10. Prozesstag GI: Erste Vorentscheidungen

AbwehrspielerIn der Ordnung 26.04.2005 01:46 Themen: Repression
Am 10. Prozesstag läutete sich das Ende des Prozesses ein. Bis 17.30 Uhr werkelte das Gericht – immer wieder in teils langen Pausen die ganzen noch ausstehenden Anträge abarbeitend, die von den Angeklagten in den neun Tagen davor gestellt und die noch nicht bearbeitet wurden. Drei ZeugInnen wurden dazu spontan noch herangeschafft und verhört, der wichtigste Antrag zu Lügen des Polizeipräsidenten ( http://www.sumpf-meise.de.vu) sowie anderer Anträge abgelehnt. Dabei fanden sich in den Begründunge aber erste Hinweise auf die Urteile zu den Anklagepunkten. Abends wurde die Beweisaufnahme geschlossen, d.h. am nächsten Prozesstag folgen die Plädoyers der Angeklagten. Auch ein Urteil ist an diesem Tag schon möglich, kann aber auch noch ein Prozesstag später sein. Wer noch einmal die Gießener Gerichtsluft schnuppern will: Freitag, 29.4.2005 ab 9 Uhr, Landgericht Gießen.
Ein festes Programm hatte der 10. Prozesstag anfangs nicht. Die Angeklagten hatten aber wieder einige Anträge eingebracht. Dazu gehörten Beweisanträge zu den unglaublichen Aussagen der Ex-Grünen Bürgermeisterkandidatin Gülle im vorherigen Prozess (siehe Bericht unter ), z.B. dass ihre Behauptungen bezüglich eines Zugebens von Wahlplakateveränderungen durch einen Angeklagten am Telefon ebenso erfunden sei wie ihr Standort, als ihr Wahlplakat nass gegossen wurde.


Rauswurf zu Beginn

In den ersten Minuten des 10. Prozesstages wiederholte sich etwas von einem der ersten Prozesstage. Die gleiche Person, die mit massiver Gewalt aus dem Saal geworfen wurde, war erneut da. Wie damals auf Antrag der Angeklagten auch geklärt, hatte sie wieder einen Hut auf. Die Richterin wollte von ihrem eigenen Beschluss aber nichts mehr wissen und wies die Person wieder an, den Hut abzusetzen. Als dieser das nicht tat, wurde er wieder rabiat rausgeworfen. Die Angeklagten protestierten und hielten der Richterin schließlich ihren eigenen Beschluss von vor einigen Wochen vor. Sie sagte dann, das sei zwar richtig, aber weil er widersprochen hatte, den Hut abzusetzen, müsse er gehen. Er habe zwar Recht gehabt, aber Widerspruch ist auch dann nicht erlaubt ... Gericht halt ...


Verfahrenshindernis zu Gail-Vorgang

Zur Strafanzeige wegen Hausfriedensbruch stellte ein Angeklagter den Antrag, dass dieser Anklagepunkt wegen einem Verfahrenshindernis herausgenommen werden müsse. Auszug aus dem Antrag: „Schwerwiegender aber ist der Makel, dass Herr Gail über das Stellen einer Anzeige die Stadtverordnetenversammlung oder Gremien derselben nicht unterrichtet hat. Nach Hessischer Gemeindeordnung ist dieses nämlich zwingend vorgeschrieben. Dort heißt es im Paragraph 58, Abs. 7: „Der Vorsitzende vertritt die Gemeindevertretung in den von ihr betriebenen oder gegen sie gerichteten Verfahren, wenn die Gemeindevertretung nicht aus ihrer Mitte einen oder mehrere Beauftragte bestellt.“ Diese Formulierung klärt, dass eine Vertretung in solchen Fällen durch den Vorsteher nur möglich ist, wenn die Versammlung die Gelegenheit hat, auch einen anderen Vertreter für das jeweilige Verfahren zu benennen. Dieses ist jedoch nur möglich, wenn sie von einem solchen Verfahren überhaupt informiert wird. Das ist nach den übereinstimmenden Aussagen der dazu befragen Zeugen nicht geschehen. Daher hat der Stadtverordnete unbefugt gehandelt, seine Anzeige ist daher nicht rechtswirksam zustandegekommen. Damit ist die Anklage in diesem Punkt hinfällig, da eine Anzeige zwingend erforderlich ist.“
Dieser Antrag ist noch nicht entschieden worden, weil das üblicherweise erst im Urteil erfolgt. Der komplette Text des Antrags findet sich unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_tag10antrag_hindernis.html.


