[Schurkenjäger] Dimensionen und Hintergründe

marcabru 22.06.2005 19:03 Themen: Medien Netactivism Repression Soziale Kämpfe Weltweit
Obwohl angeblich lediglich die Mailbox von  croceneraanarchica@inventati.org unter Überwachung gestellt wurde ist, wie die Erklärung von Autistici/Inventati schon sagt, ist es realistisch davon auszugehen, dass jede/R, der die bei autistici/inventati eine Adresse hat, mit ins Netz gegangen ist. Sieht Mensch sich an, wie salopp die italienischen Behörden allen möglichen Leuten die schlimmsten Wesenseigenschaften unterstellen und wie intensiv die Telekommunikationsüberwachung bei der Strafverfolgung von Aktivisten zu Buche schlägt, wird die Tragweite des jüngsten Vorfalls um so klarer.
Autistici/Inventati gewährleistete stets sehr engagiert den Schutz der Nutzer vor fremden Einblicken. Das funktionierte dadurch, dass die Kommunikation zwischen dem Server, der Autistici/Inventati beherbergt(e) und einem Rechner, von dem aus eine Verbindung hergestellt wird, verschlüsselt über’s Netz gehen. Mit der Aktion vom 15. Juni ist dieser Schutz zumindest für den Moment entfallen. Autistici/Inventati sind, wie in der Erklärung angedeutet, bereits in Aktion, um alle möglichen Gegenmaßnahmen zu treffen und um neue Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Das Problem liegt in den Tagen zwischen der Aktion der Webpolizei am 15. Juni und dem Abzug von Autistici/Inventati bis zur Bereinigung und Wiederinbetriebnahme unter sicheren Bedingungen. Über Autistici läuft die Kommunikation von weiten Teilen der italienischen Bewegungen. Die unterschiedlichsten Gruppen und Initiativen kommunizieren nutzen das Projekt, deshalb ist die Aussage zulässig, dass sich die italienischen Behörden einen wahren informationellen Leckerbissen geholt haben. Es wäre erstaunlich, wenn wirklich nur die croceneraanarchica-Daten der Neugier der Ermittler anheim gefallen wären: die Verfolgung von AktivistInnen in Italien stellt längst immer mehr auf Konstrukte ab, die mit Hilfe von höchst abenteuerlichen Deutungen von Abhör- und Mailüberwachungsmitschnitten zusammengeflickt werden.

Der seit einigen Jahren verschärft umgestzte „Sicherheitspolitische“ Ansatz der Behörden beruht ebenfalls auf ein abenteuerliches Konstrukt. Seit Jahren meinen die „Experten“, d.h. der Innenminister und die Spitzen der Antiterrorabteilungen und –Staatsanwälte allen Ernstes, dass angebliche Teile von „Restgruppen“ aus dem Bereich des bewaffneten Kampfes in Italien seit der Zerschlagung des selbigen versuchen, die sozialen Bewegungen zu „unterwandern“. Daraus ergibt sich ihrer Meinung nach das Organisationsmuster der „doppelten Ebene“, wie sie immer wieder bei Haft- und Durchsuchungsbefehlen thematisiert wird. Bei den Durchsuchungen und Verhaftungen von Anarchisten im vergangenen Mai lautete die Formel, welche die Betroffenen für subversiv erklärte, wie folgt: [...] Förderung Gründung, Organisation und Mitgliedschaft in einer Vereinigung die darauf ausgerichtet ist, gewaltsam die im Staat konstituierte Wirtschafts- und Sozialordnung umzustürzen und Gewaltakte mit dem Zweck der Zersetzung der demokratischen Ordnung zu vollbringen, die nach dem Zwei-Ebenen-Schema auf zusammengesetzte Weise strukturiert ist (die eine offenkundig und scheinbar legal, die andere verdeckt und praktisch illegal und auf die Bildung von Affinitätsgruppen abgestellt)“.

Dieser Konstrukt der „doppelten Ebene“ bietet sich freilich bestens an, um so gut wie jeden Aktivisten der „umstürzlerischen“ bzw. der „subversiven“ bzw. der „kriminellen“ Vereinigung, wenn’s geht noch mit dem Zusatz der „terroristischen“ Zielsetzung“ zu bezichtigen. Der Bestand von einer wie auch immer qualifizierten „Vereinigung“ soll nach dem besagten Ansatz durch die „Erkennbarkeit“ eines „Plans“ belegt sein, der wiederum dann als solcher identifiziert werden kann, wenn bestimmte Handlungen bzw. Handlungsweisen „wiederholt“ auftreten, unabhängig davon, ob die Akteure die selben sind oder nicht und ob sich unterschiedliche Akteure überhaupt kennen. In diesem Zusammenhang sind einige Staatsanwaltschaften mittlerweile längst dazu über gegangen, das gesamte Spektrum der sozialen Bewegungen zu durchleuchten und auf „organisierte Subversivität“ zu prüfen.

