu bekommen, welches tatsächlich mit Michael Paul unterzeichnet ist und die Absage mit befürchteten Ausschreitungen begründet, da die in Giessen ansässige Burschenschaft Dresdensia Rugia „nationale“ Aktivitäten angekündigt habe.

In den Tagen vor dem Reformationstag war in vielen Haushalten ein Flugblatt der prominenten Burschenschaft aufgetaucht – bekannt als rechte Kaderschmiede für NPD-Funktionäre – auf, in welchem ein positiver Bezug zu Luther und insbesondere dessen antisemitischen Gedanken genommen wurde. Bei der Giessener Allgemeinen, die über das Flugblatt berichtete, vermutete man die Urheber in der „linksanarchistischen Szene“ (siehe Bilder des eingescannten Artikels). Auch der Giessener Anzeiger brachte einen Artikel zum Burschenschafts-Flugblatt - allerdings ohne wilde Täter-Spekulationen ( http://www.giessener-anzeiger.de/sixcms/detail.php?template_id=2917&id=1833929&_zeitungstitel=1133842&_resort=1103635).Die Burschenschaft selbst hat sich nach Presseberichten (u.a. Frankfurter Rundschau – eingescannt als Bild) von dem Flugblatt distanziert – das mag man glauben oder nicht. Die Empörung seitens des evangelischen Dekans Frank-Tilo Becher über den „Missbrauch des Reformationstags durch Nationalisten und Antisemiten“ (Zitat aus dem FR-Artikel, 28.10.05, S.33) wirkt etwas unverständlich. Denn angesichts von Luther's Antisemitismus ist es kein Wunder, dass der Kirchenheld von rechts besetzt werden kann. Und historisch wäre das nicht das erste Mal: Die Nazis bezogen sich ausdrücklich und offiziell auf Luther, um die industrielle Vernichtung jüdischer Menschen zu rechtfertigen ( http://www.lsg.musin.de/Projekte/projekt_lichterkette/geschichte/holocaust/antisemitismus.htm#Martin%20Luther:). Auch Teile der Evangelischen Kirche bezogen sich während des Nationalsozialismus positiv auf Luthers’ Judenhass und druckten z.B. sogar seine antisemitischen Schriften nach ( http://www.humanist.de/kriminalmuseum/kirche.htm).

Beim Lesen von Martin Luther's „Von den Juden und ihren Lügen“ ( http://antitheismus.de/luther.html) kann man tatsächlich den Eindruck gewinnen, das die Auslöschungsphantasien des Reformators und sein Programm zum Umgang mit Juden von den Nazis einfach nur konsequent umgesetzt wurde. Neben der Zerstörung jüdischer Einrichtungen schlug Luther vor, „starke“ Juden in Zwangsarbeit einzusetzen ( http://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther#Luther_und_die_Juden). Das ist der eigentliche Skandal – dass eine Person mit so krass ausgeprägtem autoritären Weltbild immer noch abgefeiert wird.



Gegen Heldenkult und Antisemitismus! Für eine Welt ohne Kirche, Religion, Nationen und andere autoritäre Strukturen!
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Ergänzungen

gute aktion

antifa {m}obster 06.11.2005 - 21:07
gute aktion zu einem oft vergessenen themenkomplex:

siehe auch:  http://germany.indymedia.org/2005/11/131275.shtml

Menschen haben Fehler...

rxtxr 06.11.2005 - 23:40
...Und das hatten auch viele "große" politische Vorbilder, Mao und Ché sind nur zwei die vor einigen jahren noch fast vorurteilslos von großen Teilen der linken verehrt wurden - nicht nur von K-Gruppen...

Luther war ein wichtiger Reformator der nicht wenig Schuld daran ist das die Kirche an dieser unsäglichen Macht verloren hat, und das was er da mal vor alls so langer Zeit gemacht hat war ziemlich revolutionär - mehr als es viele von uns überhaupt können. Nun das jeder Mensch grötenteils nur in dem Maße befähigt ist sich selbst und seine Umwelt zu reflektieren immer mit der Zeit in der derselbige Lebt zusammenhängt solte einleuchtend sein. So glaube ich nicht das es eine aufklärerische Bewegung zu der zeit gab die Antesemitismus offen angeklagt hat und dessen Zusammenhänge erklärt und entwirrt etc..
Natürlich ist es wichtig Menschen nicht vorbehaltlos als "Helden" zu gedenken und sich nur das verständliche oder gute aus eier Biographie rauszupicken, gerade Antesemitische Zitate dort aufzuzeigen sind bei dieser Person wahrscheinlich wichtig - wobei ich den Kontext nicht kenne aus denen diese Zitate entnommen wurden, der grundtonus ist auf jeden Fall zu verurteilen. Vielleicht hilft hier Aufklärung mehr als Verurteilung?