Neue Gail-Lügen werden bekannt

Für einen Teil des Verfahrenshindernis-Antrags wurde sofort ein Zeuge geladen ... der Law-and-Order-Rechtsamtschef der Stadt Gießen, Herr Metz. Der berichtete über das Stellen der Strafanzeige und legte einen Brief vor, wo er von Gail aufgefordert wurde, die Anzeige zu stellen. Das widersprach einerseits der vorherigen Schilderung von Metz selbst, aber vor allem der von Gail am achten Prozesstag, wo dieser noch ausgesagt habe, er habe nicht entschieden, ob Anzeige gestellt würde.
Ohnehin: Gail war durch den letzten Prozesstag erneut dicke unter Druck geraten. Selbst CDU-Fan und Projektwerkstattshasser Guido Tamme von der Gießener Allgemeinen machte schon eine Art Abgesang auf ihn – und grämte sich, dass Gail ausgerechnet gegen die „gesellschaftlichen Außenseiter“ verloren habe ( http://www.luegen-gail.de.vu).


Textbaustein „Bergstedt“

Das Gericht forderte bei der Stadt Grünberg die Information an, wie groß der Schaden durch die Graffities am 9.1.2003 gewesen sei. Die Stadt mailte: 655,57 Euro, davon bis auf 100 Euro alles Personalkosten für eigenes Personal (teuer, teuer das Ganze ...). Bemerkenswert: In der Presse wurde damals eine Summe von 15.000 Euro skandalisiert. Naja ... schön war in der Mail aber, dass da von den Schäden durch die „Schmierereien des Herrn Bergstedt“ gesprochen wurde. Der ist aber gar nicht deswegen angeklagt. Aber offenbar ist der Name landauf, landab in den Computern schon als Textbaustein für alle Böse enthalten.


Der Polizeipräsident soll kommen ... versprochen, gebrochen!

Im Mittelpunkt der Antragsstellung stand ein umfassender Antrag zu Lügen der Polizeiführung in Gießen. Der Angeklagte B. legte einen langen Antrag vor, in dem Äußerungen des Polizeipräsidenten Meise gegenüber der Presse zum Lügen-Vorgang Gail minutiös widerlegt werden. Zudem wurde ausgeführt, dass eine Zeugin (Staatsschutzbeamtin Mutz) im laufenden Verfahren offenbar zwecks Deckens der Lügen ihres Chefs eine Story frei erfunden hat. Das wäre brisant gewesen, berührt es doch das gesamte Polizeigeschehen in Mittelhessen. Das Gericht ließ den Antrag aber abblitzen.
Im Antrag war zu lesen: In der FR vom 17.3.2005 ist auf S. 37 zu lesen, dass Polizeipräsident Meise sagt: „Ich bleibe dabei: Es war in keinster Weise geplant, dass zivile Kräfte ins Parlament gehen. Das hat sich aus der Situation heraus entwickelt.“ Dieser Satz lässt sich konkret als Lüge belegen.
Dann wurden vier Gegenbelege für Meises Aussage gebracht und folgende Zusammenfassung: Jeder der vier Punkte reicht als Beleg dafür, dass Polizeipräsident Meise und die Polizeipressestelle die Unwahrheit sagen. Daher ist die Vernehmung von Führungsbeamten der Gießener Polizei wichtig, denn wenn der oberste Polizeibeamte dieser Region und seine Pressestelle gezielt zugunsten der Gießener Stadtpolitiker und Anzeigesteller in diesem Prozess sowie zuungunsten der Angeklagten lügen, dann kann fortan nicht mehr behauptet werden, dass andere Verdachtsmomente auf Fälschungen, Erfindungen, Vertuschung und schlichte Lügen durch Angehörige der Gießener Polizei absurd sein sollen.
Vollständiger Antragstext mit Passagen über die Lügen des Polizeipräsidenten und der Polizeipressestelle sowie Gerichtsbeschluss dazu unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_tag10antrag_abbruch.html.
Infos zu den Lügen von Meise und zum Filz mit der Politik:  http://www.sumpf-meise.de.vu.


