"Wir" sind superreich!

Blanziflor 14.09.2005 16:28 Themen: Soziale Kämpfe
Nach den endlosen Wiederholungen in den etablierten Medien glaubt es fast jedeR: Es ist kein Geld (mehr) da. Wer sich die Statistik des deutschen Exportes anschaut, wird da eines besseren belehrt. Brauchen wir jetzt noch mehr Steuersenkungen und noch mehr Export zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit?
Die Argumentation ist sehr einfach gestrickt: Wenn wir viel exportieren, braucht es viele Arbeitsplätze im Bereich des Exportes. Wenn wir sehr viel exportieren bringt das noch mehr Arbeitsplätze im Export. Also dient eine möglichst hohe Exportquote der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Das behaupten die Experten und wer das behauptet kann auf einen Expertenposten hoffen.
Warum aber sind dann ausgerechnet im Land des Exportweltmeisters so viele Arbeitslose vorhanden? Warum haben andere Länder mit einer sehr viel niedrigeren Arbeitslosigkeit geringere Exportquoten? Fragen, die von den Experten bei den wortgewandten und umfangreichen Begründungen ihrer Irrtümer nicht beantwortet werden. Jetzt liegen die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes zum Export des ersten Halbjahres vor. Und siehe da: So gut war es schon lange nicht mehr. „Wir“ haben im ersten Halbjahr noch nie einen höheren Außenhandelsüberschuss erzielt.

 http://www.statistik-portal.de/Statistik-Portal/de_zs18_bund.asp

Export ist ersichtlich nicht der einzige Faktor bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Wichtig ist das Gleichgewicht zur Binnennachfrage, die in Deutschland allerdings sehr schlecht ist. Warum konsumieren „wir“ denn nicht? Als Exportweltmeister sind „wir“ statistisch nicht nur reich; „wir“ sind sogar supperreich. Allerdings ist die Verteilung des Reichtums sehr ungleichmäßig. In deutschland gab es 2004 im Jahresdurchschnitt ca. 10.300 Insolvenzen pro Monat. In den ersten Monaten des Jahres 2005 lagen die Zahlen der Insolvenzen sogar noch wesentlich höher als im Vergleichsmonat des Vorjahres. In den Monaten März April und Mai 2005 lagen die Insolvenzen bereits ständig oberhalb des Vorjahresdurchschnitts von ca. 10.300 Insolvenzen monatlich. Gestiegen sind dabei insbesondere die Verbraucherinsolvenzen.

