Neue Justiz-Possen in Mittelhessen

hoppe_nase 03.11.2005 19:57 Themen: Repression
Die Justiz in Giessen – und auch darüber hinaus – bleibt offensichtlich die schützende Hand der Obrigkeit: Höhepunkt ist das gerade bekannt gewordenes Urteil im „fuck the police“-Prozess. Das OLG hat die Revision verworfen und damit Staatsanwaltschaft und Polizei freie Bahn für weitere „Beleidingungs“-Verfahren geschaffen. Während unliebsamer politischer Protest verfolgt wird, gibt sich insbesondere die Staatsanwaltschaft Giessen alle Mühe, um Angehörige der Obrigkeit zu schützen: Staatsanwalt Vaupel ( http://www.projektwerkstatt.de/vaupel/haupt.html) hat das Falschaussage-Verfahren gegen den Stadtverordnetenvorsteher Gail eingestellt. Ein Bericht mit Neuigkeiten aus dem Sumpf der hessischen Justiz ...
// Revision zu „fuck the police“

In Giessen mutiert Kritik an Macht- und Herrschaftsstrukturen inzwischen schnell zur Beleidigung. Zugespitzt hat sich diese Lage durch den „fuck the police“-Prozess. Aufhänger ist eine Demonstration zur Bereitschaftspolizei in Lich in Folge der brutalen Räumung des Grenzcamps in Köln (2003), bei der vor der Polizeikaserne politische Parolen unterschiedlichster Qualität auf den Boden wurden – die betroffene Person soll sich mit „fuck the police“ verewigt – jedenfalls bis zum nächsten Regen – haben ... und nach einigen Bemühungen des engagierten Polit-Staatsanwalts Vaupel fand sich auch ein Bulle, der sich beleidigt fühlte.

Sowohl Amtsgericht als auch Landgericht – in zweiter Instanz – hatten die Person verurteilt und absurde Begründungen dafür geliefert, warum „fuck the police“ nicht die Polizei als solche, sondern konkrete Beamten bzw. den konkreten Beamten Koch der Polizeistation Grünberg meint (Auszüge aus den Urteilen:  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/beleidigung.html). Gegen die Entscheidung des Landgerichts hatte die Betroffene Revision eingelegt.

Zwar beschränkt sich diese auf die rechtliche Prüfung des Urteils, aber dennoch liefert die Kammer des Oberlandesgerichts Frankfurt auch eine umfangreiche Begründung, warum „fuck the police“ konkrete Polizisten meint. Es schafft es sogar, ein richtungweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts aufzugreifen, wonach unüberschaubar große Gruppen (die Bundeswehr, die Polizei usw.) nicht beleidigungsfähig sind. Um dann zu behaupten, dass dieses Urteil egal ist – natürlich im abgeschliffenen Juristen-Deutsch: „Im Ergebnis kann diese Problematik jedoch vorliegend dahin stehen.“

Mit seiner Entscheidung stellt das Oberlandesgericht Polizei und Staatsanwaltschaften einen Freibrief aus, um politischen Protest zu kriminalisieren. Bereits nach dem Landgerichts-Urteil ( http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/prozess2_3_05.html) sahen sich Polizisten ermuntert, auf jede vorstellbare Form kritischer Meinungsäußerung mit Anzeigen u.Ä. zu reagieren – in der Folgezeit sind eine Vielzahl neuer Ermittlungsverfahren entstanden. Beispielhaft erwähnt sei ein Verfahren wegen „ACAB“ – was in manchen Ohren „All Cops Are Bastards“ oder „All Colors Are Beautifull“ bedeutet – im Zuge eine antifaschistischen Demonstration ( http://www.de.indymedia.org/2005/06/119700.shtml). Die Justiz in Hessen bleibt offensichtlich die schützende Hand der Obrigkeit, was auch für die Zukunft nichts Gutes verspricht und offensiven, bunten Widerstand geradezu einfordert.

- Aktenzeichen: 2 Ss 195/05 (OLG-Urteil), 8 Ns 501 Js 506/04 (LG-Urteil)
- Auszüge aus dem OLG-Urteil sowie früherer Urteile:  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/beleidigung.html