Persönliches

Recht ausführlich wurde mit den Angeklagten diskutiert, wie sich so finanzierten usw. Wer zuhörte, erfuhr einiges über Containern, Selbstorganisierung usw. Beide Angeklagten formulierten deutlich, ihr Leben an diesen Punkten keinesfalls in Richtung Arbeitengehen u.ä. verändern zu wollen – auch wenn die Richterin das fürsorglich vorschlug ...


Zwei ZeugInnen

Zwei ZeugInnen sagten zum Vorgang „Gülle“ aus, einmal zum Telefonat vorher und einmal zum Standort von Gülle beim Begießen der Wahlplakate. Deutlich sichtbar: Gülle hat gut gelogen am vorherigen Prozesstag. Da sie vereidigt wurde, muss sie nun ein sattes Strafverfahren fürchten ... wenn Staatsanwalt Vaupel nicht wieder seinen klassischen Stil des Obrigkeitsschützers anwendet (siehe bisherige Fälle unter  http://www.projektwerkstatt.de/polizeidoku/anzeigen.html).


Anträge, Anträge, Anträge

Um die Beweisaufnahme abschließen zu können (damit es am Freitag die Plädoyers geben kann), machte das Gericht immer wieder Pausen, um zu beraten. So ging der Prozess bis ca. 17.30 Uhr und die Serie an Anträgen und Beschlüssen macht deutlich, was im Verlauf dieses Prozesses alles so an Eingaben durch die Angeklagten aufgetürmt wurde – immer wieder auf der Suche nach Hintergründen und exakten Recherchen zu den Vorgängen und den Strategien der Polizei in Mittelhessen. Neben den schon genannten Beschlüssen wurden noch gefällt:
- Beweisaufnahme, dass Anklage-Vorwürfe gar nicht zu den Aktionsstilen und Argumentationsmustern aus der Projektwerkstatt passen, als „ohne Bedeutung“ abgelehnt (Antrag und Beschluss unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_tag9antrag_broers.html).
- Eine Ausschnittsvergrößerung des Fotos, auf dem Angela Gülle zu sehen ist, wie sie hinter ihrem Stand und nicht (wie von ihr behauptet) vor dem Stand am Plakateständer steht, wurde abgelehnt (Antrag und Gerichtsbeschluss unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_tag10antrag_guelle.html).
- Die Falschaussage des Polizisten Koch in einem anderen Gerichtsverfahren ist für dieses nicht von Belang (Antrag und Gerichtsbeschluss unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_tag5antrag_koch.html).
- Die Unterdrückung von Informationen durch die Polizei in einem anderen Vorgang wird nicht untersucht, weil das mit dem laufenden Verfahren nichts zu tun haben soll (Antrag und Gerichtsbeschluss unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_tag2antrag_lich.html).
- Ortstermin zum Anklagepunkte 11 (Körperverletzung, Prügelei am CDU-Stand) wird als überflüssig erachtet (Antrag und Beschluss unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_tag8antrag_cdu.html).
- Und einige andere mehr ...


Vorentscheidungen?

