Die Odyssee der Helena Maleno

imc estrecho, übersetzt von kh 22.10.2005 00:34 Themen: Antirassismus Weltweit
Karawane des Todes: "Rede mit mir, damit ich weitergehenkann"
von LUIS DE VEGA, Sonderkorrespondent aus Dajla/El Ajún(Westsahara)

Die Tapferkeit und Hartnäckigkeit einer Frau namens HelenaMaleno, ausgerüstet mit einem Handy an Bord eines Kombiwagens,verliehen als einzige in der Welt dem Schrecken Ausdruck, der sich vorihren Augen abspielte: illegale Immigranten wurden auf marokkanischenBefehl in Bussen in die Wüste verfrachtet und dort ihremSchicksal überlassen.

Hier ihre Geschichte.
Es ist die Geschichte eines Schutzengels, einer zarten, aber starken,sehr starken Frau, einer Frau ohnegleichen (?) - dieGeschichte eines Engagements, das zufällig beginnt als HelenaMaleno, "die Chefin", am 22. September 2002 vonihrem Heimatort El Ejido (Provinz Almería/Spanien) nachTanger (Marokko) kommt. "He, echt aus El Ejido",betont sie bissig. Sie kam für drei Monate, mit einem Koffer,einer Videokamera und einer Handtasche. Nach allem, was im Gebiet derTreibhäuser passiert war*, wollte sie sehen, "wiesich die Grenze des neuen Europa immer mehr nach Südenverschiebt". Die Video Aufnahme wurde mehr. Die Sacheverwickelte sich, und sie ließ sich hineinziehen [im Span.Wortspiel mit liarse, was sowohl "kompliziert werden","sich verwickeln" als auch "sicheinlassen", "hineinziehen lassen"bedeutet, d.Ü.]. Und im Laufe der Monate verwandelte sichTanger und das Geschehen in dessen Umgebung in ein Spinngewebe, von demsie nicht mehr loskommt. Auch nicht um nach El Ejidozurückzukehren, so "rein" es auch sein mag.

Für uns, die wir durch unsere Arbeit mit der illegalenAuswanderung der Menschen südlich der Sahara inBerührung kamen, ist "die Chefin" eineEmpfehlung, viel mehr als der Kontakt von SOS Rassismus in Marokko. DenWald von Bel Younech in der Nähe des Grenzzauns von Ceuta zubetreten und sie nicht zu kennen, war Grund zum Argwohn fürdie Bewohner dieses Camps. Zu ihr hatten und haben die Immigranten ammeisten Vertrauen und werden es auch in Zukunft haben. Dort gab esneben den Razzien der Sicherheitskräfte Besuche vonJournalisten, von Menschenrechtsorganisationen, Turisten auf abseitigenPfaden und Mafiosi, gierig danach, Passagen nach jenseits der Grenzeauszuhandeln. Niemand war lieber gesehen als sie. Alle Emigrantenkannten sie. Und sie kannte alle - oder fast alle, ihrUnglück, ihre Illusionen, ihre wahren Namen undHerkunftsländer ...

Deshalb ist Maleno die Schlüsselperson gewesen, die alle Hebelin Bewegung gesetzt hat, damit die Aussetzung HunderterSchwarzafrikaner in der Wüste seitens der marokkanischenBehörden nicht in einer Tragödie von nichtvertretbaren Ausmaßen endete. Sie war es, die als erste Alarmauslöste, als wir alle ständig nur dieGrenzzäune von Ceuta und Melilla im Blick hatten, in Erwartungeines neuen Ansturms von Immigranten.

Kettenverhaftungen

Es war Sonnabend, 1. Oktober. "Sie rufen mich aus Rabat an.Es gibt Verhaftungen. 24 (von ihnen) sind Asylsuchende. Verhaftungen inCasablanca gehen weiter. Auf den Straßen, in denCafés, in den Häusern ... Man nimmt sogar Leute mitStudentenvisa, mit noch gültigen Einreisestempeln in ihrenPässen mit ... Etwas ist passiert", meint sie. Siehat ein Notizbuch in den Händen, in dem sie alles vermerkt.Das Handy und dieses Heft stellen eine Verlängerung ihrerknochigen Hände dar.

Wenige Stunden vor all diesen Razzien hatte sich im Camp Beliones einhalbes Hundert Schwarzafrikaner den Behörden ergeben. Das waram Morgen des Freitag, dem 30. September. Sie werfen das Handtuch nachdem Ansturm, bei dem es mehr als 200 gelang, nach Ceuta zu gelangen,aber es hat auch fünf von ihnen das Leben gekostet. DieserKorrespondent [offenbar der Autor selbst, d.Ü.], der Zeugewar, wie sich die Gruppe ergab, bekam aus dem Munde des Chefs derGendarmerie von Tanger, der die Operation leitete, bestätigt,daß alle aus dem Königreich der Alawiten (Marokko)an der algerischen Grenze bei der Stadt Oudja, etwa 150 km von Melilla,ausgewiesen werden würden. Alle aus Rabat, Casablanca,Beliones ... glaubten, daß sie wie immer in Richtung Oudjafahren würden.