 http://www.statistik-portal.de/Statistik-Portal/de_zs20_bund.asp

Extremer Reichtum in Deutschland trifft damit auf der anderen Seite auf zunehmende extreme Armut. Wer heute seinen Arbeitsplatz verliert ist sehr schnell nicht mehr in der Mittelschicht, sondern findet sich bereits sehr bald in der verarmten Unterschicht wieder. Schuld daran sind ersichtlich auch die ab 2005 geltenden Gesetze - insbesondere die sogenannten Hartz IV – Gesetze (SGB II). Diese Gesetze sind für Existenzgründer in Bedarfsgemeinschaften sogar ein eigener Pleitegrund:
1.Als Barbedarf werden dem oder der Selbständigen lediglich 311,00 EUR zugestanden. Wenn er den/die PartnerIn gleichzeitig unterstützt, kann er nichts für zeitweise niedrigere Einnahmen zurücklegen. Es kann auch kein Kredit vorzeitig getilgt werden.
2.Der Betrag von 311,00 EUR ist für ein menschenwürdiges Leben jedes Arbeitslosen bereits zu niedrig. Auf Wunsch der CDU wurden die Sätze allerdings trotzdem bis auf 311,00 EUR gesenkt, da der Arbeitslose es nicht nötig habe, Edelkleidung zu tragen oder Luxusgüter zu kaufen. Dies ist dem Selbständigen in der Bedarfgemeinschaft dann ebenfalls nicht mehr möglich.
3.Die Tilgung von Darlehen wird bei der Feststellung des selbständigen Einkommens nicht berücksichtigt. Es gilt hier der Steuerbescheid und der berücksichtigt eben nicht die Tilgung von Darlehen. Das Steuerrecht ist nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes in dem Punkt auch verfassungsgemäß. Mir ist allerdings nicht bekannt, ob der allseits beliebte Herr Kirchhof an dieser Entscheidung beteiligt war.
4.Selbständige Architekten, Ärzte und Rechtsanwälte sind gezwungen, an die Versorgungswerke Beiträge in festgelegter Höhe zu entrichten, um sich eine kapitalgedeckte Versorgungsrente anzusparen. Nachdem das Einkommen bereits dem Unterhalt innerhalb der Bedarfsgemeinschaft diente, ist der Selbständige auf einmal selber bedürftig. Da heißt es aber im Gesetz (§ 26 Abs. 1 Satz 2 SGB II): „Der Zuschuss ist auf die Höhe des Betrages begrenzt, der ohne die Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu zahlen wäre.“ Der Beitrag zu den Versorungswerken liegt allerdings ( wie der Gesetzgeber zutreffend erkannt hat) über dem prozentualen Beitrag der ArbeitnehmerInnen zur gesetzlichen Rentenversicherung. Gleichwohl hat der Gesetzgeber aber die Möglichkeit für Versorgungswerke geschaffen, FreiberuflerInnen diese Beiträge durch Versorgungswerke aufzuerlegen. Eine Ausnahme hat der Gesetzgeber für Freiberufler und Freiberufler in Bedarfsgemeinschaften nicht vorgesehen. Der Gesetzgeber treibt damit FreiberuflerInnen künstlich in die Insolvenz.
5.Selbständige sind im üblicher Weise privat krankenversichert. Für den Fall der längeren Erkrankungen wird dabei auch das Krankentagegeld vor Ablauf der 6. Woche abgesichert. Familienversicherung existiert da nicht. PartnerIn und Kinder sind ebenfalls zu versichern. Vielleicht muss der oder die Selbständige auch Risikozuschläge zahlen, was der gesetzlichen Krankenversicherung fremd ist. Das ist nicht unbedingt preiswert zu haben. Auch sieht das SGB II allerdings lediglich einen Zuschuss zur privaten Krankenversicherung vor und beschränkt wieder auf den Prozentsatz, der in der gesetzlichen Krankenversicherung zu zahlen wäre. Gut erkannt, dass selbst dem knapp kalkulierenden Selbständigen die Krankenversicherung schon einmal teurer kommt als die gesetzliche Krankenversicherung bei gleichem Einkommen die ArbeitnehmerInnen.
6.Die Punkte 4 und 5 der Aufzählung können dann vom Barbedarf (siehe 1 und 2) zusätzlich abgedeckt werden. CDU und SPD haben bereits vor, nach den Wahlen, den Barbedarf niedriger anzusetzen. Nicht zu senken! Der Bedarf wird nur niedriger, wenn die Preis genau so drastisch sinken.

ExistenzgründerInnen zahlen keinen Spitzensteuersatz. Die Senkung des Spitzensteuersatzes und die Gegenfinanzierung durch Hartz IV nutzt ihnen nichts. Im Gegenteil. ExistengründerInnen sind auf gesicherte Verhältnisse in ihren Familien und die Solvenz ihrer KundInnen angewiesen. Kleine Selbständige können kaum reicher sein als ihre KundInnen. Wen wundert es, dass bei der derzeitigen Politik gerade die zur Selbständigkeit zuvor verlockten ExistenzgründerInnen die Insolvenzstatistik bereichern? Wer will hier verantworten, noch mehr Menschen in eine selbständige Tätigkeit zu locken?

Um an den Missständen etwas zu ändern, muss der Staat zur Finanzierung seiner Aufgaben bereits sein, Steuern in angemessener Höhe zu erheben und nicht mit der Weisheit der Finanzminister von CDU und SPD immer mehr Schulden aufzutürmen bei immer schlechteren Leistungen des Staates. Ist es denn nötig, dass Deutschland bei der Vermögenssteuer das Schlusslicht in Europa ist? Müssen wir in allen Steuerarten ein Dumping betreiben, bis alle anderen Länder in Europa nachziehen müssen? Anschließend zeigen wir dann wieder mit dem Finger auf andere Länder und sagen, dass die Steuersenkungen erforderlich seien, um unseren Export (notdürftig?) aufrechtzuerhalten und der Konkurrenz standzuhalten. Die Binnennachfrage geht während dieser Aktionen den Bach herunter. Durch immer niedrigere Löhne und immer höhere Abzüge einseitig bei den ArbeitnehmerInnen können „wir“ uns auf einmal nichts mehr leisten. Da wird sogar mehr Bescheidenheit gefordert und SPD, FDP, CDU und Grüne treten für niedrige Tarifabschlüsse ein. In einem statistisch gesehen immer reicheren Land eine schreiende Ungerechtigkeit.

Wer Gerechtigkeit und höhere Löhne fordert, bekommt den schönen Spruch von MedienvertreterInnen zu hören, dass „wir“ auf hohem Niveau jammern. Statistisch sind „wir“ im Lande des Exportweltmeisters natürlich reich. Nur jammern immer mehr Menschen auf einem hohem Niveau ihrer Schulden, während die anderen auf dem angeblich so hohem Niveau ihrer ständig sinkenden Steuern jammern.

