Viel Wirbel vor politischem Prozess in GI

frau kurz vor zwölf 08.03.2005 16:37 Themen: Repression
Ab Donnerstag, dem 10. März 2005, startet der zweite Versuch in der Berufungsverhandlung gegen zwei Aktive aus dem Umfeld der Projektwerkstatt. In erster Instanz wurde eine Person dabei zu neun Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Nach einem gescheiterten Berufungsauftakt im Juni 2004 folgt nun ein Versuch, der sich über mindestens zwei Monate erstrecken wird – mindestens acht Verhandlungstage wird es wieder um Sachbeschädigung (veränderte Wahlplakate, farbveränderte Halle vor Koch-Besuch), Hausfriedensbruch (Transparent in Stadtverordnetensitzung) und weitere Anklagepunkte gehen. Während von Seiten der Repressionsorgane mit umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen zu rechnen ist, werden justizkritische Kreise die Prozessmonate mit einer großen Veranstaltungsreihe gegen Justiz und Strafe begleiten.
An dem Verfahren, das am 10.3. beginnt, hängt viel. Polizei, Justiz, Politik und Teilen der örtlichen Presse, die bereits mehrfach für eine Bestrafung warb, versuchen kritische Menschen mundtot zu machen und dabei vor allem Widersprüche zur in Gießen und Hessen aktuell verwirklichten Sicherheitspolitik zu stoppen. Den Angeklagten geht es dagegen um die Demaskierung einer Kriminalisierung, die mit Erfindungen, Fälschungen und Hetze arbeitet. Dazu wollen sie zusammen mit politischen Gruppen in Gießen am 14 und 16.3. eine umfangreiche Dokumentation zu Polizei- und Justizstrategien in Gießen vorlegen. Ein Kapitel daraus verursachte schon vorweg Wirbel, weil der dort der Lügen überführte CDU-Stadtverordnetenvorsteher Gail am 26.2. in die Offensive ging und der Veröffentlichung mit einem diffamierenden Angriff u.a. auf die Angeklagten zuvorkommen wollte. Insofern bietet der Prozess auch eine Plattform für die Auseinandersetzung zwischen obrigkeitsorientierter Politik und Justiz sowie dem Protest gegen Macht und Repression.

Die folgenden Absätze beleuchten einige der mit dem Verfahren verbundenen Aspekte.

Politischer Hintergrund des Verfahrens: Kreativer Widerstand gegen die autoritären Verhältnisse

In den letzten zweieinhalb Jahren wurde Giessen zeitweise von einer bunten Mischung direkter Aktionen „überrollt“ - im Mittelpunkt stand der Widerstand gegen die autoritäre Zuspitzung von Politik. Ein wichtiger Aufhänger war die Ende 2002 verabschiedete „Gefahrenabwehrverordnung“ der Stadt Gießen ( http://www.abwehr-der-ordnung.de.vu), aber auch verschiedene Wahlen wie die Bundestagswahl 2002 ( http://www.projektwerkstatt.de/hoppetosse/antiwahl/wahl2002.html), die Landtagswahl Hessen und die Oberbürgermeisterwahl in Gießen (beide 2003). Weitere Themenfelder bildeten Rassismus (u.a. Tag des Flüchtlings 2003:  http://de.indymedia.org/2003/06/55544.shtml), Reichtumsverteilung und Schulkritik (z.B.  http://de.indymedia.org//2004/03/76362.shtml oder  http://de.indymedia.org//2003/09/62565.shtml). Die Ideen kreativen Widerstands waren dabei häufig mit einer grundsätzlichen Herrschaftskritik verknüpft, bei der auch die Repressionsorgane nicht ausgenommen waren (siehe u.a. die grundsätzliche Kritik an Gefängnissen: http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/knast.html).