Einige der Beschlüsse zu Anträgen hatten es aber in sich, weil in den Gründen durchschimmerte, welche Urteile das Gericht zu dem jeweiligen Punkt fällen wird.
- Beweiserhebung, dass auch noch andere Personen im Bereich der veränderten Wahlplakate kontrolliert wurden, wird als wahr unterstellt, d.h. es kann so als bewiesen gelten vor Gericht. Das Gericht wies aber explizit darauf hin, dass eine gemeinschaftliche Tat trotzdem noch in Frage kommt (Antrag und Gerichtsbeschluss unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_tag5antrag_wahllplakat.html). Damit scheint (mehr nicht!) der Vorwurf, dass die Angeklagten die Plakate selbst verändert hätten, schon mal vom Tisch.
- Die Anträge, weitere Erfindungen von Stadtverordnetenvorsteher Gail zu widerlegen (z.B. die vermeintlich geworfenen Flugblätter), wurden abgelehnt mit dem Hinweis, dass aus Sicht des Gerichtes ausreichend belegt ist, dass die Angeklagten zum Verlassen des Saals aufgefordert wurden und dem nicht nachkamen. Der Rest sei egal (Antrag und Gerichtsbeschluss unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_tag10antrag_gail.html). Damit scheint hier eine Verurteilung wahrscheinlich – allerdings läuft noch der Antrag auf Verfahrenshindernis, d.h. der Anklagepunkt könnte unabhängig vom Ergebnis der Beweisaufnahme fallen, weil die Strafanzeige formal nicht korrekt war (Antrag hierzu unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_tag10antrag_hindernis.html).
- Gleiches gilt für den Antrag auf Vernehmung von Polizeipräsident Meise (siehe oben), wo auch auf die nur wichtige Fragestellung des Hausverbotes verwiesen wird.
- Zwei Anträge zum Anklagepunkt Körperverletzung u.ä. bei Ex-Staatsschutzchef Puff wurden zurückgeweisen (a. dass Puff öfter gewalttätig ist und b. dass er die Verletzung erfunden hat bzw. das Attest etwas ganz anderes bescheinigt als er dargestellt hat) mit der Begründung: „Die beantragte Beweisaufnahme ist entbehrlich (§ 244, Abs. 3, S. 2, 2 Alt. StPO). Es ist nach bisheriger Einschätzung der Sach- und Rechtslage nicht auszuschließen, dass die in Rede stehende Amtshandlung, nämlich die Festnahme der Angeklagten aus der Gallushalle in Grünberg, im Sinne von § 113 Abs. 3 StGB schon wegen Unverhältnismäßigkeit als nicht rechtmäßig zu behandeln sein wird.“ (Anträge und Beschluss unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_tag5antrag_puff.html
- Alle ausstehenden Anträge zum Anklagepunkt Graffities an der Gallushalle (Besuch Roland Koch in Grünberg) wurden als wahr angenommen, d.h. sie gelten damit als in ihren Aussagen als akzeptiert. Damit ist u.a. klar, dass die Schuhe von jedem Menschen im Umfeld der Projektwerkstatt getragen worden sein können (Antrag und Gerichtsbeschluss unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_tag4antrag_grafitti.html). Im Beschluss hat das Gericht aber eingeschränkt, dass die Schlussfolgerungen der Angeklagten bei diesen Anträgen nicht mit als wahr angenommen sind. Das ist also offen.


Wie weiter?

Freitag, 29. April, 8.30 Uhr: Party, Malen und mehr vor dem Landgerichtseingang
9 Uhr: 11. Prozesstag
Ort: Landgericht Gießen, Ostanlage, Raum E 15 (Erdgeschoss)
Plädoyers !!!! Last Chance to ... Gießener Prozessluft schnuppern!

Samstag, 30. April, ab 16 Uhr: Feiern, Bilder und Berichte vom Prozess und mehr in Saasen
Ort: Projektwerkstatt in Saasen (Ludwigstr. 11)
Das soll ein relaxter Tag werden mit Diskussionen über all das Gewesene, Ausblicken, Feiern, Essen kochen - und der nötigen Bewachung des Hauses. Denn erst durch die regelmäßige Anwesenheit vieler Menschen konnte eine dramatische und leider in Medien verschwiegende Tradition in Saasen gebrochen werden, die 2001 mit einem großen, bewaffneten Angriff eines sozialrassistischen Mobs auf die Projektwerkstatt ihren Höhepunkt fand. (Umsonstladen kommt nicht!!!)
Anfahrt per Rad und Zug gut möglich von Gießen und anderen Orten aus. Nähere Beschreibung unter  http://www.projektwerkstatt.de/saasen.