Einer Agenturmeldung zufolge prüft die besonders aktive Staatsanwaltschaft Bologna mit Hilfe von jenem Konstrukt beispielsweise sogar ein etwaiges Vorliegen einer „Vereinigung zur Durchführung von bestimmten Straftaten“ in Zusammenhang mit drei Aktionen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlichen Teilnehmerkonstellationen von Disobbedienti („De Ungehorsamen“) durchgeführt wurden. Derzeit laufen wegen den Aktionen zahlreiche Einzelverfahren, doch scheint die Staatsanwaltschaft über die Eröffnung einer Ermittlungsakte über die Bildung einer „Vereinigung“ nachzudenken, die, wie ein Ermittler erklärte, „dazu dienen soll, zu verstehen, ob es eine Gruppe von Personen gibt, die sich absprechen, um eine nicht definierte Reihe von Straftaten zu begehen, wodurch sie den Tatbestand der Vereinigung zustande kommen lassen“. Je nach dem, wie die Ergebnisse ausfallen werden, soll dann der Vorwurf der „kriminellen Vereinigung“ nach § 416 des italienischen StGB erhoben werden oder der, der „umstürzlerischen Vereinigung“ nach § 270, der dem deutschen 129a ähnelt.

Bei den drei Ereignissen, aus denen sich anhand des von den Experten ersonnenen Faktors der „Wiederholung“ von Handlungen ein „Plan“, eine Absprache und daraus wiederum eine „Organisierte Vereinigung“ ableiten lassen sollen, handelt es sich um die „Autoriduzione“ (Selbst durchgesetzte Preisminderung) im Capitol-Kino in Bologna am 27. Oktober 2004, um die Auseinandersetzungen am 6. November des selben Jahres am Bahnhof von Bologna, als Disobbedienti, die zur landesweiten Demonstration des Präkariats nach Rom wollten eine Preisminderung für die Fahrt durchsetzten und um die Auseinandersetzungen, zu denen es in Zusammenhang mit der gleichen Situation anlässlich der Fahrt zur Mayday-Parade in Mailand am 1. Mai 2005. Das Beispiel macht sehr deutlich, wie niedrig die Schwelle zur Erhebung des Vorwurfs der Bildung einer wie auch immer qualifizierten Vereinigung angelegt wird. Die geschilderte Angelegenheit bezüglich der Disobbedienti in Bolgna ist noch nicht endgültig konkret, dafür sind aber die vielen Aktionen der Polizei gegen Anarchisten im ganzen Land sehr konkret, deren lange Liste gerade im letzten Monat ein weiteres Mal erheblich länger wurde.

Es geht dabei um weit über 100 Durchsuchungen und um 24 Verhaftungen, von denen sich ein Teil angeblich um die berühmten Briefbomben die verschiedene Adressaten in Italien und im Ausland nicht nur zur Zeit der Brandbriefe an Prodi und andere EU-Prominente dreht, die spätestens seit dem Vorabend des G8 in Genua ab und an Schlagzeilen machen, und ein anderer Teil um Aktivisten, die gegen die Zentren kämpfen, in denen Migranten, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen de facto inhaftiert sind und/oder anderweitig in soziale Kämpfe involviert sind. Die Begründungen für die Maßnahmen stellen dabei tatsächlich immer mehr auf irgendwelche Email-Zitate bzw. Abhörmitschnitte ab. Das Gleiche gilt für sämtliche Verfahren gegen die so genannten „Anarcoinsurrezionalisti“, die sich seit Jahren angesammelt haben und für den zweiten Strang der strafrechtlichen Genua-Nachwehen im Prozess von Cosenza. Hin und wieder gibt es dann die nächste Durchsuchungswelle, jedes Mal werden zig Personen getroffen und Rechner und allerlei Materialien in Hülle und Fülle werden eifrig beschlagnahmt und untersucht. Oft wird der Radius der Durchsuchungen äußerst „großzügig“ angelegt, es werden mir nichts dir nichts Elternhäuser, Büro- und Vereinsräume und Mitbewohnerzimmer durchsucht. Jedesmal wird die Erfassung von Oppositionellen über die Auswertung der Materialien genauer.

Wer (Teil eben erst durch Kommunikationsmonitoring) auffällt, wird manchmal über Monate oder auch Jahre engmaschig überwacht. Telefone werden abgehört, Emails und Post werden mitgelesen, Wanzen werden in Autos und Aufenthaltsorten von „Verdächtigen“ versteckt, bis dann aud dem Mitgehörten per copy and paste die Grundlagen für die Begründungen der nächsten Durchsuchungswelle fabriziert werden. Diese werden bei näherem hinsehen auffällig oft dann gestartet, wenn irgend etwas anderes los ist. Beispielsweise kam es zu solchen Großaktionen oft in zeitlichem Zusammenhang mit größeren Mobilmachungen der Bewegungen oder der Arbeiter. Die Durchsuchungswellen (denn es waren gleich vier) im Mai stiegen während in zwei CPT, jene „Zentren“, in denen Migranten unter unsäglichen Bedingungen festgehalten werden, obwohl sie nichts verbrochen haben, zwei heftige Revolten, von denen eine 21 Verhaftungen zur Folge hatte, die den Revoltierenden schon erste Haftstrafen eingebracht hat, ausgebrochen waren und innerhalb weniger Tage vier Migranten meist auf der Flucht bei Polizeirazzien und- Kontrollen ums Leben kamen. Regelmäßig überschattet der Pressewirbel um die Verhaftungen und Durchsuchungen das eigentliche Thema. Regelmäßig verschwindet die Gewalt, wegen der überhaupt manche Kämpfe entstehen als Thema hinter Artikeln zu den neuesten polizeilichen Großaktionen, die lauter gewalttätige Umstürzler an die Wand malen, das Können der Ordnungshüter preisen und mehr oder minder jeden belehren, bloß nicht als ein solcher gewalttätiger Umstürzler oder gar Terrorist durch die Weltgeschichte zu wandeln.
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Ergänzungen

[Schurkenjäger] Wer sind Autistici/Inventati?

muss ausgefüllt werden 23.06.2005 - 14:02