Besonders genervt waren Obrigkeit und Polizei durch das Konzept der Subversion, d.h. die geschickte Verdrehung von Machtmitteln gegen die Mächtigen selbst: Immer wieder gab es gefälschte Behördenschreiben, veränderte Wahlplakate oder verstecktes Theater in der Innenstadt (z.B. Kamera-Gottesdienst:  http://www.de.indymedia.org/2002/12/37826.shtml, Fake zum freiwilligem Polizeidienst:  http://www.de.indymedia.org/2003/02/42971.shtml). Ein Ableger dieser Idee war „kreative Antirepression“. Begegnungen mit OrdnungshüterInnen wurden in Theaterszenen eingebaut und mitunter selbst Festnahmen in Aktionen verwandelt ( http://www.projektwerkstatt.de/antirepression). Polizei und Politik standen dem überraschend hilflos gegenüber und konnten die subversiven Akte nicht stoppen - wild um sich schlagende Repression und erfundene Tatvorwürfe zwecks Kriminalisierung der Handelnden waren später ihre Antworten. Insbesondere der hessische Innenminister und damalige CDU-Kreisvorsitzender Volker Bouffier ( http://www.volker-boffier.de.vu) ist dabei als Scharfmacher aufgetreten. Mit dem umfangreichen Verfahren gegen zwei Aktive aus dem Umfeld der Projektwerkstatt sollten dann alle eingeschüchtert werden, die sich den sich ausbreitenden „law and order“-Konzepten widersetzten.

Repression als Antwort: Hetze, Erfindungen, Fälschungen

Überstunden bei der Polizei durch ständige politische Aktionen waren die eine Folge des vielfältigen Protestes, eine entschlossene repressive Abwehrreaktion seitens Politik, Presse, Polizei und Justiz die andere. Da die realen Aktionen nicht kriminalisierbar oder keine Tatverdächtigen zu ermitteln waren, wurde schlicht ausgedacht. So entstand in der repressiven Phantasie des Gießener Polizeipräsidiums aus einer öffentlich angekündigten Gedichtelesung am 9.12.2003 (vor der ersten Instanz des Prozesses gegen Projektwerkstättler) zunächst ein Farbanschlag versuchter Brandanschlag gewesen sein (Infos zur mutierten Lesung:  http://www.projektwerkstatt.de/gav/texte/pm091203.html). Die Presse druckte die Polizeilügen brav ab, die Gegendarstellungen wurden verschwiegen.
Doch der Fall ist keine Seltenheit: Bürgermeister Haumann erfand im Dezember 2002 öffentlich eine Bombendrohung, um seine GegnerInnen zu diffamieren und Polizeieinsätze zu rechtfertigen. Die Lüge gestand er erst Monate später ein, als ein PDS-Abgeordneter so intensiv nachrecherchierte, dass sie nicht mehr zu halten war ( http://www.bomben-haumann.de.vu).


Zum bisherigen Verlauf des Verfahrens

Die erste Instanz des „Mega“-Verfahrens vor dem Amtsgericht Giessen liegt weit über ein Jahr zurück: Im Dezember 2003 wurden die beiden Aktivisten nach einer elfstündigen Verhandlung zu neun Monaten ohne Bewährung bzw. zu Tagessätzen (100 Tagessätze a 20 Euro) verurteilt ( http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/haupt_1instanz.html). Gegen das skandalöse, platt begründete Urteil (Textfassung mit Kommentaren:  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/urteil_kommentiert.pdf) hatten die Betroffenen Berufung eingelegt.
Der erste Versuch der Berufungsverhandlung vor dem Giessener Landgericht im Juni 2004 endete unerwartet (Übersichtsseite zur Berufung, erster Versuch:  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/haupt_2instanz1.html): Aufgrund zahlreicher juristischer Fehler rund um eine peinliche Gerichtsbesetzung – zwei befangene CDU-Schöffen waren ausgelost worden, eine wollte unbedingt mitrichten – wurde das Verfahren nach zwei Tagen ausgesetzt, da eine „umfangreiche Neuplanung“ notwendig geworden sei.