Die Angeklagten sind danach unterwegs ... und machen gerne Trainings zu Gerichtsverfahren, Antirepression und mehr:
- Attac-Aktionsakademie in Minden (4.-8. Mai)
- Culdt-Camp in Leipzig (Anfang Mai)
- Direct-Action-Tage nahe Magdeburg (2. Maiwoche)
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Ergänzungen

Gießener Anzeiger vom 26.4.2005

AbwehrspielerIn der Ordnung 26.04.2005 - 10:50
Plädoyers stehen für Freitag auf dem Programm

Zehnter Verhandlungstag im Prozess gegen Politaktivisten - Beweisantrag mit bemerkenswerter Begründung abgelehnt
GIESSEN (hh). Seit zehn Prozesstagen wird gegen zwei Politaktivisten vor dem Landgericht verhandelt. Dabei muss sich Jörg Bergstedt wegen Hausfriedensbruchs, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, vorsätzlicher und gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung sowie Sachbeschädigung in acht Fällen verantworten. Dafür war er vom Amtsgericht bereits im Dezember 2003 zu einer Haftstrafe von neun Monaten verurteilt worden. Dagegen hatte er ebenso Berufung eingelegt wie sein 23-jähriger Mitangeklagter, gegen den wegen Sachbeschädigung in neun Fällen und Hausfriedensbruchs eine Geldstrafe von 1000 Euro (100 Tagessätze zu 10 Euro) verhängt worden war. Für den elften Verhandlungstag am Freitag stehen nun die Plädoyers auf dem Prozessprogramm.
Gestern standen dabei wiederum weniger die tatsächlichen oder vermeintlichen Straftaten im Mittelpunkt. Vielmehr wurden erneut die Ereignisse vor und nach der Stadtverordnetensitzung am 27. März 2003 behandelt, bei der sich die beiden Angeklagten des Hausfriedensbruchs schuldig gemacht haben sollen. Mitten in der Sitzung war nämlich ein Transparent auf der Empore des Sitzungssaales entrollt worden. Stadtverordnetenvorsteher Dieter Gail hatte Bergstedt, der in unmittelbarer Nähe des Transparents gesessen hatte, aufgefordert dieses einzurollen. Der allerdings versicherte damals, für das Entrollen gar nicht verantwortlich zu sein. Gleichwohl wurde er gemeinsam mit seinem Mitangeklagten des Saales verwiesen und später dann auch von der Polizei entfernt. Gegen die beiden Politaktivisten war dann wenige Tage nach der Sitzung vom Rechtsamt der Stadt Strafanzeige erstattet worden. Dazu wurde Rechtsamtsleiter Dietrich Metz, der damals bei der Sitzung anwesend war, gestern als Zeuge gehört. Das Rechtsamt sei vom Stadtverordnetenvorsteher "schriftlich beauftragt" worden, "Strafantrag zu stellen", sagte der 49-Jährige. Wörtlich heißt es in dem Schreiben: "... bitte ich, Strafanzeige wegen Hausfriedensbruch bei der zuständigen Polizeidienststelle zu stellen." Dieter Gail hatte in der vergangenen Woche als Zeuge gesagt: "Die Entscheidung, ob Strafantrag gestellt wird oder nicht, hat das Rechtsamt." Und das Rechtsamt habe dann entschieden, Strafantrag zu stellen.

Vor der Aussage von Metz hatte Bergstedt gestern die Einstellung dieses Anklagepunktes beantragt. Da die Anzeige nicht von Gail - dem das Hausrecht im Sitzungssaal zusteht - sondern vom Rechtsamt stamme, das dem Oberbürgermeister unterstellt sei. Und die Strafanzeige damit "rechtsunwirksam" sei. Darüber hat die Dritte Kammer gestern aber nicht entschieden. Entschieden hingegen wurden zahlreiche weitere Beweisanträge der Angeklagten. Einer zumindest mit einer bemerkenswerten Begründung: Im Zusammenhang mit Parolen, die - kurz vor dem Besuch von Ministerpräsident Roland Koch in Grünberg - an der Gallushalle angebracht worden waren, hatte die Polizei Bergstedt und seinen Mitangeklagten festgenommen. Dabei soll der 40-Jährige Widerstand geleistet und einen Beamten auch verletzt haben.
Dazu hieß es gestern: Auf die Vernehmung weiterer Zeugen könne verzichtet werden, weil "die in Rede stehende Amtshandlung" - also die Festnahme - "wegen Unverhältnismäßigkeit als nicht rechtmäßig" zu behandeln sein könnte. Und gegen eine unrechtmäßige Festnahme darf man sich wehren. Ob am Freitag auch das Urteil geprochen wird, ist unklar.