"Die Chefin", die sich über alles wasvorgefallen ist informiert hat, zieht über den Sturm auf Ceutaihre eigenen Schlüsse und macht eine Rechnung auf."Wir hatten 132 verloren, unter ihnen 18 Verletzte, dieausgewiesen wurden, nachdem sie Ceuta betreten hatten. Sie wurden indie Gendarmeriekaserne von Tetuán gebracht." Siehatten sich verflüchtigt, denn sie waren nicht mehr da undmußten vermutlich denselben Weg nach Oudja genommen haben.

Tatsächlich beginnen verschiedene Gruppen von Verhafteten ausallen Ecken Marokkos in diese Stadt zu fahren. Über ihreMobiltelefone halten sie ihren Schutzengel Maleno ständig aufdem Laufenden; diese sieht mit Erstaunen, wie die Busse vorbeifahrenund die nach Süden führende Straße parallelzur algerischen Grenze einschlagen. Die Schwarzafrikaner versuchenAngaben darüber zu liefern, wohin sie fahren:Errachidía, Budenib, El Auina Suatar ..., die nackte, rauheWüste, schon wird die fast ungekennzeichnete Grenzlinie zumalgerischen Nachbarn überschritten.

"Alle fangen an, mich anzurufen", erklärtsie und greift zum Telefon. Sie sind in vielen Gruppen unterwegs. Sieglaubt, daß diejenigen, die über den Grenzzaun vonCeuta zurückgeschickt wurden, als erste imWüstengebiet ankamen, danach die aus Rabat und Casablanca,[dann] die sich in Bel Younech ergeben haben... In ihren Notizen istalles vermerkt. Sie weiß, woher jeder Anruf kam. Im Geiststellt sie die Buskonvois zusammen, wer in jedem fuhr, woher siekamen... Und niemand nahm Notiz von Maleno, als sich dieTragödie inmitten der Steinwüste der Hammadavorbereitete. Mit den Grenzzäunen im Rücken, dieweiter die Aufmerksamkeit aller auf sich zogen. "Jede von mirgesammelte Information haben wir sofort an alle meine Internet-Kontakteund an die Website von Indymedia-Estrecho weitergegeben."


Dank der Handys ...

Man schrie sich die Seele aus dem Leib über Handy. Maninsistierte immer wieder: "Ihr müßt esweitererzählen. Ruft eure Chefs in Madrid an. Schreibtüber das, was da vor sich geht. Helft uns, damit die UNOreagiert, die internationale Gemeinschaft. Berichtet darüber,daß Leute sterben, die von den Marokkanern in derWüste ausgesetzt wurden." In Tanger ist eineSchottin die erste, die 150 Euros beiträgt, um die im freienFall befindliche Telefonrechnung der "Chefin"aufzufangen. Sie übernehmen auch die von denen, die aus derWüste anrufen. Danach sollten weitere kleine (Spenden) kommen,unerläßlich, um mit der Suche nach denSchwarzafrikanern weitermachen zu können, um ihnen das Lebenzu retten.

In ihrem Heft notierte sie schaurige Zeugenaussagen. Hier eine vonHamidu, der bereits per Flugzeug nach Senegal repatriiert worden ist:"Die Lichter, das ist Algerien. Wir sind die ganze Nacht aufdie Lichter zugegangen. Es gab Verletzte. Wir haben uns in derWüste verlaufen. Alle die nicht im algerischen Lager ankommen,sterben. Sie haben uns dort zu essen und zu trinken gegeben und unsnicht mißhandelt. Sie haben uns den Weg zurück nachMarokko gezeigt. Ich habe sieben Tote gesehen. Zwei warenenglischsprachige Frauen. Denen es gelingt, aus der Wüsteherauszukommen, die schicken die Marokkaner erneut in dieWüste." Hamidu fuhr fort, seineBeschützerin anzurufen. "Sucht die Leute mitHubschraubern. Bittet die UNO, daß sie sie auflesen, auch aufalgerischer Seite."

