Chile: Kein Vergessen zum 11.09.73

till 12.09.2005 04:59 Themen: Antifa Militarismus Repression Weltweit
In Chile wurden heute anlässlich des 32. Jahrestages des Pinochetputsches wieder allerlei Aktionen in Fabriken, an der Uni, an zentralen Plätzen, in den Poblaciones Santiagos und bei den Friedhöfen angekündigt.
Nach wie vor können Menschen nicht zurück nach Chile, weil sie sich gegen die Diktatur zur Wehr setzten. Außerdem sitzen immer noch Leute im Knast, die Faschisten haben immer noch oft das Sagen in Polizeikreisen, Parteien und dem Militär.
Die Entwicklung in diesem Land, in dem der Faschismus sich wie sonst fast nirgends unverfrohren als Partner des Kapitals zeigte und zeigt (einfachstes Beispiel: fast alle Rechten sind wohlhabend, in der Oberschicht, Großkonzerne arbeiteten unterstützten offen die politische Rechte vor und nach dem Putsch), ist sicher auch aus deutscher Sicht interessant; schließlich tat sich in der deutschen Gesellschaft auch erst 68 grundlegend etwas, 23 Jahre nachdem der durch dieses Land entstandene 2. Weltkrieg beendet wurde.
In Chile ist die Situation dadurch anders, daß Pinochet nicht Selbstmord beging, sondern abgewählt wurde, eine Entnazifizierung also nie stattfand (ja, in Dland wars auch nicht der Hammer, deswegen Generationenkonflikt, usw.), der Ex-Diktator nach wie vor den Generalsrang innehat. Urteile der Militärjustiz (meist politische Gefangene betreffend) wurden nicht aufgelöst, da die unabhängige Militärjustiz im Gegensatz zur Ziviljustiz nicht reformiert wurde. Das mächtige chilenische Militär unterhält die "beste" Universität des Landes (so ein Chilene), ein neu errichtetes Militärgefängnis ist das wohl luxoriöseste Altenheim Chiles mit Tennisplatz und Swimmingpool (vermutlich für den eventuellen Fall einer Verurteilung des angeblich meist prozessunfähigen Pinochets). Amnestieangebote an Gegner und somit Opfer des Militäregimes wurden im Autausch mit einer Amnestie für Schergen des Faschismus getätigt. Alles in allem müssen sich Opfer der Diktatur verarscht vorkommen, viele wollen jetzt nur noch, dass Pinochet endlich stirbt, an Gerechtigkeit glauben sie nicht mehr.
Wie im Nachkriegsdeutschland will sich die neu heranwachsende Generation nicht mit dem Abfinden, was vorher war und es bauen sich allmählich wieder soziale Bewegungen auf. Parallel zum Apec-Gipfel letzten Jahres in Santiago de Chile fand zum Beispiel das 1. chilenische Sozialforum statt, sodass in der gesamtem Stadt Aktionen initiiert wurden und viele vorherige Theorie-Linke Ideen und Anreize zu Engagement in Arbeitsgruppen fanden. Insgesamt waren dies die größten Sozialproteste in Chile seit der Umbruchsphase vor 16 Jahren. Neben den Ausschreitungen, über die im internationalen Fernsehen berichtet wurde, erklärte mir eine Studentin, dass sie froh sei, dass die Chilenen wieder selbstbewusst und idealistisch Widerstand leisteten, dieses (die "Krawalle") also politisch-kulturell nötig seien. Denn viele Menschen haben sich durch die Diktatur entpolitisiert, in Chile herrscht ein Kapitalismus ohne soziale Sicherheit, das Vertrauen in politische Initiativen ist gering (wird als vergangenheits-/rückwärtsgewand abgeurteilt), zudem haben viele Angst vorm Staat (Beispiele: Alkoholgenuss ist auf der Straße verboten, Ottonormalchilene tut es nicht, oft nur Punks und Alkoholiker; mitführen oder werfen von Motow-cocktails bedeutet 10 Jahre Knast).
All dies sind natürlich subjektive Eindrücke meines Aufenthaltes dort. doch ich habe das Gefühl vieles, was in Chile passiert, verstanden zu haben und denke, dass zur Zeit unterschwellig viel passiert, die Gesellschaft vor Veränderungen steht, die dem Land wieder sozialpolitischen Mut und Aufbruchsstimmung verleihen könnte, womit ich nicht die Wahlen zum kommenden Jahreswechsel meine, sondern die Köpfe, die Freiheitsgedanken der jungen Chilenen.
Nun -zurück in Dland- wundere ich mich, dass kein Bericht bei Indymedia gekommen ist, sollen hier doch Nachrichten gepostet werden, die in den Mainstreammedien nicht zu lesen sind. Ich habe nun den Leitartikel aus Indymedia Santiago übersetzt und teils ergänzt oder gekürzt, würde mich natürlich freuen über Ergänzungen chilenischer Gruppen hier aus Deutschland, die vor zwei Jahren noch intensiv zum 30. Putschjahrestag berichteten sowie selbst die chilenische Botschaft in Berlin besetzten und sicher mehr wissen als ich, sicher auch entsprechende Kontakte nach Chile pflegen, denn Indmedia in Chile ist nicht sehr ausführlich.
Wenn hier jeden Tag über antifaschistische Aktivitäten in Deutschland berichtet wird, muss auch über Chile berichtet werden!
Hier nun ein kurzer Abriss über den Verlauf des 11. Septembers in Santiago, Ergänzungen zu anderen Städten sind willkommen, vielleicht mach ich es sonst auch noch, doch mein Spanisch ist etwas brüchig.