// Verfahren gegen Stadtverordnetenvorsteher Gail eingestellt

Ausgangspunkt des Verfahrens ist eine Stadtverordnetensitzung in Giessen, bei der über die erfundene Bombendrohung des Bürgermeisters Haumann (CDU) bei einer zurückliegenden Sitzung verhandelt werden sollte. In dieser Sitzung wurde von einer Protestgruppe ein satirisch-kritisches Transparent zu Haumanns’ Lüge vom Publikumsrang entrollt. Zum wiederholten Male waren auch zivile Polizeibeamte im Publikum anwesend. Die kritische Nachfrage eines SPD-Abgeordneten in der gleichen Sitzung, ob Gail davon gewusst habe, verneinte dieser – ebenso wie die Pressestelle der Polizei. Diese Darstellung hat Gail auch in der ersten Instanz des großen Verfahrens gegen zwei Projektwerkstättler wiederholt. Daran bestanden von Anfang an deutliche Zweifel, die sich als berechtigt erwiesen: Im Zuge des Berufungsverfahrens gegen die Aktiven aus dem Umfeld der Projektwerkstatt tauchte ein Aktenvermerk eines der eingesetzten Zivilbeamten auf, welcher klipp und klar aussagt, dass er dem Stadtverordnetenvorsteher vor der besagten Sitzung durch Polizeipräsident Meise vorgestellt wurde. Plötzlich sah sich die Staatsanwaltschaft veranlasst, ein Ermittlungsverfahren gegen Gail einzuleiten.

Mit Schrieb vom 24.10.05 hat Staatsanwalt Vaupel nun das Ermittlungsverfahren wegen Falschaussage gegen den Stadtverordnetenvorsteher Gail (CDU) eingestellt (Auszüge aus der Einstellung:  http://www.projektwerkstatt.de/polizeidoku/gail_anzeige.html) . Das Schema für die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Gail ist sehr einfach - man mische ein wenig Wortklauberei mit nachlassender Erinnerungsfähigkeit ... und schon kann der Stadtverordnetenvorsteher von Strafverfolgung frei gestellt werden. Er habe am Tag der Sitzung so viele Gespräche geführt, dass er sich nicht mehr recht an eine so unscheinbare Situation erinnern kann, wo ihm der Polizeipräsident seine Zivicops präsentiert. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft sei aber gerade diese Darstellung glaubwürdig, weil Gail später in der Sitzung nicht direkt die zivilen Einsatzkräfte angesprochen habe, gegen die Störenfriede hinter dem Transparent vorzugehen. Und dass, obwohl selbst im Text der Einstellung klar beschrieben wird, dass die zivilen Beamten nur zur Beobachtung ins Parlament geschickt wurden und im Falle von Störungen ihre uniformierten Kollegen rufen würden. Der Sinn der zivilen Einheiten war ja gerade eine Überwachung des Sitzungssaals, die nicht vom Parlament bemerkt wird. Aber wo der Wille zur Einstellung ist, da findet sich auch ein passender Weg. Der nach aktuellen Presseberichten glückliche Gail hat sich allerdings etwas zu früh gefreut: Gegen die Einstellung des Verfahrens wird in den nächsten Tagen Beschwerde eingelegt – auch wenn wenig Hoffnung darauf besteht, dass die Staatsanwaltschaft am OLG eine andere Entscheidung treffen wird ...

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Falschaussage-Ermittlungsverfahren gegen einen oppositionellen Stadtparlamentarier, dass nach dessen entlastender Aussage im Berufungsprozess gegen zwei Projektwerkstättler - völlig offensichtlich mit politischer Motivation - eingeleitet wurde, immer noch läuft ( http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/janitzki.html). Für die Staatsanwaltschaft Giessen gilt ganz offensichtlich: Die Stadtoberen schützen, unliebsame Kritiker verfolgen. Zu bedenken ist natürlich auch, dass die Staatsanwaltschaft gegenüber dem Innenministerium weisungsgebunden ist und es ein offenes Geheimnis ist, dass Innenminister und CDU-Hardliner Volker Bouffier ( http://www.projektwerkstatt.de/bouffier) seine Finger im Spiel hat – gerade wenn es um Ereignisse in seiner „Heimatstadt“ geht.

- Zeitungsartikel und Texte zum Gail-Prozess:  http://www.projektwerkstatt.de/gav/aktionen/270303gail.html
- Kaiptel zu Gail in Polizeidoku 2005 (als .pdf zum Download):  http://www.projektwerkstatt.de/polizeidoku/2005/doku2005_s51_52_gail.pdf


// Geraubte Computer wieder frei gegeben

Nach allerlei schlechten Nachrichten aus dem Sumpf der hessischen Justiz- und sonstigen Behörden gibt es good news bezüglich der Pfändung von Redaktionscomputern in der Projektwerkstatt (Bericht:  http://www.de.indymedia.org/2005/10/131036.shtml). Am 31.10.05 übermittelte der Kreisausschuss vom Landkreis Giessen – die Pfändungsbehörde – kleinlaut, dass eine Verwertung des übrig geblieben Rechners nicht lohne und die Pfändung aufgehoben würde. Ob das der wirkliche Grund ist sei dahin gestellt – in den Tagen nach der Pfändung wurde die betreffende Behörde jedenfalls Opfer einer großflächigen Graffiti- und Farbaktion. Die Fassade des Gebäudes wurde nach Augenzeugenberichten mit blauer Farbe beschmiert und mit Parolen ausgestattet, welche sich gegen Staat und Behörden richteten und deren Abschaffung forderte. Die Polizei würde jetzt schreiben: „Ein Zusammenhang mit der Pfändung in der Projektwerkstatt kann nicht ausgeschlossen werden.“

Die Zahlungsaufforderung hat die Behörde allerdings nicht zurück genommen, so dass unklar ist, wie es weiter geht ... auch wenn klar sein dürfte, dass Marcus Erb und Co. auf weitere Pfändungsaktionen keine große Lust haben werden.