Nun der nächste Versuch: Berufungsverhandlung und Begleitprogramm gegen Repression

Für den 10. März 2005 ist nun der Auftakt des „zweiten Versuchs“ der Berufung angesetzt – mindestens 8 Verhandlungstage, die März und April füllen, hat das Gericht eingeplant ( http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/haupt_2instanz2.html). Massive Sicherheitsvorkehrungen (Objektschutz, hohe Polizeipräsenz) sind schon seit Wochen in Gießen sichtbar und werden wie in den vorangegangenen Prozessen sowohl das Verfahren als auch die gesamte Prozessphase „begleiten“. Außerhalb des Gerichtssaals ist ebenso für Spannung gesorgt: Während der Verhandlungsmonate läuft in und um Giessen eine umfangreiche Veranstaltungsreihe gegen Strafe, Justiz und Knast – dazu zählen Diskussionsabende, Vorträge, Konzerte und mehr (Termine und Download des Programmheftes:  http://www.projektwerkstatt.de/prozess).


2. Ausgabe der Dokumentation zu Polizei, Justiz, Presse und Politik in Gießen

Am 14. März 2005 werden Gießener Gruppen die zweite Dokumentation zu Polizei, Justiz, Politik und Presse in und um Gießen vorlegen. Auf 60 Seiten werden Fälschungen, Erfindungen und Kriminalisierung der vergangenen 12 Monate vorgestellt. Erneut haben Polizei, Justiz, Politik und Presse unerwünschte Personen mit falschen Beschuldigungen überzogen. Gleichzeitig hat sowohl die Giessener Staatsanwalt wie auch der hessische Generalstaatsanwalt und das Oberlandesgericht jeden Versuch zunichte gemacht, die Verantwortlichen der Fälschungen und Repressionen zur Verantwortung zu ziehen. Die diesjährige Dokumentation wird in ihrer Gegenüberstellung der neuen Kriminalisierungen kritischer Menschen mit den aufwändigen Bemühungen der Justiz, sich selbst und andere Teile politischer Eliten zu schützen, sehr deutlich machen, dass Rechtssprechung nicht den Menschen, sondern den Herrschenden dient (Infos, Download der Doku:  http://www.polizeidoku-giessen.de.vu).
Eine öffentliche Veranstaltung mit der Vorstellung der Doku 2005 folgt am 16. März.

Kurz vor dem Prozess: Stadtverordnetenvorsteher Gail als Lügner

Dieter Gail (Stadtverordnetenvorsteher, CDU) ist der Hauptbelastungszeuge für den Vorwurf des Hausfriedensbruchs, also des 9. Anklagepunktes. Während einer Sitzung des Stadtparlaments am 27.3.2003 wurde ein Transparent mit Kritik an dem Bombendrohung erfindenden Haumann entrollt ( http://www.projektwerkstatt.de/27_3_03). Beamte von Staatsschutz und der OPE (Operative Einheit, d.h. ZivilpolizistInnen der Polizei Gießen) saßen während der Sitzung auf den ZuschauerInnenrängen. Auf kritische Nachfrage hatte Gail damals behauptet, von der Polizeipräsenz in Zivil nichts gewusst zu haben. Auch in der ersten Instanz hatte er dies als Zeuge vor Gericht wiederholt. Damals hatte die Polizei die Version aus der Politik gestützt. Inzwischen revidierte sie ihre eigenen Lügen. Zuerst wurde die Aussage eines der anwesenden Zivilpolizisten bekannt, der angab, dass sich die Einheiten vor der Sitzung Gail persönlich vorgestellt hätten. Polizeipräsident Meise bestätigte diese Aussage nach Bekanntwerden und einigem öffentlichen Druck dann in der Lokalpresse. Trotz fraktionsübergreifender Rückendeckung ist Gail damit mehr als unglaubwürdig (Sonderseite zu Gail:  http://www.luegen-gail.de.vu). Die Grundaussage der 2. Polizeidokumentation, dass Politik und Polizei gezielt lügen, um Obrigkeit zu schützen und unerwünschte Menschen zu kriminalisieren, wird damit eindrucksvoll untermauert.