Mehr als 5000 Menschen haben heute bei der neben dem 11. September schwerpunktmäßig in Bezug auf die tagende Nationale Menschenrechtskommission ausgerufenen Demonstration von der Plaza Los Heroes zum Zentralfriedhof (Cementerio General) teilgenommen. Während der Route wurden Farbbeutel auf die Moneda (Regierungspalast) geworfen, Kreuze zum Gedenken an die Gefallenen am Plaza de la Constitution (Übers.: Platz der Verfassung, Pinochet verabschiedete 1981 eine bis heute noch gültige, erst dieses Jahr teils entschärfte Verfassung, unter welcher weiter gefoltert wurde und die wegen der Nichtabschaffung 1989 Gerechtigkeit für Diktaturopfer erschwert oder verhindert) aufgestellt. Außerdem wurden während der Demo einige Banken mit Farbbeuteln bedacht.
Als die Demo die Avenida Recoleta (Hauptstraße im ärmeren Stadtteil Recoleta, wo die Friedhöfe liegen und jährlich Protest- und Gedenkaktionen ob der Opfer stattfinden) kam es zu Unruhen (Spanisch: disturbios). Schließlich wurden kurz vorm Friedhof Barrikaden errichtet, um die kommenden Polizeieinheiten aufzuhalten, doch unterdessen hatten es einige Spezialeinheiten der Polizei (FF.EE., Fuerzas Especiales, Hauptaufgaben: Bewachung der Moneda und Herstellung der öffentlichen Ordnung, usw.) aufs Gelände geschafft und konnten 8 Leute festnehmen, unter anderem ein 12jähriges Mädchen und ihren Vater.
Die "Wiederaufrüstungs-Demonstration" (MarchaRearme, wohl in Bezug darauf, dass sich die linksradikalen Gruppen wie der MIR seit 1989 aus dem bewaffneten Kampf zurückgezogen haben, was viele ob der denmokratischen Realität in Chile kritisieren; bitte korrigiert mich, wenn ich hier danebenliege) sollte ursprünglich aus Recoleta ins Stadtzentrum verlaufen, wurde aber ohne Angabe von Gründen gestoppt. 2 Brücken über den Mapocho waren von Polizisten blockiert, sodass sich die 200 Aktivisten zerstreuten und schließlich doch ins Zentrum fanden, wo sie am Plaza de Armas politisch-kulturell aktiv wurden (mehr steht nicht drin bei Indy-Santiago).
Andere Aktivisten versuchten nun weiter zum Paseo Ahumada (Haupteinkaufs-Konsum-Straße im Zentrum Santiagos) zu gelangen, wurden aber mit Gewalt daran gehindert. Einsatzfahrzeuge fuhren auf Demonstranten zu, inkaufnehmend diese zu überfahren (übliche Praxis der chilenischen Polizei). Ein Mensch wurde festgenommen, als er einen Strauß Blumen in ein Polizeifahrzeug reichen wollte.
Vor der Universidad de Chile wurden 30 Menschen festgenommen, die Gedenktafeln für die Ermordeten unter dem Militärregime aufstellen wollten.
600 Polizisten befinden sich direkt im Einsatz, 10000 weitere in Bereitschaft (nachts finden am 11. September oft weitere Aktionen mit Barrikaden in einzelnen Vierteln dezentral statt).

Wie gesagt, ich warte auf Ergänzungen und Kritik oder Fragen.
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Ergänzungen

siehe dazu auch die lokalen Indymedia's

Erg 12.09.2005 - 03:15
Für weitere Berichte zum Jahrestag sind vielleicht doch die 3 lokalen chilenischen IMCs zu empfehlen. Die ersten Berichte trudeln dort langsam ein (dort ist ja jetzt erst Nachmittag). Wer spanisch kann, könnte was übersetzen und als Ergänzung posten.

 http://valparaiso.indymedia.org/
 http://santiago.indymedia.org/
 http://chilesur.indymedia.org/

PS: übrigens wurde das Pinochet-Regime nicht nur von Großbritannien unterstützt (wer erinnert sich nicht an den Eklat, als Thatcher vor einigen Jahren Pinochet vor Strafverfolgung schützte...), sondern auch von Deutschland. Nebenbei: Ein Großteil der Polizeiausrüstung und der Folterwerkzeuge stammten aus Deutschland.