Anti-Knast-Ausstellung jetzt in Saasen

AbwehrspielerIn der Ordnung 26.04.2005 - 10:53
Als eine der letzten Veranstaltungen in der Reihe "Gesellschaft ohne Strafe" ist die Anti-Knast-Ausstellung jetzt in der Projektwerkstatt in Saasen zu sehen ... auch am 30.4., wo ohnehin zu Party & Co. dort eingeladen ist.

Pressemitteilung vor den Plädoyers

Die Angenagten 26.04.2005 - 23:55
Politischer Prozess vor dem Abschluss:
Plädoyers in Gießen

2 Versuche der Berufung, 10 volle Prozesstage vor den Plädoyers, 30 Zeugenvernehmungen, ein Video, ein Tonband, etliche Lichtbildermappen, über 50 Anträge zu Beweiserhebungen bis zur Kontrollfreiheit auf der Gerichtstoilette – schon die Statistik des Prozesses gegen zwei politische Aktivisten aus der Projektwerkstatt in Saasen (nahe Gießen) nimmt sich eindrucksvoll aus. Dahinter steht ein komplizierter Hintergrund aus politischen Interessen, Vertuschung und Erfindungen von Straftaten sowie gezielten Beweismittelfälschungen, die seitens der Angeklagten in minutiöser Arbeit Detail für Detail offengelegt wurden und den Prozess damit ins Gegenteil verkehrten. Auf der Anklagebank saßen immer öfter nicht die beiden Angeklagten, sondern Polizeiführung, Gießener Stadtpolitiker oder die Zeugen, die mit Falschaussagen, Verdrehungen und teilweise offensichtlichen Widersprüchen die Anschuldigungen gegen die „gesellschaftlichen Außenseiter“ (Gießener Allgemeine, 23.4.2005) aufrechtzuerhalten versuchten. Bislang gaben die Zeugen aus Polizei und Parteien meist ein schlechtes Bild ab: Der Prozess machte Tag für Tag deutlich, dass Polizei und Staatsanwaltschaft in Gießen mehr politischen als Aufklärungsinteressen folgten, dass politische Funktionsträger und einige nahestehende Journalisten der Stadt als Scharfmacher fungierten und das Ziel hatten, unerwünschte Personen mundtot zu machen.