Obwohl sie die "Chefin" kennen, verhinderte dochdas offizielle Schweigen, in vollem Umfang mit dem herauszukommen, vondem wir wußten, dass es wahr war, was wir aber nicht mitunseren eigenen Augen bezeugen konnten. Von Rabat aus würdeman es nicht nur dementieren, sondern sie würden, wie sie esgewöhnlich tun, die Arbeit der Journalisten zunichte machen.Der Hochkommissar für Flüchtlinge der VereintenNationen in Rabat und Genf schwieg mit besorgniserregender Ruhe. Jetzt,beim Schreiben dieser Reportage, kann man sich eines gewissenSchuldgefühls nicht erwehren, weil es einem nicht gelungenist, früher von der Tragödie zu berichten.

Alles war vorüber, als eine Gruppe der Ärzte ohneGrenzen am Freitag, 7. Oktober in El Auina Suatar eintraf. Obwohl sichein bestürzendes Schauspiel bot, hätte es doch nochviel schlimmer sein können, wenn die Schwarzafrikaner nichtdie Möglichkeit gehabt hätten, schon Tage zuvor Alarmauszulösen. Am gleichen Tag machte sich Marokko durch seineoffizielle Nachrichtenagentur Map über diese Handy-Batterienlustig, die in der Wüste von Hand zu Hand gingen und die, wiesie meinten, nie leer wurden. Aber diese Batterien verhinderten,daß die Entscheidung, die  Immigranten mitten imNichts auszusetzen, dazu führte, daß von ihnen nurLeichen übrigblieben.

Die Aussage eines anderen Senegalesen: "Gestern haben wireinen Toten begraben. Einen mit gebrochenen Beinen haben wir auf denSchultern getragen. Wenn sie uns umbringen, ist es besser, sie bringenuns in unsere Heimatländer." Die"Chefin" erhielt Anrufe rund um die Uhr, 24 Stundenam Tag. "Rede mit mir. Erzähle mir was, damit ichweitergehen kann, etwas vom Wald, als wir zusammen waren."


Weg durch die Hölle

Schließlich, am Sonnabend, dem 8. Oktober beschaffen sie sichdas Notwendige, um in einem gemieteten Renault Kangoo von Tangerabzufahren – die "Chefin", der Jesuit PepBuades, der Olivenbauer und Freiwillige der VereinigungElín, Francisco Carrasco und die Beobachterin von WomenLinks Worldwide, Sandra Escauriaza. Sie kannten sich untereinandernicht, noch hatten sie sich je auf ein derartiges Abenteuereingelassen. In dem Kombiwagen befanden sich 500 Essensrationen, dievon den Schwestern von Calcutta mit Hilfe von Einwohnern Tangersvorbereitet worden waren: ein Stück Brot, eine BüchseSardinen, ein Saftgetränk und eine Flasche Wasser. Es ist einebescheidene Expedition, fast ohne Ressourcen, die hinter der derÄrzte ohne Grenzen zurücksteht. Aber sieführen einen Schatz mit sich: die Kontakte und dieInformation, die die "Chefin" unaufhörlichbekommt. So bringen sie unermüdlich Kilometer um Kilometerhinter sich, während weiter Nachrichten von den Immigranteneintreffen, die inzwischen gerettet und im Begriff sind, nach derOrtschaft Buarfa gebracht zu werden.

Unterwegs aber, am Sonntagmorgen gegen vier Uhr, begegnen sie beiErrachidía einem ersten Konvoi von Bussen. Er fährtin südwestlicher Richtung, in Richtung Uarzazat, einer undnoch einer. Da beschließen sie, einem von ihnen zu folgen,denn sie argwöhnen, daß die Behörden eineneue Verschleppungsoperation der Schwarzafrikaner in Gang gesetzthaben. Anscheinend war die makabre Entdeckung Hunderter von ihnen inder Umgebung von El Auina Suatar und die in der ganzen Weltübertragenen Bilder, wie sie wie lebende Tote in derWüste umherirren, für die Ideologen einer derartigerBarbarei nicht Abschreckung genug.

Die vier im Kangoo entscheiden, daß das Durchkämmender Wüste auf der Suche nach Überlebenden oderLeichen jetzt nicht die Priorität hat, sondern vielmehrherauszufinden, wohin sich die Busse bewegen und weitereMassenaussetzungen zu verhindern. "Haltet durch, so gut ihrkönnt.
Wir folgen den anderen, damit sie nicht mit ihnen das gleichemachen", wiederholten sie immer wieder zu denen, die sie umHilfe anflehten.