PPS: bitte nicht Faschismus und Nationalsozialismus gleichsetzen. Der Nationalsozialismus war eine Sonderform des Faschismus (siehe KZ's, Weltkrieg, etc.), auch wenn die Grenzen fliessend sind - wobei zu erwähnen wäre, daß Altnazis aus Deutschland Pinochet unterstützten.

Bitte mehr davon!

egal 12.09.2005 - 07:05
Da stehen immer wahnsinnig interessante Sachen auf den lateinamerikanischen oder spanischen Seiten und ich kann die Inhalte gerade nur mal so erahnen. Bilder wären gut. Auch finde ich viele Grafiken gut, die dort gepostet werden.

links

egal 12.09.2005 - 08:23
20 Jahre Putsch - interessant sind die Zitate am Ende vom Artikel des marxistischen "funke" -  http://www.derfunke.de/rubrik/geschichte/chile.html
Geschichte Chiles, Wikipedia -  http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Chiles
WoZ-Interview mit dem Schriftsteller Luis Sepúlveda -  http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Chile/11-sept.html
Wer hat die geladene Pistole auf dem Tisch gelassen? Der Philosoph Víctor Farías über die chilenische Linke -  http://www.contextxxi.at/context/content/view/262/1/
Fairerweise die junge Welt dazu -  http://www.jungewelt.de/2005/05-28/021.php
11. Sept 2003, indymedia mit massig weiteren links -  http://de.indymedia.org/2003/09/61190.shtml

Uiala!

Nostalgiker 12.09.2005 - 08:44
Fotos von einer globalisierungskritischen Demo 2004 - die können ganz schön aufzünden, die Kiddies dort. Man beachte das optische Erscheinungsbild der eingesetzten Polizei - das ist Globalisiserung.
 http://www.lahaine.org/b2/articulo.php?p=4921&more=1&c=1

protester suffered multiple fractures

P. Neruda 12.09.2005 - 11:58

Chilean university students attack a motorized water cannon used by riot police during clashes in the port city of Valparaiso September 8, 2005. Some 200 students were dispersed by police when they demonstrated ahead of the 32nd anniversary of the military coup that brought Augusto Pinochet to power on September 11.
 http://news.yahoo.com/news?tmpl=story&u=/050908/ids_photos_wl/r3537702131.jpg


A Chilean university student (L) runs as another is pinned against a metal fence as they attacked a motorized water cannon used by riot police during clashes in the port city of Valparaiso, September 8, 2005. The protester pinned to the fence suffered multiple fractures in the incident. Some 200 students were dispersed by police when they demonstrated ahead of the 32nd anniversary of the military coup that brought August Pinochet to power on September 11.
 http://news.yahoo.com/news?tmpl=story&u=/050908/ids_photos_wl/r4171775745.jpg

Fotos

verlinker 12.09.2005 - 13:42
Einige Fotoseiten zu der oben beschriebenen Demo:
 http://santiago.indymedia.org/news/2005/09/38426.php
 http://santiago.indymedia.org/news/2005/09/38402.php
 http://santiago.indymedia.org/news/2005/09/38384.php
 http://santiago.indymedia.org/news/2005/09/38347.php
 http://santiago.indymedia.org/news/2005/09/38308.php
 http://santiago.indymedia.org/news/2005/09/38288.php

Proteste am 8. September in - wenn ich das richtig gecheckt hab - Valparaiso. 200 Demonstranten - hauptsächlich Studenten - lieferten sich stundenlange Straßenschlachten mit der Polizei, wie jedes Jahr. Neben dem Typ, der mit dem Wasserwerfer gegen den Zaunpfahl gedrückt wurde, sind weitere 5 Leute von Fahrzeugen angefahren worden.
 http://valparaiso.indymedia.org/news/2005/09/4408.php
 http://valparaiso.indymedia.org/news/2005/09/4372.php
 http://valparaiso.indymedia.org/news/2005/09/4380.php
 http://valparaiso.indymedia.org/news/2005/09/4357.php
 http://valparaiso.indymedia.org/news/2005/09/4366.php

Erste Scharmützel gibt dort es scheinbar bereits seit Mitte der Woche:
 http://valparaiso.indymedia.org/news/2005/09/4322.php

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