- Scans der Briefwechsel und Hintergründe:  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/vollstrecker/haupt.html


// Perspektiven

Angesichts all dessen und des kaum spürbaren Widerstands gegen diese Entwicklungen fällt es schwer, Perspektiven anzudeuten. Bezogen auf Giessen und Umgebung gibt es nach einem ersten justizkritischen Treffen die Überlegung, im Takt von zwei Monaten eine solche Runde einzuberufen, um sich auszutauschen und Aktivitäten zu planen. Zudem gibt es die Idee, in Giessen eine Art Anlauf- und Treffpunkt für Kritikerinnen und Betroffene der Justiz aufzubauen, wo auch rechtliche Tipps weiter gegeben werden können. Bei Interesse einfach in der Projektwerkstatt ( http://www.projektwerkstatt.de/saasen) melden: 06401-903283 oder saasen(ätt)projektwerkstatt.de


// Links

- Polizeidokumentation:  http://www.projektwerkstatt.de/polizeidoku/haupt.html
- Kreative Antirepression:  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression


Mehr Farbe in den Justiz- und Behördenalltag bringen ... rein metaphorisch natürlich :-)
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Ergänzungen

Gail-Einstellung

nicht so gail 03.11.2005 - 20:39
"Witzig": Der Gießener Anzeiger berichtete natürlcih über die Einstellung und spricht von Erleichterung. Geschrieben steht da auch: "Deshalb könne er sich nicht mehr erinnern, ob und in welcher Form der Polizist unter ihnen gewesen sei. " Interessant: Und deshalb ist es keine Falschaussage, wenn er vor Gericht sagt, er könne sich genau erinnern und hätte es nicht gewußt??? Rechtsbeugung ala Gießen und vor allem des politischen Staatsanwaltes Vaupel - bei dem einfach Hopfen und Malz verloren ist. Autor des Anzeiger-Artikels ist übrigens Erhard Goltze. Der hatte schon mal über den Vorfall geschrieben - als Ohrenzeuge am 27.3.2003. Da konnte er sich offenbar auch selbst noch genau erinnern, dass Gail sehr genau gesagt hatte, er habe von der Zivilpolizei nichts gewusst. Das Goltze verschweig, es sogar selbst besser zu wissen, muss nicht überraschen. Wie heißt es bei Eliten ... eine Krähe hackt ...

Stuttgarter Verhältnisse

SWSG-Mieter 03.11.2005 - 23:36
Ich selber habe einen Rattenschwanz von Prozessen - organisiert von der stuttgarter städtischen Wohnungsgesellschaft SWSG mbH - wg. "Beleidigung" mit anschließender Räumungsklage - vor Stuttgarter Gerichten, weil ich angeblich die SWSG mbH beleidigt hätte.
Könnt Ihr genaueres über dieses "richtungsweisende Urteil des Verfassungsgerichts" sagen, nach dem "unüberschaubar große Gruppen" nicht beleidigt werden können.
Die Stuttgarter Richterei und die Stuttgarter Staatsanwälte scheint dieses Urteil überhaupt nicht zu kennen oder nicht kennen zu wollen, denn dann hätten sie überhaupt kein Ermittlungsverfahren "in öffentlichem Interesse" einleiten und der Staatschutz kein staatsschutzpolizeiliches Gutachten erstellen dürfen!
Offenbar wissen unsere Stuttgarter Apperatschiks an allwenigsten, was sie laut Verfassung dürfen und nicht dürfen, was für sie nur heißt, sie selbst dürfen alles!

BVerfG

@SWSG-Mieter 05.11.2005 - 11:22
Ist doch in dem Text enthalten, das Urteil ist ist in NStZ 96,26 enthalten (Neue Zeitung für Strafrecht, Jahrgang 1996, Seite 26 ff.) Findet sich in jeder juristischen Bibliothek

Neues zum Hallenser Prozess

jb 06.11.2005 - 13:27
Auch im Prozess von Halle gibts was Neues - nämlich wieder ein Ordnungsgeld gegen den Angeklagten ... gepaart mit einer interessanten Geschichtsschreibung des durchgeknallten Richters, wie alles gewesen sein soll (der Angeklagte saß damals ja 3 Tage in Ordnungshaft, weil er einen Antrag stellen wollte auf Akteneinsicht, die das Hallenser Amtsgericht laut Pressesprecher grundsätzlich !!! Angeklagten verwehrt). Der Ordnungsgeldbeschluß ist auf der Internetseite zu lesen.

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