Die schlimmsten Vorahnungen bestätigen sich am Sonntagmorgen,als sie von einem neuen Konvoi, der sich von Tanger in Bewegung gesetzthat, anfangen Anrufe zu erhalten. Diese gehören nicht zu denvor Tagen in der Wüste Ausgesetzten, sondern in den zweiBussen fahren Frauen, darunter einige Schwangere, und Kleinkinder. Auchsie fahren alle in Richtung Süden. Im Laufe der Stundenbeginnen die Absichten der Marokkaner klarzuwerden. Ziel ist diesmaldie Westsahara, die seit dreißig Jahren von Marokko besetztgehalten wird. Die Expedition der "Chefin" riskierteiniges.
Eine Kontrolle folgt der anderen, und nur mitäußerster Mühe können sie denBussen und ihrer Polizei-Eskorte folgen, die "nicht sehraufmerksam zu sein schienen, denn wir überholten sie undließen sie hinter uns, ohne daß sie eine Ahnung zuhaben schienen", berichtet Buades.

Sie taten alles um die Polizeiposten zu überlisten, die immermehr zunahmen, je näher die Konfliktzone zwischen Marokko undder Frente Polisario kam. "Einmal gab ich mich als Krankeaus, ein anderes Mal durften wir passieren, weil sie dachten,daß wir in den Taschen mit Essen Segel zum Drachen-Surfenhätten ..."

Sie merkten, daß die Behörden nicht rechtwußten, was sie tun sollten. Die Konvois fuhren bald in eineRichtung, bald in eine andere. "Es war beeindruckend, als wirbei der Einfahrt nach Dajla an einem Kontrollpunkt hielten und sie zumersten Mal aus der Nähe sehen konnten.
Wir waren so nahe, daß sie uns aus den Fenstern zuriefen.Sandra weinte. Und der marokkanische Gouverneur dementierte, was wirmit unseren eigenen Augen sahen", berichtet Buades.

Auf der ganzen Strecke wechselten sie sich am Steuer ab,während die anderen die Anrufe der Schwarzafrikaner oder dieder ersten Medien beantworteten, die sich mit ihnen in Verbindungsetzten. Diese waren die einzigen, die in diesem Moment eine direkteInformation über diese katastrophale Handhabung des Problemsder illegalen Einwanderung hatten. "Seit unserer Abfahrt vonTanger, waren wir 48 Stunden ununterbrochen im Auto",äußerten sie. Sie rechnen nach, derKilometerzählerstand ist beängstigend. Als sie amMittwochabend in einer Hotelunterkunft in Dajla, in der Näheder Grenze zu Mauretanien, für ABC Bilanz ziehen, haben siemehr als 6000 Kilometer hinter sich gebracht - in vier Tagen.


Der Kombi der Rettung

Die Taschen, die die Nonnen vorbereitet hatten, konnten nie an ihrenBestimmungsort gelangen, weil sie nie direkten Zugang zu denImmigranten hatten, die von den Sicherheitskräften in denKasernen verschiedener Städte eifersüchtig bewachtwurden. Aber durch das Zurücklegen dieser Tausende vonKilometern und die wertvolle Information, die von dem Wagen in dieganze Welt ihren Ausgang nahm, halfen sie die Absichten dermarokkanischen Behörden herauszubekommen.

Helena Maleno und ihre Begleiter – bereits ohne Sandra– setzen am vergangenen Mittwoch nachts ihren Weg von Dajlain Richtung Esmara fort, etwa 800 km nach Norden. Die Ermüdungvermag nichts gegen ihre Absichten, herauszufinden, was mit einerGruppe von Schwarzafrikanern passiert, die hinter dieser saharauischenStadt in Richtung Algerien ausgesetzt worden sein könnten. DerLieferwagen kommt jedoch nie in Esmara an, weil ein Unfall 70 km vor ElAiún der Reise ein Ende setzt. Helena und Francisco werdenübel zugerichtet, wenn auch ohne schwere Verletzungen, undnachdem sie in El Aiún behandelt worden sind, nehmen sie einFlugzeug nach Las Palmas. Der unverletzte Jesuit begleitet sie. Undwährend diese Seiten gedruckt werden, denkt die zarte, aberstarke Frau, der Schutzengel der "Illegalen", schonwieder daran, nach Tanger zurückzukehren.


[* Wahrscheinlich Anspielung auf die pogromähnlichenÜbergriffe von Einheimischen gegen marokkanische Landarbeiterin El Ejido im Febr.
2000; d. Ü.]

Quelle:
http://estrecho.indymedia.org/newswire/display/16325/index.php– 17. Okt. 2005

ursprünglich ein Artikel in der span. Zeitung ABC:www.abc.es/Syd/domingos/ noticia.asp?cid=6148&hid=6154 - 53k–
17. Okt. 2005
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Ergänzungen

danke

... 23.10.2005 - 05:38
der bericht ist einfach nur erschütternd. vielen dank für diese umfangreiche übersetzung.
manchmal verstehe ich die welt nicht mehr. es werden immer noch/wieder menschen deportiert und es wird einfach weggesehen...