Blanziflor
Public Domain Dedication Dieses Werk ist gemeinfrei im Sinne der Public Domain
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

Zu wenig Arbeit

The devil's advocate 15.09.2005 - 01:58
Wir können uns nichts leisten, es gibt "zu wenig Arbeit", ja ja ja:

 http://thedevilsadvocate.twoday.net/stories/975746/

Weltbank: Deutschland fünfreichsten Land

Doener 15.09.2005 - 02:18
"Nach der Schweiz sind laut Weltbank-Studie die reichsten Länder Dänemark, Schweden, die USA, Deutschland, Japan, Österreich, Norwegen, Frankreich, Belgien und Luxemburg, die ärmsten Nepal, Niger Burundi und Äthiopien."

Quelle:  http://www.baz.ch/news/index.cfm?keyID=D9D08A04-1208-4059-9E63E3737491F484&startpage=1&ObjectID=4E950F68-60CF-2062-F4A09698F6835BED

operation 'Ich-AG'

a.lo.it 15.09.2005 - 12:46
Richtig. Es ging bei der ich-ag kleingewerbe'förderung' ja nicht wirklich darum menschen in eine echte selbstbestimmung und -ausbeutung zu entlassen, sondern an kleinsparerguthaben ranzukommen.

Überleg doch mal, was braucht ein ich-ag-mensch der/die das eigene 'unternehmen' aufbauen will: Investitionsmittel.
Die meisten ich-ag'ler haben nach jahren der erwerbslosigkeit aber keine eigenen mittel mehr, also wird die oma, opa, werden freunde gefragt, ob sie nicht etwas geld übrig haben, oder es werden bankkredite getätigt,
um den fahrbaren imbissstand, das kiosk, den ich-ag spätkauf, die fliegende putztruppe auszurüsten.

Ist vollkommen wurscht ob sich das für die ich-ag'ler rechnet, für die banken rechnet es sich auf alle fälle. Für die abeitsmarkt 'deregulierung' rechnet sich das auch, da die ich-ag'ler meisst unter preis arbeiten um überhaupt etwas kohle zu machen und natürlich tauchen die ag'ler in keiner a-amtsstatistik mehr auf.
Schafft es der 'unternehmer' gar von den gesetzlichen 'sicherungsystemen' wegzukommen, saniert er auch noch deren bilanzen, da er/sie dann bei krankheit/rente selbst für sich sorgen muss.
(die meissten haben kein geld für sowas übrig)

Eine alles in allem gelungene aktion, nur der ich-ag-mensch ist am arsch, prima umwandlung von systemproblemen zu 'privaten' problemen. Liegt voll im trend.

Viele ich-ag'ler schaffen dannach wieder einen festen job zu ergattern:
Menschen die selbstständig mitdenken wie sie sich am besten ausbeuten lassen werden überall gesucht und dann können auch die kredite wieder abbezahlt werden, jedes jahr ein bischen.

weg mit den 'modernen' mythen

a.lo.it 15.09.2005 - 13:36
'Früher, im Mittelalter, gab es zu viel Arbeit. Man schuftete den ganzen Tag und konnte doch nicht für alle sorgen...'

Das stimmt leider nicht ganz, wird aber von neo'liberalen' oft ins feld geführt, dass es 'uns' heute ja so viel besser geht.
Vielleicht solltest du dich mal etwas mehr darüber informieren, lieber  http://thedevilsadvocate.twoday.net/stories/975746/

Es gibt untersuchungen, die zeigen, dass über das jahr gerechnet(!) die arbeiter im mittelalter ca nur 5 std. malocht haben und das natürlich nicht im entferntesten so hoch verdichtet wie heute.
Früher konntest du in vielen monaten im jahr kaum was produzieren (z.b. im winter), nach dunkelheit war malochen nur noch schwierig machbar, licht (kerzen) konnten sich nur reiche leisten und die haben bei kerzenschein bestimmt lustigeres zu tun gehabt.

Auch sollen die leutchen im frühmittelalter recht gross gewesen sein, was auf gute ernährung hindeutet. Wurde erst dann schlimmer, als nicht nur der lokale 'chef' mit durchzubringen war.

Ist mir klar, dass du 'thedevilsadvocate' kein neoliberaler bist. Also besser bei mythen von 'früher' die uns so im kopf rumspuken, erstmal überprüfen.
Viel von der herrschenden meinung sind mythen der herrschenden in unserem kopf.