Kurz vor dem Prozess: Weitere Prozesse und viele Aktionen

Im Vorfeld des umfangreichen Verfahrens gab es bereits zwei andere, kleinere Verfahren gegen Personen, die ebenfalls dem “Umfeld der Projektwerkstatt” zugerechnet werden. In beiden deuteten bereits die niedrig schwelligen Tatvorwürfe an, dass die Einschüchterung politisch unliebsamer AktivistInnen im Vordergrund steht. Ein Prozess wegen angeblicher Verstöße gegen das Demonstrationsrecht endete mit einer Einstellung ohne Auflagen auf Staatskosten ( http://de.indymedia.org//2005/02/107231.shtml). Das Berufungsverfahren wegen Kreidesprüchen vor der Licher Bereitschaftspolizei verlief turbulenter – das Gericht verurteilte und bei er Räumung des Saales drehten Zivilpolizisten und Justizangestellte durch. Mit Schlägen und Tritten zeigten sie eine erhebliche Gewaltbereitschaft (Berichte:  http://www.de.indymedia.org/2005/03/108275.shtml und  http://www.de.indymedia.org/2005/03/108413.shtml). Am 4. März fand vor der Staatsanwaltschaft in Giessen wieder eine Lesung statt, die an die Tradition des ersten Prozesses anschloss. Im Gegensatz zur 2003er Lesung ( http://www.projektwerkstatt.de/gav/texte/pm091203.html) verlief diese recht unspektakulär ... ohne Personenkontrolle oder gar Verhaftungen. Etwa 12 Leute nahmen unter ständiger Beobachtung durch die OPE-Zivis aus Giessen teil ... am Anfang von mehreren Streifenwagen und zwei Wannen unterstützt. Die Polizei zog aber ab, nachdem ihnen aus dem Programmheft vorgelesen wurde, was gerade statt fand. So wurden ohne großes Rahmenprogramm einige Gedichte, Kurzgeschichten und Lieder vorgetragen und gesungen. Nachdem zwei Kreisesprüche auf dem Boden auftauchten, fuhr ein Zivi-Wagen mit „Boxer-Manni“ (der Zivilolizist, der beim Prozess am 2.3.2005 zweimal zuschlug) und Kollege nochmals auf das Gelände. Recht wortkarg zogen beide wieder davon.

Termine der nächsten Tage

- Prozessauftakt: Donnerstag, 10.3.2005, 9 Uhr, Landgericht Gießen (Ostanlage), Saal 15 (Erdgeschoss)
- Anschließend im Cafe Ö: Kochen, Klönen, Essen, Berichte vom Prozess für alle, die nicht da waren, und Planen für weitere Tage.
- Donnerstag, 10. März, 20 Uhr: Fish Bowl "Schule als Knast?". Ort: Alte UB, Raum 3
- Montag, 14. März, 12 Uhr: Öffentliches Pressegespräch zur Dokumentation 2005 über Fälschungen, Erfindungen und Hetze durch Polizei, Justiz, Politik und Presse. Ort: Gießen, Kongresshalle, Vinothek (Eingang Berliner Platz). Anwesend sind die AutorInnen der Doku sowie Betroffene ausgewählter Fälle, die vorgestellt werden.
- Mittwoch, 16. März, 19 Uhr: Öffentliche Präsentation der Dokumentation 2005, Ort: Alte UB, Raum 3
AutorInnen der Dokumentation stellen ausgewählte Themen der am am 14.3. vorgelegten Studie vor (siehe unter 14.3. und im Kasten rechts). Zudem ist Zeit für Nachfragen, weitere Fälle und Diskussion. Wer Einblicke in die Strategien und Machenschaften Gießener Politik, Polizei, Presse und Justiz erhalten will, sollte diesen Termin nicht verpassen.  http://www.polizeidoku-giessen.de.vu.
- Gesamter Terminüberblick und alle wichtigen Infos auf  http://www.projektwerkstatt.de/prozess.

Kontaktadresse zu den Angeklagten, für weitere Infos, auch für MedienvertreterInnen:
Projektwerkstatt, Ludwigstr. 11, 35447 Reiskirchen-Saasen
Tel. 06401/90328-3, Fax –5,  saasen@projektwerkstatt.de
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Ergänzungen

feature

mein name 10.03.2005 - 22:25
warum kommt das nicht als feature. es kommen nun ein bis zwei berichte pro woche hinzu und das über mindestens 6 wochen. wäre also gut, das als feature zu nehmen, damit man das alles verlinken kann.