Nun meine Kritik kommt aus Christlich-Anarchistischer Ecke (ja die gibt es , siehe z.B. Tolstoi etc.) und meinem Unmut aus von mir beobachteten "Über den Kamm Scheren" von Religions, Kirchen und Christenkritik aus der derzeit aktiven linken/anarchstischen Bewegung.

So mag ich auch die Kritik kritisieren und denke beide sind bereichtigt.

die darstellung der evang. kirche

pups 06.11.2005 - 23:55
lustig: während die kirchenaktion damit beworben wurde, dass bürgerinnen ihre kritik an die kirche an die tür nageln sollten, fehlt im bericht der evang. kirche jeder verweis auf die lutherkritische aktion. kritik ja - aber nur wenn sie nicht die eigenen mythen und helden antastet?
 http://www.dike.de/giessen/nachrichten/index.html?luther_auf_dem_seltersweg.html

Bibel ist in Teilen antisemitisch

Dragan Pavlovic 07.11.2005 - 12:51
Nicht nur Luther macht sich des Antisemitismus schuldig, die Bibel selbst ist in diesem (und anderen) Punkten kritikwürdig.
Ich finde es durchweg angebracht historische Persönlichkeiten kritisch zu beleuchten, nicht umsonst werden Idole jeder Couleur immer wieder von allen Seiten beleuchtet. Und wie Wowereit sagte "Das ist auch gut so".

Bibelkritik findet sich bei Prof. Dr. Lüdemann
 http://www.jungewelt.de/2005/11-05/014.php
(siehe letzten Absatz)

Bündnisfrage bitte nicht vergessen!!

Martin Wagner 07.11.2005 - 16:49
Habe diese Aktivitäten leider nicht mitbekommen, obwohl ich zur Zeit ständig in Giessen bin. Es gibt neben den eher prinzipiellen Bedenken gegen Religion, Glauben etc. auch konkrete "Beschwerden" gegen den Sozialbetrieb der evangelischen Kirche hier in Giessen.

Wir diskutieren dies zur Zeit verstärkt in Arbeitslosenkreisen, denn die Jugendwerkstatt (verkappte Einrichtung der Diakonie) setzt auch auf den Ein-Euro-Zug bzw. (die auch angesprochene) Initiative zur Errichtung einer Giessener Tafel tendiert (vielleicht?) auch in diese Richtung.

Die Sache ist aber noch nicht geklärt. Mir fehlen zur Zeit die (doch angeblich vorhandenen) linken Evangelen, welche doch vor rund zwanzig Jahren durchaus zu Bündnissen mit uns Linken bereit waren.

Bis ich sicher bin, dass die Zeiten sich diesbezüglich geändert haben, würde ich es vorziehen, nicht eine allzuharte Front gegen die Kirchenleutchen zu fahren.

mit klassenkämpferischen Grüßen gez. Martin

@rxtxr

jb 08.11.2005 - 11:35
Bei der Kritik an Luther geht es mE nicht um Luther, der in der Tat schon recht vermodert ist, sondern an denen, die ihn heute unreflektiert feiern - also die evang. Kirche, der Film vor 2 jahren ("Eine deutsche Heldengeschichte"), die nationalen Strömungen und Veranstaltungen (z.B. Wahl zum größten Deutschen usw.). Die, die heute Luther hochleben lassen, tun das im heutigen Zeitkontext. Der Verweis auf Früher ist zwar schon sowieso falsch, denn natürlich gab es damals auch andere Strömungen und interessantere Leute als gerade Luther, aber er zieht eben bei der Lutherkritik ohnehin nicht, weil es nicht um Luther, sondern Lutherkult geht.

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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Und - was soll das jetzt...

x 06.11.2005 - 20:07
Ist die Jagd auf Pfarrer eröffnet?

Ihr hirnlosen Deppen !!!

Warum

Horst 06.11.2005 - 21:26
eigentlich die Unkenntlichmachung. Also ich kann ganz eindeutig erkennen, um wen es sich bei dem Lutherkritiker handelt, auch weil ich weiß, dass die Person in Gießen wohnt. Also wenn schon unkenntlich machen, dann richtig!