Angeklagte als Aufklärer
Die beiden Angeklagten aus der Projektwerkstatt begriffen sich nie in einer Verteidigungsposition. „Wir wollten angreifen, wollten aufdecken, welche Skandale und politischen Ziele hinter der grünen Uniform der Polizei und der Rechtsstaatslegende Gießener Staatsanwaltschaft und Amtsrichter stehen“, formuliert einer von ihnen das Ziel. Dafür hatten sie zu Prozessbeginn eine umfangreiche Dokumentation über Polizei und Justiz vorgelegt, in der viele Fälle präzise untersucht und auch vielfach rechtswidriges Handeln der Ordnungsbehörden nachgewiesen wurde. Die Studie wurde Mitte März veröffentlicht und ist im Internet unter  http://www.polizeidoku-giessen.de.vu einzusehen. Im Prozess selbst gelang es durch umfangreiche, teilweise sehr zeitintensive Befragungen von Polizisten, Amtsträgern und Politikern immer mehr Licht in das Dunkel von falschen Beschuldigungen, Polizeigewalt und Aktenmanipulationen zu bringen. Am Ende der Beweisaufnahme war vor allem Staatsanwalt Vaupel, aber zeitweise auch die Richterin bemüht, weiteren Schaden von den Belastungszeugen abzuwenden, in dem sie Befragungen unterbrachen, als Zeugen wieder mit Falschaussagen begannen. Ein Staatsschützer wurde sogar wieder weggeschickt, damit er sich nicht in absehbaren Lügen verfing, obwohl seine Aussage zu einem Anklagepunkt für eine Tatüberführung notwendig gewesen wäre. Die Angeklagten waren darüber wenig glücklich: „Der Staatsanwalt nutzte eine Anzeige von uns wegen Meineid, die er vorher schon vorläufig eingestellt hatte“, schimpften sie über den Ankläger Vaupel, der in den Monaten vor dem Prozess etliche Anzeigen gegen führende Stadtpolitiker und Polizeibeamte ohne jegliche Ermittlungen eingestellt hatte. Auch das hatten die Angeklagten in der Dokumentation präzise aufgeführt und im Prozess immer wieder nachzuweisen versucht. Zu Falschaussagen des CDU-Stadtverordnetenvorstehers Gail ( http://www.luegen-gail.de.vu) über viele Widersprüche vor allem der Beamten des Staatsschutzes bis zu falschen Darstellungen des Polizeipräsidenten von Mittelhessen ( http://www.sumpf-meise.de.vu) stellen sie Anträge zwecks Klärung vor Gericht. Diese wurden zwar immer wieder abgelehnt, zahlreiche Details sickerten in den Verhören aber doch durch und zeigten, dass die Vorwürfe der Angeklagten gegen Polizei, Justiz und Politik gerechtfertigt waren.

Prügel für die Angeklagten
Trauriger Höhepunkt der Serie von Polizeiauftritten war jedoch der sechste Verhandlungstag, als eine Gruppe von Polizisten einen Angeklagten vor dem Landgericht angriff und ohne jeglichen Grund erheblich verletzte. Danach erzählten sie dem Staatsanwalt und der Richterin von angeblichen Tritten des Angeklagten. Der jedoch ließ das Polizeivideo beschlagnahmen. Als es am folgenden Prozesstag vorgeführt wurde, war klar erkennbar, dass nur die Polizei gewalttätig war und die Fusstritte schlicht erfunden hatte. „Weder die Gewalt noch die falsche Verdächtigung hat uns überrascht“, sagen die Angeklagten und weisen auf etliche Fälle von Polizeigewalt z.B. bei einem anderen Verfahren vor dem Landgericht ( http://www.projektwerkstatt.de/2_3_05) und auf erfundene Verdächtigungen hin.

Plädoyers am Freitag
Am kommenden Freitag, den 29.4.2005, geht der Prozess ab 9 Uhr in die letzte Phase. Die Angeklagten werden vor dem Landgericht ihre Plädoyers bringen. Darin werden die be- und entlastenden Aspekte nochmals benannt. „Wir haben sehr viele Aussagen mitgeschrieben, auch einige Zuschauer haben uns dabei geholfen. So können wir viele Widersprüche und Falschaussagen belegen“, kündigten die Angeklagten ein umfangreiches Plädoyer an. Das Gericht hat am vergangenen Prozesstag bereits in einem Anklagepunkt zu den Auseinandersetzung zwischen Polizei und Projektwerkstättlern angedeutet, dass es die Massnahmen der Polizei für unverhältnismäßig hält. Das Urteil zu diese und allen weiteren Anklagepunkten kann Freitag oder in einem darauffolgenden Prozesstermin gefällt werden.

Alle Informationen zum Prozess:  http://www.projektwerkstatt.de/prozess. Dort sind alle Termine des Prozesszeitraumes aufgeführt. Unter jedem Prozesstag ist ein Link zur Übersicht über Anträge und Berichte zum Prozesstag, zu einem umfangreichen Bericht zum Tag sowie zu Texten in der Tagespresse zu finden.
Kontakt mit den Angeklagten über die Projektwerkstatt, Tel. 06401/903283. Am Prozesstag jeweils in den Pausen über 0171/8348430.